Soghomon Soghomonian, genannt Komitas Vardapet. Ein Kind des Osmanischen Reichs, geboren in Kütahya, einer Stadt die 350 km südlich von Istanbul liegt. Weit jenseits der Region, die historisch Westarmenien hieß. Geboren 1869 in eine Zeit, in der das Reich seinen Zenith bereits lang überschritten hatte und es den Armeniern bei Strafe verboten war, ihre eigene Sprache zu sprechen. Geboren in eine musikalische Familie – der Vater war Schumacher und ein begabter Sänger. Wer aber hätte gedacht, das Komitas zur wichtigsten Persönlichkeit der armenischen Musikgeschichte werden würde, der alle, die zuvor da waren, alle die danach kamen und kommen werden, überstrahlt? Vor allem für die Armenier selbst steht das außer Frage. Diese Tatsache ist eng verknüpft mit dem gewaltigen Leid, das dem armenischen Volk im späten Osmanischen Reich widerfahren ist: Komitas ist zum Symbol für den Genozid geworden, sein Leben nahm nach dem 24. April 1915 eine jähe Wendung. Schwer traumatisiert überlebte er die Deportation durch die Türken und starb 1935 in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung in Frankreich.
Exkurs: Komitas Vardapet – ein Kronzeuge des Völkermords "Ich spüre, dass mein Tod ein glücklicher Tod sein wird" - Betrachtungen zu Komitas
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1869 wurde Komitas Vardapet im Osmanischen Reich geboren. In einer Zeit, in denen es den Armeniern bei Strafe verboten war, ihre eigene Sprache zu sprechen. Mit seinem Schaffen wurde er zur wichtigsten Persönlichkeit der armenischen Musikgeschichte. Der Komponist Marc Sinan mit einem persönlichen Text über Komitas Vardapet.
Mönch Joken bei einem Spaziergang auf dem Gelände des syrisch-orthodoxen Klosters Mor Augin im Südosten der Türkei. (© Andy Spyra/laif )
Mit elf Jahren war Komitas eine Waise. Beide Eltern waren verstorben und er hatte einige Zeit bei der Großmutter gelebt. Der Katholikos, das Oberhaupt der armenisch-orthodoxen Kirche, berief einen Geistlichen aus Kütahya als Bischof nach Etschmiadzin und der durfte den jungen Soghomon mitbringen, als Schüler des wichtigsten Klosters der armenischen Kirche. Viele Tage lang muss die beschwerliche Fahrt über Land gedauert haben. Fast zweitausend Kilometer gen Osten, in die neue Heimat. Soghomon sprach kein Armenisch, sang aber stattdessen dem Katholikos vor: "Luys Swart" ("Heiteres Licht"), das melodisch sehr anspruchsvolle Lied, das man traditionell samstagabends in der armenischen Kirche singt. Es soll den Katholikos zu Tränen gerührt haben und trotz der Regeln des Klosters, nur armenisch sprechende Kinder aufzunehmen, durfte Soghomon bleiben, um zur Schule zu gehen und Mönch zu werden. Ich selbst habe mich in den letzten Jahren Komitas nicht aus der Perspektive eines Wissenschaftlers genähert, sondern aus der des Musikers, der ich selbst bin, sowie als Enkel einer Überlebenden des Genozids – ein Familienschicksal, das mich mit Komitas quasi über die Musik hinaus verbindet. In seinen Worten bin ich ein "Salamander", denn so hat er seine Studenten genannt. Das Moment der bestandenen Aufnahmeprüfung hat sich mir eingebrannt. Es muss für den Elfjährigen prägend gewesen sein. Könnte es den Verlauf seines späteren Lebens entscheidend beeinflusst haben? Hat es den Grundstein gelegt für seine Obsession, armenische Lieder zu sammeln und zu notieren?
Am 3. November 1913 gibt sich der große Armenak Shahmuradyan die Ehre eines Konzerts im edlen Stadtteil Pera im Theater Petit Champs. Der Sänger Shahmuradyan, Sohn eines Schmieds aus Mus, war bereits als Kind wegen seiner Stimme eine Berühmtheit gewesen, später Chorsänger und als angeblicher Revolutionär im Russischen Gefängnis, 1904 mit nichts als seiner außergewöhnlichen Stimme an Bord eines Schiffes in Trabzon gestiegen und hatte sich auf den Weg nach Frankreich gemacht. Dort brachte er es nach weiterer Ausbildung zu einigem Ruhm, 1910 sogar in der Rolle des Faust in Gounods gleichnamiger Oper am selben Haus, wo zur gleichen Zeit Stravinsky mit dem "Feuervogel" seine ersten skandalumwitterten Triumphe feierte.
Komitas in armenischer Mönchskutte (© Public Domain)
Komitas in armenischer Mönchskutte (© Public Domain)
Shahmuradyan, zunächst Schüler von Komitas, war einer seiner engsten musikalischen Vertrauten. Gemeinsam sind sie zu hören auf wenigen erhaltenen Wachswalzenaufnahmen, Komitas meist als Begleiter am Klavier. Seine Lied "Antuni" hört man dort in einer unglaublich freien Version augmentiert bis zum Zerreißen, in einer Dynamik, die vom leisesten pianissimo zu gewaltigen Eruptionen anschwillt, dabei aber stets die Leichtigkeit und Klarheit barocker Tongebung hält – völlig anders als der postsowjetisch-operatische Gestus nahezu sämtlicher armenischer Sänger der Gegenwart. Ihre freie Spielweise klingt wie das Resultat großer Vertrautheit, unmöglich sonst das Zusammenspiel zweier Musiker so weit jenseits eines strikten Metrums.
Die Nähe zur "Avantgarde" ihrer Zeit haben Komitas und Shahmuradyan nicht gesucht. Sie waren Kreuzritter einer anderen Form von "Hippness", sie waren musikalische Außenseiter. Komitas trug die Kleidung des armenischen Mönchs im Bewusstsein seiner Wirkung, erscheint auf Fotos geheimnisvoll, theatralisch, mystisch.
Der Mönch tritt zeitweilig auch in ziviler Kleidung auf. (© Public Domain)
Der Mönch tritt zeitweilig auch in ziviler Kleidung auf. (© Public Domain)
Das zeigt sich vor allem im Gegensatz zu Bildern in ziviler Kleidung, die er beispielsweise 1896 mehrfach in Berlin hat anfertigen lassen, unter anderem ein Portrait im Atelier Victoria in der Leipziger Straße 47, unweit des Konzerthauses. Hier wirkt sein Blick stolz, aber etwas müde, sein Anzug extravagant, aber nicht frei von Falten. Ein junger Mann, der mit Sensibilität und Verfeinerung seine Fremdheit, sein Anderssein in der deutschen Hauptstadt hinter der Fassade der Anpassung an ein intellektuelles Bürgertum zu verbergen weiß.
1906 in Paris hingegen, am Klavier sitzend, wirkt er in seiner Mönchstracht wie eine Kunstfigur. Starke Kontraste, viel Schwarz, verschmilzt die Kutte mit dem edlen Flügel. Wie eine schwarzer Engel, den Blick in die Ferne gerichtet, scheint Komitas einem Akkord nachzuhören. Hatte er begonnen sich zu inszenieren, sich künstlerisch zu befreien, zu verabschieden von den übergestülpten, westeuropäischen Vorstellungen von Ästhetik? Im gleichen Jahr, so schreibt Hrachia Adjarjan in den "Memoirs about Komitas", habe Claude Debussy vor ihm niedergekniet, seine Hände geküsst und gesagt: "Vater Komitas, ich verneige mich vor Ihrem musikalischen Genie!" und: "Wenn Komitas lediglich das Lied "Antuni" geschrieben hätte, würde es ausreichen, ihn als einen großen Musiker zu begreifen." Die orientalisch gefärbte Melodik Komitas dürfte Debussy imponiert und inspiriert haben. Tatsächlich kann man in der extremen Reduktion und Klarheit der Stimmführung Ansätze einer eigenen Art der Radikalität erkennen, die Komitas in den Jahrzehnten nach 1915 wohl fortgesetzt hätte. Eine Abwendung vom Virtuosen, eine Musik frei vom Ballast des Ornaments und der Geschwätzigkeit.
Shahmuradyan, mit dem er 1906 in Paris gespielt hatte, gab also an jenem ungewöhnlich warmen Novemberabend 1913 ein Liederabend mit Arien von Gluck und Bizet. Der Höhepunkt des Abends jedoch folgte erst nach Ende des eigentlichen Programms, als Komitas unter dem Jubel des Publikums die Bühne betrat, um dem berühmten Sohn der armenischen Gemeinde eine Medaille als Auszeichnung für dessen Errungenschaften zu überreichen. Gemeinsam spielen sie als Zugabe einige armenische Volkslieder. Komitas war zu dieser Zeit auf dem absoluten Höhepunkt seiner Berühmtheit, leitete einen 300-köpfigen Chor, reiste um die Welt, gab Konzerte und hielt Vorträge. Immer wieder stand er im Konflikt mit der Kirche, in der es Stimmen gab, die ihn etwa scharf dafür kritisierten, dass er Kirchenmusik in weltlichen Konzerten zur Aufführung brachte oder Gerüchte über seine angebliche Homosexualität streuten. Seine inneren Spannungen zu dieser Zeit müssen gewaltig gewesen sein, denn seine Ambitionen, ein armenisches Konservatorium zu gründen, wurden unter dem zunehmenden politischen Druck auf die Minderheiten immer unwahrscheinlicher, wie er selbst in zahlreichen Briefen beklagte. Sein unbedingter Wille, der armenischen Kultur, der armenischen Sache, dem armenischen Volk zu dienen, war ungebrochen – dennoch spielte er mit dem Gedanken, seine kirchliche Stellung zu verlassen.
Abgekoppelt vom Mainstream der Avantgarde, die sich zur gleichen Zeit mit Zwölftonmusik und freier Atonalität widmete, wendete sich der unbestrittene Protagonist der armenischen Gegenwartsmusik der Erforschung der Vergangenheit zu. Wie besessen fokussierte sich Komitas auf das Sammeln vor allem armenischer Volkslieder und der Entzifferung der Notation Jahrhunderte alter Kirchenmusik und stellte das eigene Komponieren in den Hintergrund. Doch kann man sein künstlerisches Handeln auch anders betrachten, denn keiner neben ihm widmete sich derart akribisch dem Sammeln und Forschen. Er notierte auf ausgedehnten Reisen, wesentlich aber auch im Kloster Etschmiadzin, manchmal bis zu dreißig Volkslieder am Tag, ordnete und kategorisierte seine Fundstücke und "klärte" sie regelrecht von Einflüssen, die er für nicht-armenisch hielt. Viele Melodien versah er mit reduzierten Begleitungen, die nie mehr Tonmaterial als unbedingt nötig enthielten. Er wurde zur Personifikation armenischer Musik, sie durchfloss ihn sozusagen. Die traditionellen Lieder wurden zu Komitas Liedern. Das Gesamtkunstwerk Komitas, der Vorgang des Einswerdens mit der Musik war der eigentlich spektakuläre, hochmoderne künstlerische Akt und ordnet je nach Betrachtungsweise das Selbst der Gemeinschaft unter oder verwandelt die kollektive Errungenschaft – im höchsten Grade narzisstisch – zum eigenen Werk.
Der Mönch Joken hält eine syrisch-orthodoxe Messe im Kloster Mor Augin. (© Andy Spyra/laif)
Das scheinbar rückwärtsgewandte an seiner Arbeitsweise sicherte ihm im Nachhinein die unermessliche Bedeutung für die armenische Musikgeschichte, denn wäre nicht zumindest ein Teil seiner Sammlung erhalten geblieben, hätten die Türken nicht nur die Armenier Anatoliens, sondern auch ihre Jahrhunderte alte Musikkultur nahezu vollständig ausgelöscht.
Der Berlinaufenthalt Komitas zwischen 1896 und 1899 war überschattet von erschütternden Nachrichten aus der Heimat. Pogrome an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs forderten viele tausend Todesopfer. Komitas hatte die Jahre in Etschmiadzin vor allem mit dem Studium der Musik verbracht, war mittlerweile zum Vardapet (Priester-Gelehrten) geweiht worden und auch als Komponist ein angesehenes Mitglied der klösterlichen Gemeinschaft in Etschmiadzin. In Berlin studierte er westeuropäische Kompositionen und setzte zahlreiche Lieder im spätromantischen Stil. Das Chorstück "An den Wassern zu Babel saßen wir und weineten" nach dem Bibelpsalm 137 spiegelt die Gefühlslage Komitas gegenüber den Nachrichten aus der Heimat: der Psalm thematisiert die Vertreibung der Juden nach Babel, die ihr Leid am Ufer des Euphrats beweinen. Sie schwören Rache: "Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und zerschmettert sie an dem Stein!" Diese Gefühle von Verzweiflung und Rache verband Komitas offenbar mit dem Schicksal seines eigenen Volkes.
Auf Empfehlung des Geigers Joseph Joachim, dem sich Komitas vorgestellt hatte, war er im privaten Konservatorium Richard Schmidts aufgenommen worden. Unweit der Singakademie, die heute Maxim Gorki Theater heißt, in einem Gebäude der Humboldt Universität, "Am Kupfergraben 5", direkt an der Spree gelegen, erhielt Komitas seine Unterweisungen. Heute erinnert dort eine Gedenktafel an ihn. Äußerst zurückgezogen widmete er sich in diesen drei Jahren fast ausschließlich dem Musikstudium. Seine "Deutschen Lieder" und oben genannter Chorsatz zeigen den Einfluss deutscher Kompositionsschule auf seinen persönlichen Stil, der zu dieser Zeit noch nicht stark ausgeprägt war und erst nach seiner Rückkehr in die Heimat eine deutliche Gestalt annahm. Doch seine Kenntnisse armenischer Musik sicherten ihm bereits während seines Aufenthaltes in Berlin die Anerkennung von Kollegen und so wurde er eines der Gründungsmitglieder der "Internationalen Musikgesellschaft", für die er musikhistorische Vorträge zu verschiedenen Ausdrucksformen armenischer Musik bis zurück zu ihren vorchristlichen Wurzeln hielt.
Ab 1910 bewohnte Komitas ein Haus im Istanbuler Stadtteil Pangalti, das letzte Haus in der Reihe der "Surp Hagop akaretler", gemeinsam mit seinem Freund Panos Terlemezyan. Es galt unter den Armeniern als ein Haus der "offenen Tür", in dem ein reges kulturelles Leben herrschte und sich Intellektuelle, Künstler, Diplomaten und Schüler Komitas und Terlemezyans die Klinke in die Hand gaben. Die beiden teilten sich die Kosten für das Haus und einen Koch. Panos war ein geschätzter Maler, eines seiner bekanntesten Bilder zeigt Komitas in entspannter Haltung in seiner Mönchskutte unter einem Baum sitzend, den Blick konzentriert in Lektüre vertieft. Die Atmosphäre auf dem Bild könnte idyllischer nicht sein. Womöglich ist es auf einer ausgedehnten Reise entstanden, die die beiden gemeinsam in die Region um Kütahya unternahmen, um Lieder zu sammeln und zu entspannen. Terlemezyan war ein sehr enger Gefährte in dieser Lebensphase Komitas, der auch später nach Frankreich reiste, um den schwer gezeichneten Freund in der Psychatrie zu besuchen. Zuvor war er nach Van gegangen, um 1915 einer der Anführer des Aufstands von Van zu werden – einer der wenigen Orte, an denen Armenier den mordenden Truppen der Jungtürken erfolgreich Widerstand leisteten. Er war ein überzeugter Nationalist und hatte den Pinsel mit der Waffe getauscht. Schwer vorzustellen, dass die Verbindung zu Panos nicht auf ähnlichen weltanschaulichen Vorstellungen fußte.
Komitas-Gedenktafel "Am Kupfergraben 5"
Komitas-Gedenktafel "Am Kupfergraben 5"
In der Ecke seines hellen Zimmers, das im ersten Stock zur Straße hin gelegen war und Komitas als Empfangs- und Arbeitszimmer diente, stand eine Vitrine. Der Genozidforscher Ischchan Tschiftschjan beschreibt sie in einem Artikel. Sie war gefüllt mit Geschenken und Souvenirs "[...] von seinen Konzerten, Begegnungen und Freundschaften. Laut Aghavni waren sie sichtbare Zeichen seines Erfolgs und seiner Leistungen. Sie sind Zeugnisse der Liebe und Anerkennung in vielen Städten und der Kreise, die seine Arbeit schätzten.
Nach jedem Konzert hatten seine Bekannten und Schüler die Angewohnheit, diese "sakrale Ecke" mit seinen Lieblingsblumen (Rosen, Nelken, Veilchen) zu schmücken. [Komitas] hatte die Angewohnheit, mit seinen Händen einige Blumen – nämlich die besten – auszusuchen und vor die Mona Lisa zu legen. Er war glückselig, als er seine Liebligsblumen und die fürsorglichen Hände um sich herum erlebte. Eines Tages sagte er seinen Schülern: "Ich spüre, dass mein Tod ein glücklicher Tod sein wird ... meine Liebligsblumen werden auf meinem Grab nicht fehlen!". Wir wissen, dass Blumen öfters auf sein Grab im "Jerewner Pantheon der Kulturmenschen" gelegt werden, nach seinem Namen "Pantheon Komitas" genannt. Aber ob sein Tod "glücklich" war ... kann man (in Unruhe) bestreiten!"
Diese detaillierte Beschreibung von Komitas gläsernem Schrank hatte mich in meiner künstlerischen Auseinandersetzung mit ihm ganz besonders inspiriert. Er erschien mir wie ein Spiegel seiner Seele, seines Geistes. Ein Schrank voller kultureller Devotionalien, Andenken und kleiner Schätze, den er mit fast religiöser Sorgfalt pflegte und den er mit Blumen schmückte. Das Bild vermittelt Einblick in eine verletzliche Künstlerseele, erfrischend profaner, als man von einem Mann der Kirche erwarten würde.
Als Komitas am 24. April 1915 zu den ersten mehreren Hundert Deportierten gehörte, die in Istanbul hektisch zusammengepfercht und dann mit dem Zug in Richtung Cankiri und nach Ayyas transportiert wurden, wo auf sie der Tod oder die Gefangenschaft warteten, nahmen ihn seine Mitgefangenen zunächst als besonders gefasst und besonnen wahr. Er war es, der anderen Trost spendete. Es ist überliefert, dass er in Cankiri eine christliche Messe feierte und das berühmte "Ter Voghormea" – (Herr, erbarme Dich) bewegender als je zuvor gesungen haben soll. Etwas muss in ihm zerbrochen sein. Welche Ereignisse genau das schwere psychische Trauma verursacht haben mögen, das Komitas nie mehr überwand, wird für immer Spekulation bleiben.
In gewisser Weise hat Komitas an jenem ersten Tag in Etschmiadzin um sein Leben gesungen. Er hat es im gesungenen Wort gewonnen, hat in ihm seine Heimat gefunden, seine Familie, seine Kultur, seine Existenz, seine Zukunft und seine Verwurzelung. Das alles ist ihm 1915 unwiederbringlich entrissen worden. Der heftige Stich, den uns die Sprengung der Wüstenstadt Palmyra heute versetzt, kann uns das Ausmaß, die monumentale Gewalt des Schlages erahnen lassen, die Komitas durch den Genozid und die Vernichtung des kulturellen Lebens der anatolischen Armenier empfunden haben muss. Das war sein eigentlicher, sein seelischer Tod. Er starb erst 20 lange Jahre später. Sein physischer Tod beendete ein Leben, das sich im Rückblick wie eine mythische Geschichte früher Heiliger der armenischen Kirche erzählt. Oder ist sein langes Sterben, der Weg in die innere Emigration, das Verstummen nicht etwa eine Narration wie die vom heiligen Gregor, der 13 Jahre in einer tiefen Grube mit Schlangen und Skorpionen überlebt haben soll? 2016 entscheidet die armenische Kirche über die Heiligsprechung Komitas. Er wäre die erste einzelne Persönlichkeit seit über 400 Jahren, die heilig gesprochen würde.
Mein besonderer Dank gilt Ischchan Tschiftdschjan und Melissa Bilal für ihre ausführliche Recherche und ihr umfassendes Wissen über Komitas.
Weitere Inhalte
Marc Sinan ist deutsch-türkisch-armenischer Musiker und ehemaliger Stipendiat des Auswärtigen Amts in der neueröffneten Kuturakademie Tarabya in Istanbul. Am Maxim-Gorki Theater Berlin erarbeitete er das Musiktheater "Komitas", das sich dem armenischen Komponisten und Musikwissenschaftler Komitas Vardapet widmet.
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