Spiegel-Affäre: Die Redaktions- und Verlagsräume des Nachrichtenmagazins Der Spiegel werden in Hamburg und Bonn nachts polizeilich besetzt und durchsucht. Der Herausgeber Rudolf Augstein, der Verlagsdirektor Hans Detlev Becker und mehrere leitende Redakteure werden verhaftet. Die spanische Polizei nimmt den stellvertretenden Chefredakteur und Militärexperten Conrad Ahlers im Urlaub nach Intervention des Verteidigungsministers Strauß beim deutschen Militärattaché in Madrid, Oberst Oster, auf dem Interpol-Weg vorläufig fest; freiwillig zurückgekehrt, wird er in Frankfurt a. M. verhaftet. Wegen der militärpolitischen Analyse »Bedingt abwehrbereit« (Fallex) im »Spiegel« Nr. 41 vom 10. 10. 1962 hatte die Bundesanwaltschaft - u. a. auch veranlasst durch eine Anzeige des Würzburger Völkerrechtlers Friedrich August von der Heydte - ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und beim Verteidigungsministerium ein Gutachten eingeholt; es kam am 19. 10. zu dem Ergebnis, Bundeswehrangehörige hätten Staatsgeheimnisse verraten. Daraufhin erließ der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe am 23. 10. 1962 Haft- und Durchsuchungsbefehle wegen des Verdachts des Landesverrats, der landesverräterischen Fälschung und der Aktivbestechung. Verteidigungsminister Strauß, den der Bundestag am 25. 10. 1962 gegen die Stimmen der SPD vom Vorwurf befreit hatte, er habe in der »Fibag-Affäre« seine Dienstpflichten verletzt, erklärt zunächst, er habe mit der Spiegel-Affäre »nichts« zu tun, gibt aber am 9. 11. zu, er sei aktiv an der Festnahme Ahlers' in Südspanien beteiligt gewesen. Adenauer spricht am 7. 11. im Bundestag von einem »Abgrund von Landesverrat im Lande«; der »Spiegel« betreibe ihn »systematisch, um Geld zu verdienen«. Justizminister Stammberger (FDP), der von der Aktion gegen den »Spiegel« verspätet am 27. 10. unterrichtet worden war, will zurücktreten, bleibt aber im Amt, da die Staatssekretäre Walter Strauß (Justiz) und Volkmar Hopf (Verteidigung) die Verantwortung dafür übernehmen, dass er als zuständiger Minister nicht informiert worden ist, und ihre Posten verlieren. Die Hamburger Zentrale des »Spiegel« bleibt bis zum 26. 11. 1962 besetzt. Die Spiegel-Ausgabe Nr. 44 steht unter Vorzensur. Am 13. 5. 1965 lehnt der Bundesgerichtshof wegen fehlender Beweisgründe ab, das Hauptverfahren gegen Augstein und Ahlers (später Regierungssprecher 1966- 1972) zu eröffnen; andere Verdächtigte - u. a. der verhaftete Oberst Adolf Wicht vom Bundesnachrichtendienst - sind bereits vorher außer Verfolgung gesetzt worden. Die Bonner Staatsanwaltschaft stellt am 3. 6. 1965 das Ermittlungsverfahren gegen Strauß, Hopf und Oster wegen Freiheitsberaubung und Amtsanmaßung infolge Fehlens subjektiver Straftatbestände ein. Die Verfassungsbeschwerde des »Spiegel« scheitert am 5. 8. 1966 am Patt der acht Bundesverfassungsrichter, da nur vier von ihnen die Ansicht vertreten, dass die Haft- und Durchsuchungsbefehle gegen das Grundgesetz verstoßen hätten. Das Minderheitsvotum wird erstmals veröffentlicht. Die Spiegel-Affäre löst leidenschaftliche Kontroversen in der öffentlichen Meinung aus: Hatte der Schutz von Staatsgeheimnissen Vorrang vor der verfassungsrechtlich garantierten Meinungs- und Pressefreiheit oder umgekehrt? Und wie soll im Konfliktfalle eine Güterabwägung zwischen beiden Werten stattfinden? Wo liegen die Straftatbestände, Grenzen und Grauzonen des Landesverrats? An diesen Diskussionen beteiligen sich auch bisher politisch desinteressierte oder wenig engagierte Bevölkerungsgruppen. Mit der Spiegel-Affäre hatte die junge Demokratie der BRD eine wichtige Bewährungsprobe (»Reifeprüfung«) bestanden.