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Der Politikwissenschaftler Gerd Langguth und der Autor Reinhard Mohr zum Thema 68: Was waren die Ursachen von 68? Und was waren die Folgen?
Wie wirkt der "Mythos 1968" heute nach? Warum wird 40 Jahre danach noch über die 68er gestritten? Diese und andere Fragen diskutierten der Politikwissenschaftler Gerd Langguth und der Autor Reinhard Mohr im bpb-Live-Chat am 03. Juni 2008, von 13:00 bis 14:30.
Moderator: Herzlich willkommen zum Chat der Bundeszentrale für politische Bildung zum "Mythos 1968". Heute von 13.00 bis 14.30 Uhr diskutieren der Politikwissenschaftler Professor Gerd Langguth und Reinhard Mohr, Journalist und Autor des Buches "Der diskrete Charme der Revolution. Ein Leben mit den 68ern", an dieser Stelle live über den "Mythos 1968".
Hier ist es jetzt 13 Uhr. Zuerst einmal Vielen Dank an unsere Diskussionsteilnehmer, dass Sie sich Zeit für den Chat genommen haben. Herr Mohr chattet mit uns heute aus Berlin, Herr Langguth aus Königswinter-Oberollendorf. Kurze Frage an beide: Können wir starten?
Reinhard Mohr: Ja.
Gerd Langguth: Ja, wir können starten und einen schönen Gruß an alle.
Moderator: Dieser Chat steht unter der Überschrift "Mythos 1968". Was macht für Sie den Mythos dieser Epoche aus?
Gerd Langguth: Unter Mythos verstehe ich, dass lediglich die positiven Veränderungen seit 1968 herausgearbeitet werden, die problematischen Seiten, die es zweifelsohne gab, jedoch gerne verdrängt werden. Viele 68er sitzen jetzt noch an den Schalthebeln und feiern sich und ihre Leistungen selbst. Langsam wird es aber Zeit, ein realistisches Bild jener Epoche zu vermitteln. Daniel Cohn-Bendit, der ja unverdächtig ist, als einer der damaligen Aktivisten brachte vor kurzem sogar Selbstkritisches zum Ausdruck indem er zu 68 in einem Interview sagte: "Das sind zwei Welten. Emanzipation mit der grausamen Kulturrevolution in China zu verknüpfen, dieses Kunststück muss man erstmal bringen! Und dann diese Schwärmerei für die Arbeiterräte der 20er Jahre. Das alles war damals schon rückwärtsgewandt." Und Cohn-Bendit fügte hinzu: "Forget 68". Manche stilisieren die 68er Revolte sogar zu einer "zweiten Geburt der Demokratie in Deutschland" hoch. Zweifelsohne hat es durch die 68er Revolte eine "Durchlüftung" der Bundesrepublik gegeben, aber man sollte eine Bewegung zunächst von ihren Zielen her und nicht nur von ihren Wirkungen her beurteilen.
Reinhard Mohr: Mythos ist ein schillernder Begriff, aber dass wir heute, 40 Jahre später, immer noch über 68 streiten, kann ja nur heißen, dass es um eine große, bewegende Sache geht. Ihr bis heute wirkender Kern war die Chuzpe der damals Jungen und Aktiven, die ganze Welt auf den Kopf stellen zu wollen, im Kleinen wie im Großen.
philipp: Warum diskutieren wir eigentlich 40 Jahre später so intensiv die 68er? Sollten wir nicht eigentlich diskutieren, warum es heute trotz vieler gesellschaftlicher Missstände zu keiner solchen Bewegung kommt?
Reinhard Mohr: Beides schließt sich ja nicht gegenseitig aus. Aber wir haben heute eben eine andere, offenere Situation, nicht zuletzt durch das Internet. Protest verpufft da schnell.
Gerd Langguth: Es war eine vollständig andere Situation, die damals jüngere Generation hatte nicht das Problem etwa mit einer künftigen beruflichen Karriere. Als ich 1966 mein erstes Semester hatte, wurde mir klar gesagt, dass jeder potenzielle Arbeitgeber uns gerne nähme, weil es einen entsprechenden Akademikermangel gab. Heute hat es die junge Generation sehr viel schwerer, adäquate Berufe zu finden. Das führt nicht unbedingt zu Protesthaltungen. Heute spielen auch leidenschaftliche Diskussionen um Utopien und Ideologien keine Rolle.
Moderator: Eine Rückfrage an Herrn Mohr:
leppisch: Protest verpufft im Internet? Ist das Internet nicht eher ein Ort, an dem sich Protest sammeln und formieren kann, Herr Mohr?
Reinhard Mohr: Ja, aber dieser Protest ist eben auch weit verzweigt und trifft auf eine globale Wirklichkeit, deren Komplexität einfache Parolen weniger attraktiv macht. Und eines muss man sagen: Die 68er haben den Marxismus regelrecht "verbraucht". Es gibt derzeit keine sinnvolle "revolutionäre Theorie" mehr, die den Protest, gar weltweit, bündeln könnte
Moderator: Herr Langguth erwähnte problematische Seiten. dazu eine Rückfrage:
OldSchool: Was waren denn die problematischsten Seiten, Herr Langguth?
Gerd Langguth: Dazu gehört eine starke Ideologisierung durch verschiedene marxistische Orientierungen. Die Welt wurde aus der unbrauchbaren Brille des Marxismus beleuchtet. Es wurden unrealistische Utopien vermittelt und hier gilt der Satz von Karl Popper "Der Wunsch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produzierte stets die Hölle." Am Anfang war der Protest sehr stark von linksliberalen und basisdemokratischen Zielsetzungen begleitet. Es hat sich aber immer mehr eine kleine Gruppe von Linksradikalen durchsetzen können, die die Frage der Gewalt nicht mehr prinzipiell ablehnten und zunächst durch den feinsinnigen Unterschied einer Gewalt gegen Sachen und gegen Personen letztlich doch einen Beitrag dazu geleistet haben, dass die Frieden stiftende Funktion des Rechts von Einigen in Frage gestellt wurde. Ich bleibe aber dabei, dass am Anfang der Revolte ein demokratischer Protest stand, den manche aber umfunktionieren wollten.
Moderator: Herr Mohr, möchten Sie darauf etwas erwidern?
Reinhard Mohr: Gerne. Gestern war der 2. Juni. Vor 41 Jahren wurde Benno Ohnesorg von dem Polizeiobermeister Kurras erschossen. Will sagen: Man darf die andere Seite der Wirklichkeit von damals nicht vergessen, einen zum Teil autoritär agierenden Staat. Da hat sich, im Verein mit der Springerpresse, eine merkwürdige Dialektik gebildet, die am Ende tatsächlich zu einer übersteigerten Form von ideologischer Feindschaft führte.
Moderator: Die nächste Frage wurde von unseren Nutzern in der Vorabphase auf den ersten Platz gewählt.
Lulu: Wo können wir denn noch heute "Erfolge" oder "Misserfolge" von 68 in der Gesellschaft sehen?
Reinhard Mohr: Ganz kurz: Erfolge auf dem Gebiet eines demokratischen Bewusstseins, das Protest, zuweilen zivilen Ungehorsam, als Teil der gesellschaftlichen Normalität begreift. Misserfolge? Politisch, im Sinne einer "Revolution", ist 68 natürlich auf ganzer Linie gescheitert. Und immer noch existiert hier und da ein historisch obsoletes Lagerdenken.
Gerd Langguth: Zum Mythos gehört, dass mit 68 es in Deutschland einen Kulturbruch gegeben habe. Das ist wissenschaftlich nicht belegbar: Die Studentenrevolte konnte auf den einsetzenden Umbrüchen aufbauen und erst dadurch ihre eigene Dynamik gewinnen und die kulturellen Umbrüche beschleunigen. Beispielsweise hatte sich die Sexualmoral in allen westlichen Staaten erst gelockert, als die Anti-Babypille auf dem Markt war, doch das war längst vor der Studentenrevolte. Auch neue musikalische Formen hatten bis dahin schon längst ihr Millionenpublikum erobert. Richtig ist aber, dass eine Diskussionskultur sich in Deutschland beschleunigte, die nicht von obrigkeitsstaatlichem Denken in erster Linie begleitet war.
Seefeld: Ich denke, die 68er werden heute entweder mit romantischer Verklärung betrachtet oder gleich fundamental abgelehnt. Wie sehen Sie das? Warum scheint keine sachliche, objektive Auseinandersetzung möglich?
Gerd Langguth: Das hängt damit zusammen, dass alle "Zeitzeugen" damals in irgendeiner Form involviert waren und dass eine Brückenbildung hier sehr schwer möglich ist. Manches mal werden heute noch Kämpfe von gestern ausgetragen. Ich bin aber überzeugt, dass - je mehr jüngere Menschen sich auch wissenschaftlich mit jener Zeit beschäftigen - die Bedeutung der 68er Revolte dann besser herauskristallisiert werden kann, wenn nicht der Vorwurf unterbreitet werden kann, dass jene Kämpfe von Gestern und Vorgestern heute noch vollzogen würden.
Reinhard Mohr: Ich glaube, das liegt daran, dass es doch stark um Gefühle ging und geht, um Vorstellungen vom glücklichen Leben. Und: Es war eben auch ein Kampf unterschiedlicher Generationen. Anders als damals waren viele Eltern der damaligen Aktivisten Täter und Mitläufer der Nazis. So war 68 ein Bruch; ein kultureller Bruch und ein biographischer. Wenn Sie nach Frankreich schauen, in den Mai 68, dann sehen sie, wie stark ein paar Wochen "Revolution" Menschen für ihr ganzes Leben geprägt haben, auch und gerade jene, die zu "Renegaten" wurden.
Moderator: Wie haben Sie beide denn die Zeit um 1968 herum erlebt?
Reinhard Mohr: Ganz einfach: Ich war damals ein Kind von zwölf Jahren und habe vor allem meinen Vater gegen die "Kommunisten" toben sehen. Das muss mich später inspiriert haben, mich mit ihnen anzufreunden, so mit Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer.
Gerd Langguth: Ich war damals 22 Jahre alt, entschied mich kurze Zeit später, gegen den allgemeinen Mainstream in der Studentenschaft, mich beim Ring Christlich Demokratischer Studenten zu engagieren. Das war nicht immer ganz einfach, weil wir damals eine ganz deutliche Minderheit waren. Mein Motiv war, dass ich die Demokratie stärken wollte und die Sit-Ins und Go-Ins an den Hochschulen eher als eine Verhinderung des politischen Pluralismus interpretierte. Ich habe eben auch gesehen, wie linke Ideologen gerade auch liberale Professoren an ihren Vorlesungen hindern wollten. Manchen damaligen linken Aktivisten, wie etwa den Buchautor Aly, tut das inzwischen Leid. Letzterer hatte sogar an der Freien Universität in Berlin zu einer "Schweinejagd" auf Professoren aufgerufen. Das zeigt, wozu ideologische Verblendung führen konnte. Ich hatte ein anderes Menschenbild und habe Utopien nicht in gleicher Weise auf mich wirken lassen.
Gesa: Frage an Herrn Langguth: Wie haben Sie es damals erlebt, "auf der anderen Seite zu stehen" und was waren Ihre Beweggründe dafür, nicht Teil der Protestbewegung sein zu wollen? Waren Sie zufrieden mit dem Zustand der damaligen BRD und ihrer Gesellschaft?
Gerd Langguth: Nein, keineswegs war ich zufrieden. Aber ich habe keinen Grund für eine Revolution gesehen. Wohl war ich von der Notwendigkeit überzeugt, dass Veränderungen in Lebensstilen notwendig sind – etwa was das Zusammenleben von jungen Menschen angeht, Kleidung, etc. Aber deshalb hatte ich nicht zu einem revolutionären Umsturz aufrufen wollen. Ich habe aber auch erlebt, dass es nicht immer einfach ist, in einer emotional aufgeheizten Situation zu einer Minderheit zu gehören, zumal ja damals alle Anhänger der politischen Ordnung der Bundesrepublik unter einen Faschismusverdacht gestellt worden waren.
seth: Herr Mohr, was haben Sie von Leuten wie Herrn Langguth gehalten, als Sie erstmals bewusst seinen Namen gehört haben?
Reinhard Mohr: Natürlich waren die Leute vom RCDS für uns, mit Verlaub, bedauernswerte Gestalten, Opportunisten, Muttersöhnchen und wer weiß was noch. Wir haben sie, selbst in den 70er Jahren, eigentlich nur als Jünger Helmut Kohls wahrgenommen. Ich weiß, dass das auch ungerecht war, aber ein Motiv spielte bei all dem immer eine wichtige Rolle: Wir hatten einfach mehr Spaß, zugegeben: auch mit unsinnigen Aktionen.
Moderator: Götz Aly wurde gerade schon erwähnt hier gibt es eine Nachfrage.
George Wahington: Wie stehen Sie zu der These von Götz Aly, nach der die 68er den 33er sehr ähnlich waren?
Gerd Langguth: In einer solchen Pauschalität, wie das Aly tut, stimme ich dieser These nicht zu. Aber man kann nicht bezweifeln, dass es auch nationalsozialistische Studenten waren, die damals mit ähnlichen Methoden vorgegangen sind. Für die einen - so schien es mir damals - war der Maßstab die "Rasse", für die anderen die "Klasse". Sicher haben Nationalsozialismus und Sozialismus / Kommunismus (letzteren wollten ja viele in einer späteren Phase), deutliche ideologische Unterschiede, doch beide Seiten sind keine Anhänger des Pluralismus. Dutschke hatte beispielsweise in einer Tagung in Bad Boll ausdrücklich zum Ausdruck gebracht, dass "die Freiheit des Andersdenkenden" nicht die Freiheit des Faschisten meint, sondern die Freiheit der verschiedenen Fraktionen des sozialistischen Lagers meint. Wer also nicht zum sozialistischen Lager gehörte, konnte sich demnach nicht auf die Freiheit des Andersdenkenden berufen.
Reinhard Mohr: Alys Vergleich ist historisch schief und eher eine polemische Übersprungshandlung. Er hätte seine eigene Rolle lieber genauer schildern sollen. Andersherum wird ein Schuh daraus: Der nachholende Antifaschismus der 68er steigerte sich teilweise in den Wahn, überall in der Gegenwart, auch in der "BRD", den Faschismus wieder auferstehen zu sehen. Das war natürlich Quatsch und hat die Bildung der maoistischen Sekten, auch die Entstehung der RAF, noch gefördert. Aber die Parallelisierung von 68ern und "33ern" ist Unsinn.
JackO: Wenn ich heute als junger Mensch etwas über die 68er höre, klingt mir das immer sehr oberflächlich (Kommunen, Love&Peace...). Ist es nicht naiv, diesen jungen Leuten politisches Engagement zu unterstellen?
Reinhard Mohr: Naivität und Überschwang gehören zu jeder Revolte. Sonst beginnt sie gar nicht. Aber es stimmt: Uschi Obermaier hat Marx nicht gelesen, und viele Aktionen der Kommune 1 waren spielerische, teilweise postpubertäre Happenings. Aber dieser lebensweltliche Unterstrom hat das Umfeld für die politischen Aktionen erst geschaffen. Rudi Dutschkes Reden allein waren es sicher nicht.
Gerd Langguth: An der Protestbewegung haben sich auch sehr viele unpolitische beteiligt. Wenn übrigens Kollege Mohr vorhin davon sprach, dass aus seiner Richtung mehr "Spaß an unsinnigen Aktionen" war, dann zeigt das auch, dass manches Mal der Spaßfaktor doch ziemlich wichtig war. Viele interessierte nicht Vietnam, sondern, wie es ein Kommunarde mal sagte, die eigenen Orgasmusschwierigkeiten.
George Washington: Welcher Zusammenhang besteht zwischen der 68er Bewegung und dem Entstehen der RAF? Waren die Zielsetzungen nicht sehr ähnlich? Wäre die RAF ohne Protestbewegung entstanden?
Gerd Langguth: Die RAF ohne die 68er Revolte ist für mich so nicht denkbar. Alle wichtigen Angehörige der ersten Generation der Rote Armee Fraktion kamen aus der Studentenrevolte oder waren irgendwie mit ihr involviert. Es wurde frühzeitig in der Studentenrevolte auch schon über die Notwendigkeit revolutionärer Gewalt diskutiert, was meines Erachtens auch zur Enttabuisierung führte. In ihren ideologischen Schriften hat sich die RAF ausdrücklich auf die Studentenrevolte bezogen. Und denken Sie an den Ausruf Rudi Dutschkes am Grabe von Holger Meins: "Holger, der Kampf geht weiter!". Auch wenn das nicht als eine prinzipielle Unterstützung Dutschkes für den "militärischen Kampf" der RAF gedeutet werden kann, so war gerade er es, der bestimmte Bewegungen etwa in Lateinamerika, wie die Tupamaros, als Vorbild deutete und ein europäischen "Cong" forderte. Trotzdem: Er war kein RAF-Anhänger, aber die Gewalt hat er zumindest theoretisch zu einer Möglichkeit erklärt. Und damals wurde die Theorie ja sehr hoch gehalten und manche machten eine Praxis daraus.
Reinhard Mohr: Hier kann ich Herrn Langguth nur zustimmen. Die RAF ist ein Erbe von 68, ein schreckliches. Nicht vergessen sollte man aber, dass die Mehrheit der 68er (und 78er wie ich) die RAF schon sehr früh kritisiert hat. Aber sie war ein Wurmfortsatz der Revolte, neben den Spontis, den K-Gruppen, Landkommunen und der späteren Ökobewegung. Mag sein, dass die Zähigkeit, mit der die RAF ihren irren Krieg ausfocht, auch noch ein später Reflex auf den Naziterror war, wie verqueer auch immer.
Moderator: Kommentar von Karen:
Karen: Aber die allermeisten 68er blieben in ihren Protesten ja friedlich - die RAF ging doch in eine ganz andere Richtung.
Gerd Langguth: Herr Mohr hat Recht, dass die 68er Revolte nachdem sie in die verschiedensten Richtungen diffundierte (etwa undogmatische Linke, dogmatische kommunistische Gruppen, trotzkistische Gruppen, anarchistische Gruppen, Autonome, aber auch proparlamentarische) die terroristische Tendenz sich sogar noch verstärkte, als die Große Koalition von 1966 bis 1969 abgelöst wurde durch eine sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt. Übrigens gab es diesen Terrorismus auch in anderen europäischen Ländern, etwa in Frankreich.
Reinhard Mohr: Ja, aber in Deutschland eben viel länger und intensiver als in Frankreich.
Gerd Langguth: Der Unterschied zu anderen Staaten bestand allerdings in Deutschland darin, dass der Protest weitgehend auf Studenten und Oberschüler begrenzt blieb und das ein Bündnis mit der "Arbeiterklasse", in deren Namen zu sprechen man vorgab, nicht stattfand.
Reinhard Mohr: Stimmt.
Moderator: Herr Langguth, Sie kritisieren in ihren Aussagen die Spaßorientiertheit einiger 68er. Würden Sie die politische Bedeutung der 68er-Bewegung ins Reich des Mythos verweisen?
Reinhard Mohr: Unter uns: Auch Dieter Bohlen ist ein Erbe von 68.
Gerd Langguth: Spaß muss sein. Nur wird heute allzu gern manche Aktion, die manche meiner damaligen politischen Gegner mit großem Bierernst inszenierten, als Spaß abgetan. Auch ich nehme für mich und meine Freunde in Anspruch, dass wir von einer Aufbruchstimmung geleitet wurden und Spaß am Leben hatten, aber Spaß und ideologische Verblendung schließen sich eigentlich aus. Stimmt das mit Bohlen?
Reinhard Mohr: Ich glaube schon. Aber Spaß beiseite: Vor vierzig Jahren war ein Minirock, eine Jeans oder ein laut gespielter Song von Bill Haley schon die pure Provokation. So hatte sie zwei Seiten: Den Protest gegen vermufftes autoritäres Spießertum und den Spaß, den die Provokation brachte. Dazu kam die Herausbildung von "Gemeinschaften" und Freundschaften, das, was später "Szene" genannt wurde. Motto: Gemeinsam sind wir unausstehlich.
Moderator: Wie beurteilen Sie die heutige, öffentliche und mediale Rezeption der 68er-Bewegung? Fehlen Ihnen Aspekte in der Betrachtung dieser Zeit?
Reinhard Mohr: Es ist wie immer: Jubiläen bringen eine Bücher- und TV-Gedenkflut, in der es um alles und nichts geht. Gerade, weil viele 68er in den Medien sitzen, kommt mir ein Teil der Debatten wie die Selbstbeschäftigung einer Betroffenengruppe im Vorruhestand vor. Was fehlt? Der Blick auf die Gegenwart, auf neue Möglichkeiten, die etwas müde gewordenen westlichen Demokratien wieder zu inspirieren, zu stärken.
Gerd Langguth: Es ist inzwischen vieles ausgeleuchtet, allerdings auch von vielen ehemaligen 68ern, die sich teilweise doch sehr gewandelt haben und zum Teil mit Irritationen auf die eigene Vergangenheit blicken, wenn man einmal nicht nur an Götz Aly erinnern kann, sondern auch an die bemerkenswerten Publikationen von Koenen. Interessanterweise ist in der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung an den Universitäten noch ein eindeutiges Defizit zu vermelden. Herr Mohr hat Recht, dass solche Jubiläumsgedenktage, wie wir sie jetzt haben, zwar Bücherfluten produzieren, gleichwohl bleiben manche Aspekte unterbelichtet.
Flicks: Warum haben eigentlich die 68er selbst die historische Deutungshoheit über ihre eigene Zeit erobert? Interessiert das unabhängige Feuilletonisten einfach nicht genug?
Gerd Langguth: Viele haben heute - vierzig Jahre nach der Studentenrevolte! - gar nicht mehr die Detailkenntnis. Auch in den Feuilletons gibt es manche, die seinerzeit aktiv waren und sich heute noch befangen sehen. Wir sind aber in der Aufarbeitung, so denke ich, auf einem guten Weg. Nur sollte man diese nicht nur den "Zeitzeugen" von gestern, die sich auf Ehemaligentreffen heroisieren, allein überlassen.
Reinhard Mohr: Ich glaube auch, dass Koenen, Kraushaar und Co. hervorragende historische Arbeiten über 68er geleistet haben. Aber, um es provokativ zu sagen: 68 war eben auch ein "Kriegserlebnis", eine gemeinschaftlich erlebte Zeit des Ausnahmezustands, der für Tausende der Höhepunkt ihres Lebens war, soweit es die Intensität des Lebensgefühls betrifft. Deshalb vor allem die Dominanz dieser Alterskohorte bei der Interpretation von 68: Es ist einfach ihre große Zeit gewesen.
smart: Wie erleben Sie die neuen "konservativen" Entwicklungen in unserer Gesellschaft? Etwa die Wiedereinführung von Kopfnoten an Schulen in NRW? Wird 68 wieder rückgängig gemacht?
Reinhard Mohr: 68 kann man nicht "rückgängig" machen. Die Wirkungen sind längst überall hin mäandert. Aber natürlich gibt es immer neue Herausforderungen, neue Probleme, denen man sich stellen muss. Ob die mit Kopfnoten zu lösen sind, ist eine andere Frage.
Gerd Langguth: In der Bildungspolitik war meines Erachtens 68 keineswegs nur segensreich. Sicher, die ältere Generation hatte sich damals - zwanzig Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges - an den Pflicht- und den Akzeptanzwerten (wie berufliche Karriere, Fleiß, Leistungsbereitschaft, Disziplin, etc.) orientiert, während bei den bereits im relativen Wohlstand aufgewachsenen jüngeren Jahrgängen die so genannten "post-materiellen" Orientierungen in den Vordergrund rückten, was unmittelbare Folgen für das Erziehungssystem haben sollte. Neue Erziehungsformen, insbesondere bei einer so genannten "antiautoritären" Erziehung, scheiterten und führten zu großen pädagogischen Verunsicherungen und manchen Fehlentscheidungen, gerade im Schulwesen. Das Wort "Erziehung" bekam einen eher negativen Stellenwert.
Karen: Frage an Sie beide: Wie nehmen Sie die derzeitige Diskussion um die Partei Die Linke wahr, steht uns da eine Umwälzung bevor, wie sie die 68er schon damals für möglich hielten?
Gerd Langguth: Die Linke hat mit 68 nun überhaupt nichts zu tun, sie ist eine Folge der deutschen Einheit. Allerdings versucht sie sich durch eine Neugründung des Sozialistischen Deutschen Studentenverbundes (SDS) an die Studentenrevolte heran zu pirschen. Ich denke nicht, dass dieser Zusammenschluss aus alter PDS/SED und WASG wirklich zu einer revolutionären Umwälzung führen könnte.
Reinhard Mohr: Die "Linke" ist eher retro als progressiv. Ihre Sozialstaatsutopien a là Lafontaine stammen eher aus den 70er Jahren als aus der schwierigen globalen Gegenwart. Mit einem Revival von 68 hat das nicht viel zu tun, eher mit einer späten Revolte von Leuten, die noch einmal an die Fleischtöpfe der Regierungsmacht wollen.
Juri: Müssen wir uns denn tatsächlich noch ausführlich mit dem Thema 68er beschäftigen oder sollten wir es als Notiz der deutschen Geschichte dabei belassen?
Reinhard Mohr: Ich glaube auch, das zu 68 das meiste gesagt ist. Es ist Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte, eine politische wie kulturelle Zäsur, die ihre Arbeit der Veränderung getan hat. Nun stehen andere Probleme und andere Formen, sie zu lösen, auf der Tagesordnung.
Gerd Langguth: 68 ist schon ein ganz wichtiges Datum der Bundesrepublik Deutschland. Gerade deshalb, weil ja doch in Folge der Revolte Tausende von Studenten in kommunistischen Gruppen und Grüppchen Mitglied wurden, die sogar den Stalinismus verteidigten und manche sogar die orthodox-kommunistische Linie eines Leonid Illjitsch Breschnews oder Erich Honeckers verteidigten. Für mich ist es schon ein wichtiges Phänomen, warum so viele - trotz des anfänglich demokratischen Impulses der Revolte - den Glauben an die Demokratie verloren haben und sich auf eine andere Seite gestellt haben. Es ist aber auch ein wichtiges Datum deshalb, weil viele der damals Aktiven durch unsere Gesellschaftsordnung integriert wurden. Ein ehemaliger Straßenkämpfer, der erhebliches Gewaltpotenzial an den Tag legte, als Bundesaußenminister, das ist keine Selbstverständlichkeit. Und so ließen sich viele Beispiele für die Integrationsfähigkeit nennen.
doreens: Herr Langguth, hat aus Ihrer Sicht die CDU ihren Frieden mit den 68ern gemacht? So an der Basis am Stammtisch?
Gerd Langguth: Ich denke, immer mehr, zumal viele Grüne ja aus der 68er Bewegung stammen, aber nicht jeder.
Moderator: So, wir sind auch kurz vor dem Ende des Chats. Zeit für ein Schlusswort unserer Gäste.
Reinhard Mohr: Schwierig. Ich glaube, dass wir Deutschen unglaubliches Glück haben: Am Ende steht doch die Synthese einer zivilen Gesellschaft, die manchmal etwas stur und kritizistisch vor sich hin werkelt (und gerne über alles jammert), insgesamt aber doch die meisten Probleme verträglich löst. Ein bisschen mehr Optimismus fände ich allerdings ganz schön.
Gerd Langguth: Ich stimme Herrn Mohr zu und bedanke mich für die spannende Diskussion.
Moderator: Das waren 90 Minuten Live-Chat der Bundeszentrale für politische Bildung zum "Mythos 1968". Vielen Dank an unsere Gäste für die kontroverse Diskussion und vielen Dank auch an die User für die interessanten Fragen und Beiträge. Das Chat-Team wünscht einen schönen Tag und entschuldigt sich bei den vielen Usern, deren Fragen wir Herrn Langguth und Herrn Mohr aus Zeitgründen nicht stellen konnten.
Gerd Langguth, während seines Studiums Vorsitzender des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), glaubt, die Bedeutung von 68 werde überschätzt: "Gegenwärtig erleben wir erneut den Versuch, die Studentenrevolte zu so etwas wie einer 'zweiten Geburt der Bundesrepublik' hochzustilisieren. Das ist ahistorisch: Was in Deutschland immer als Vermufftheit der Adenauer-Ära charakterisiert wurde, war auch in anderen Ländern gang und gäbe."
Der Journalist und langjährige Spiegel-Redakteur Reinhard Mohr attestiert der 68er-Bewegung hingegen einen diskreten Charme. Dieser, schreibt Mohr in seinem gleichnamigen Buch, habe darin gelegen, mit allen Konventionen zu brechen. Politisch ist die Revolte dieses fernen 'Planeten 68' gescheitert, misst man sie an ihren ursprünglichen utopischen Zielen von Sozialismus und Weltrevolution. Doch ihre tiefgreifenden, widersprüchlichen und merkwürdig schillernden Wirkungen dauern bis heute an - ebenso wie die Diskussion darüber", so Mohr.
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