Einleitung
Das Jahr 1968 gehörte den Studenten. Von Belgrad bis Berkeley standen sie in den allerersten Reihen von Aktivisten, die das Jahr 1968 zum "moment of madness" machten.
Weitere "weiße Flecken" der sich auf 1968 beziehenden Geschichtsschreibung ließen sich anführen. Dieser Aufsatz widmet sich einem der wichtigsten Forschungsdesiderata: die Beteiligung der Arbeiterschaft an den Protestereignissen in und um 1968. Insbesondere in der bundesdeutschen Literatur wird die zeitgenössische Protestwelle kaum mit Arbeitern und den Arbeiterbewegungen in Verbindung gebracht. In Gestalt einer in das System integrierten sozialen Klasse dienen sie oftmals nur der schärferen Konturierung des vermeintlich systemsprengenden Charakters der studentischen Massenbewegungen. Selbst der dreiwöchige französische Generalstreik von Mitte Mai bis Anfang Juni 1968 vermochte wenig an dieser Sichtweise zu ändern. Denn war es nicht so, dass diese zweifelsohne bemerkenswerte soziale Bewegung erst durch die studentischen Aktionen ausgelöst und dann sehr bald durch materielle Zugeständnisse von Regierungs- wie von Unternehmerseite gestoppt werden konnte? Wurde hier nicht die einzigartige Chance einer sozialen Revolution in einem der fortgeschrittensten Länder der Welt gleichsam für ein Linsengericht verkauft? Demonstrierten Arbeiter und Arbeiterbewegungen nicht einmal mehr, dass sie ihre historische Rolle als Speerspitze des Antikapitalismus eingebüßt hatten?
Ein Überblick
Wie verhielten sich europäische Arbeiter in und um 1968?
Die erwähnte, mit der wachsenden Zahl von Streiks belegte Militanz europäischer Arbeiter in den frühen 1970er Jahren wird statistisch auch in anderer Weise fassbar.
Die intensive Streiktätigkeit fand ihren Niederschlag in einer Reihe wesentlicher materieller Verbesserungen.
In der ersten Hälfte der 1970er Jahre profitierten die europäischen Arbeiter sowohl von einer deutlichen Verminderung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit
Die zeitlich differenzierteren Zahlen des bereits zitierten französischen Sozialwissenschaftlers Pierre Dubois weichen teils erheblich von den Daten der britischen Wirtschaftswissenschaftler ab, doch ist der Trend gleichermaßen unverkennbar. Ausnahmslos war in den frühen 1970er Jahren der durchschnittliche Reallohnanstieg höher als in der Vorphase.
Tabelle 2 und 3 offenbaren einige nationale Besonderheiten. Insbesondere die Zahlen bei Pierre Dubois deuten auf einen außergewöhnlich hohen Reallohnanstieg und auf eine intensive Streiktätigkeit in Italien hin, worauf noch näher einzugehen sein wird.
Hingegen fallen die Resultate für Großbritannien in beiden Tabellen unterdurchschnittlich aus. Offenbar verstand es die britische Arbeiterschaft nicht, ihre vergleichsweise hohe Militanz und Kampffreudigkeit in konkrete Resultate umzusetzen. Nahezu das Gegenteil kann man aus den bundesdeutschen Daten herauslesen. Denn insbesondere die Daten des britischen Autorenteams deuten auf einen durchaus substantiellen Reallohnanstieg bundesdeutscher Arbeiter hin, und dies bei unterdurchschnittlicher Streikbereitschaft und geringer Militanz (vgl. auch Tabelle 1). Streikfreudigkeit und Kampfbereitschaft haben keine hinreichende Erklärungskraft..
Nord- und Südeuropa
Arbeiter und Studenten gingen in Paris im Mai 1968 gemeinsam auf die Straße. (© AP )
Arbeiter und Studenten gingen in Paris im Mai 1968 gemeinsam auf die Straße. (© AP )
Das bundesdeutsche Beispiel verweist auf eine inmitten Europas verlaufende Trennlinie, die den Kontinent grosso modo in diesen Jahren teilte. Nördlich einer Linie, die der Maas, dem Rhein und schließlich stromabwärts dem Adige (Etsch) entlang führte, waren soziale Konflikte traditionell proletarischer Natur eher von Seltenheitswert. Ein meist relativ hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad und oft vergleichsweise reibungslos funktionierende Kooperationsbeziehungen zwischen Vertretern von Lohnarbeit und Kapital unter Einschluss von Regierungen ermöglichten die Entschärfung und Lösung von Konflikten oft vor dem Streikausbruch und ähnlichen Kampfmaßnahmen. Die angeführten Daten zur Lohnentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland zeigen stellvertretend für die "nordeuropäischen" Länder, dass die materielle Lage der Arbeiter keineswegs schlechter war als in den Ländern südlich der imaginären Scheidelinie von Maas, Rhein und Adige. Wie eingangs dargelegt, kam es auch im "Norden" Europas zu einem statistisch signifikanten Anstieg von Streiks in den 1960er, insbesondere in den frühen 1970er Jahren, doch blieben die Zahlen weit hinter denen der Länder im meist romanischsprachigen Südeuropa zurück. Die Durchsetzungskraft der Arbeiter in den nordeuropäischen Ländern lag also mindestens so hoch wie in den streikfreudigen Ländern Südeuropas. Was jedoch den Einfluss proletarischer Streitkultur auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge, insbesondere auf soziale Bewegungen nichtproletarischer Provenienz (wie z.B. universitären Auseinandersetzungen) angeht, blieb dieser in Nordeuropa denkbar gering, was aufgrund der geringen Ausprägung der "proletarischen Streitkultur" nicht überraschend ist.
Ganz anders stellt sich die Situation vor allem in Belgien, Frankreich, Italien, Spanien und Portugal dar. Wer den Beitrag von Arbeitern in den 1968 folgenden Jahren in Westeuropa nachspüren möchte und sein Augenmerk nicht nur auf die nördliche Hälfte des Kontinents begrenzt, wird nicht umhinkommen, die zentrale Rolle der Arbeiterschaft in den sozialen Auseinandersetzungen jener Jahre hervorzuheben. Hier, in der südlichen Hälfte Westeuropas, beflügelte der "Geist von 1968" auch und gerade die Arbeiterklasse und ließ sie zu einem deutlich einflussreicheren Faktor im Geflecht der sozialen Bewegungen werden als in den Ländern des nördlichen Europas. Gewiss - auch in Belgien, Frankreich und Italien (weniger in Spanien und in Portugal) fungierten radikale Studentenbewegungen oftmals als das Zünglein an der Waage. Doch war der Funken erst einmal auf die Arbeiterklasse übergesprungen, spielten mittelschichtorientierte universitäre Organisationen und lose Zusammenhänge nurmehr eine untergeordnete Rolle in den jeweiligen Auseinandersetzungen.
Die unterschiedlichen Auswirkungen auf das normale volkswirtschaftliche Geschehen liegen auf der Hand. Profitmaximierung, Erwerbstätigkeit und Konsumsphäre blieben weithin unberührt, selbst wenn es zu lang andauernden universitären Campusbesetzungen oder Vorlesungs- bzw. Examensboykottbewegungen kam. Studentische Vollversammlungen und Protestaktionen im Elfenbeinturm universitärer Abgeschiedenheit kamen so gesehen einem Sturm im Wasserglas gleich. Wo sich allerdings die Welle der Revolte aus dem universitären Bereich ihren Weg in die reale Welt sozialer Auseinandersetzungen zwischen Lohnarbeit und Kapital bahnte, da war der allgemeine soziale Frieden schnell dahin. Es verdient in diesem Zusammenhang hervorgehoben zu werden, dass in der von der deutschen Sozialwissenschaft vielfach ausgeblendeten südlichen Kontinenthälfte nicht nur eine wachsende Konflikthaftigkeit sozialer Beziehungen zu verzeichnen war. Jenseits traditioneller gewerkschaftlicher Handlungsweisen bildeten sich auch neue institutionelle Formen der Auseinandersetzung heraus.
Direkte Demokratie
Sicherlich war es den besonderen politisch-kulturellen Umständen im franquistischen Spanien geschuldet, dass sich gerade dort (und zwar schon zu Beginn der 1960er Jahre) erstmals jene Elemente direkter Demokratie am Arbeitsplatz ausbildeten, die später zum charakteristischen Bild von Arbeitskämpfen in allen Ländern Südeuropas gehören sollten. Im Rahmen einer halb spontanen Streikwelle in den industrialisierten Gebieten Spaniens im Frühjahr 1962 wurden zum ersten Mal neue Formen der Konfliktaustragung verallgemeinert, die 1962 zuerst die Produktionsverhältnisse in Asturien revolutionierten, in den folgenden Jahren die benachbarten Provinzen Nordspaniens eroberten und schließlich gegen Ende des Jahrzehnts sich auf das gesamte Land ausbreiteten.
Was waren das für neue Vorgehensweisen? Im Grunde handelte es sich um Vollversammlungen, wie sie später im studentischen Milieu beliebt wurden. Ganze Betriebsbelegschaften fanden sich zu gemeinsamen Beratungen zusammen. In diesen proletarischen Vollversammlungen, oft auf dem Betriebsgelände abgehalten, konnte jede und jeder mitsprechen, um Probleme aufzudecken, Forderungen zu stellen und Ziele zu formulieren, die nicht selten mittels "aktiver Streiks" zu erreichen versucht wurden. Ein "aktiver Streik" bedeutete, dass eine Vielzahl von Aktivitäten und Veranstaltungen die Arbeitsniederlegung begleitete. Streiks kamen so einem kollektiven Lernprozess gleich, in dem auf oft kreative Weise um Solidarität und wechselseitige Unterstützung geworben wurde. Wichtig war, dass die Teilnahme an diesen Vollversammlungen jeder und jedem freigestellt war, ob man gewerkschaftlich organisert war oder nicht, und ganz gleich, welchem der oft miteinander konkurrierenden Gewerkschaftsdachverbände man angehörte. Im Pionierland dieser neuen Herangehensweise, Spanien, trugen die neuen Strukturen, die gleichermaßen Aktions- und Organisationsformen waren, den Namen Arbeiterkommissionen, wie auch einige Jahre später im benachbarten Portugal. In Italien, in dem sich radikale Aktivisten schon früh an Spanien orientierten, nannten sich die insbesondere 1968 nahezu überall entstehenden Gruppierungen "einheitliche Basiskomitees", in Frankreich und im wallonischen Teil Belgiens "Streikkomitees", in Flandern "Arbeiterkomitees".
Neue Organisationsformen wie diese trieben die Dynamik in Richtung eigenständiger proletarischer Aktionen voran und erfassten auch und gerade die in Nordeuropa oft eher zögerlich handelnden Angestellten, wie z.B. die Bankangestellten, eine im Mittelmeerraum oft besonders militante Gruppe. Eine herausragende Rolle bei der fortschreitenden Radikalisierung der Arbeiter spielte nach 1968, gestützt auf die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils, der linkskatholische Flügel der Arbeiterschaft. Ja, linkskatholische Einflüsse prägten geradezu die ihrem Höhepunkt zustrebende Neue Linke in Südeuropa. Linkskatholisch beeinflusste Gewerkschaftsverbände waren fast überall den neuen Formen sozialer Konfliktaustragung gegenüber weitaus aufgeschlossener als ihre kommunistisch geprägten Konkurrenten. Forderungen nach Arbeiterkontrolle, Arbeiterselbstverwaltung und Arbeitermacht schlechthin wurden bald zu Allgemeinplätzen proletarischer Streikkultur.
Die Welle von Betriebsbesetzungen, die ab Mitte Mai 1968 das gaullistische Frankreich erschütterte, war dabei nur ein Vorgeschmack. Im Mai und Juni kam es zu einer breiten Welle von Besetzungsaktionen, in deren Verlauf die jeweilige Managerelite ihre Machtlosigkeit erfahren musste und bisweilen wochenlang in den "goldenen Käfigen" der Chefetagen ihrer jeweiligen Betriebe quasi inhaftiert war. Doch gab es 1968 noch keine ernsthaften Versuche, die vielerorts propagierte Arbeiterselbstverwaltung konkret umzusetzen.
Arbeiterselbstverwaltung
Dazu kam es erst im Laufe der frühen 1970er Jahre. Eine Schlüsselstellung nimmt hier die in Selbstverwaltung produzierende Uhrenfabrik LIP bei Besançon in Ostfrankreich ein. Von Mitte Juni 1973 bis Ende Januar 1974 fand dort unter dem Motto "Es ist möglich! Wir produzieren für uns selbst; wir verkaufen unsere Produkte selbst; und wir bezahlen uns selbst!" das international am meisten Aufsehen erregende Arbeiterselbstverwaltungsexperiment statt. Und eine europaweite Welle der Solidarisierung mit den zwölfhundert Arbeitern und Angestellten machten LIP zu einem Symbol für die Hoffnung einer ganzen Generation von 68er-Aktivisten.
Das Beispiel von LIP fand in Frankreich selber, aber auch in benachbarten Ländern ein positives Echo. In Frankreich war bald die Rede von den "Kindern von LIP", einer Reihe gleichgerichteter Initiativen, Arbeiterselbstverwaltung aus dem Bereich der Wunschträume in die Wirklichkeit zu überführen.
Waren Betriebsbesetzungen und Produktionswiederaufnahme in eigener Regie auch die sicherlich medienträchtigsten und aufsehenerregendsten Aspekte proletarischer Selbstorganisation in den auf 1968 folgenden Jahren, wird man einräumen müssen, dass derartige Vorgehensweisen den jeweiligen Akteuren geradezu aufgezwungen wurden und keinesfalls als offensive Strategie der Machteroberung konzipiert worden waren. Sowohl der Arbeitskampf bei LIP als auch die Arbeiterselbstverwaltungsexperimente in der portugiesischen Industrie enstanden als Reaktion auf drohende Betriebsschließungen und resultierten aus einer Position der Schwäche. Lediglich die flächendeckenden Kollektivierungsbemühungen in der portugiesischen Landwirtschaft sind das Ergebnis eines offensiven, aus einer Position der Stärke heraus entwickelten Vorgehens.
Das Beispiel Italien
Das für die europäische Industriearbeiterschaft bemerkenswerteste Erlebnis eines individuellen und kollektiven Bewusstwerdungsprozesses fand in einem Land statt, in dem es - auf den ersten Blick paradoxerweise - weder Betriebsbesetzungen noch Versuche der Arbeiterselbstverwaltung in nennenswertem Ausmaß gab: Italien. Wo es zu Betriebsbesetzungen kam, geschah dies auch hier fast immer aus einer defensiven Haltung heraus. Zudem waren derartige Experimente nur selten von Erfolg gekrönt. In Italien, dem Kronjuwel des europäischen "proletarischen Mai", äußerte sich der Geist von 1968 auf eine völlig andere Weise.
Wie bereits erwähnt, kam es im Laufe des Jahres 1968 zur Herausbildung von einheitlichen Basiskomitees (CUB), wie sie sich im spanischen Untergrund seit einigen Jahren herausgebildet hatten. Diese Basiskomitees mutierten im Laufe von 1969 zu einem nahezu landesweiten System von Fabrikdelegierten. Diese wurden seit 1970 von so genannten Fabrikräten abgelöst, die nominell in gewerkschaftliche Strukturen integriert waren. Doch führte diese Vereinnahmung ursprünglich außergewerkschaftlich inspirierter und tätiger Strukturen - einheitliche Basiskomitees, Fabrikdelegierte - in gewerkschaftliche Zusammenhänge - Fabrikräte - keinesfalls zu einer Moderierung der proletarischen Kampfformen. Im Gegenteil: Der Geist kämpferischer Auseinandersetzungen durchdrang bald alle drei Gewerkschaftsdachverbände. Die Aktions- und Organisationsform der Fabrikräte transformierte insbesonders die bedeutsamen Metallarbeiterverbände der drei großen Konföderationen zu einer vereinten Institution, die das organisatorische Know-how und Durchhaltevermögen der traditionellen Gewerkschaften mit dem flexiblen und innovativen Anpassungsvermögen der auf direkter Demokratie basierenden Arbeiterkommissionen Spaniens verband.
War das Jahr 1968 in Italien anfangs noch von studentischen Unruhen charakterisiert, so wurde im Laufe desselben Jahres der Arbeiter-Widerstand zum wichtigsten Faktor sozialer Auseinandersetzungen in Italien. Der "heiße Herbst" 1969 ließ alle anderen Triebkräfte in den Hintergrund treten. Arbeiter begannen ihre Angst gegenüber Vorarbeitern, leitenden Angestellten und anderen Repräsentanten bisheriger betrieblicher Macht zu verlieren. Eigenmächtige Reduzierungen des Fließbandtempos wurden zu beliebten Taktiken italienischer Arbeiter auch und gerade in den Hochburgen norditalienischer Massenproduktion. Ein Augenzeugenbericht in der Zeitschrift "Il Manifesto" unterstreicht diesen Prozess: "Die Fabrik funktioniert weiterhin mit der Regelmäßigkeit einer Uhr, aber das Ticken verläuft in größeren zeitlichen Abständen; die Langsamkeit des neuen Rhythmus ärgert die Bosse ungemein, die gegen die Regellosigkeit dieser Kampfmaßnahmen protestieren. Für die Arbeiter bedeutet dies natürlich die Bewusstwerdung ihrer eigenen Kraft, und sie lernen, wie man die kleinen und die großen Chefs nach dem Rhythmus dieser neuen Musik tanzen lässt."
Eine radikalisierende Dynamik ergriff die Arbeiterschaft Italiens, die durch den Titel des epischen Romans von Nanni Balestrini, Vogliamo Tutto (Wir Wollen Alles) verdeutlicht wird, eine Erzählung, die der rapiden Bewusstwerdung eines süditalienischen Migranten in der Hochburg der italienischen Großindustrie - aber auch des Arbeiterwiderstandes - in den FIAT-Mirafiori Werken Turins auf eindrucksvolle Weise Ausdruck verleiht.
Kollektive und individuelle Befreiung
Und in der Tat lag die vielleicht wichtigste Errungenschaft des proletarischen Mai genau in dieser psychologischen und sozio-psychologischen Veränderung, die einer bisher fast immer in subalternen Positionen gehaltenen Arbeiterschaft dazu verhalfen, ihre Wünsche selber zu formulieren, selbstbestimmtes Denken zu lernen und ihre Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. In seinen Reflektionen über die Ereignisse des Mai 1968 beschreibt der linkskatholische Anthropologe Michel de Certeau den Vorgang der, wie er es nannte, "Wortergreifung" (prise de parole) bisher von den Schaltstellen gesellschaftlicher Macht ferngehaltenen Bevölkerungsteile: "Im Mai wurde das Wort erobert, genauso wie 1789 die Bastille erstürmt wurde."
"Die allerersten Umzüge waren eine wahnsinnige Sache. Diese Angst, den Arbeitsplatz ohne Erlaubnis zu verlassen. Nach fünfzehn, zwanzig Jahren unter der Knute von Valletta, diesem medaillengeschmückten Boss, der uns immer terrorisiert hatte. Wir beobachteten diese zehn, fünfzehn, zwanzig Kollegen, die laut rufend den Korridor entlang liefen, und wir hatten Angst, das Fließband zu verlassen. Aber dann reihten wir uns ein. Als wir unsere Abteilung verließen, waren wir nicht mehr zwanzig sondern schon fünfzig."
"Mir ging's heiß durch den Kopf: Vielleicht ist unsere Zeit gekommen. Vielleicht können wir jetzt alles wettmachen. Vielleicht haben wir doch die richtige Entscheidung getroffen, als wir hierher in den Norden kamen. Ich schwör's: ich wollte anfangen zu sprechen, aber ich konnt's einfach nicht. Das Ganze erinnerte mich an die Feiern, die 1945 von den Partisanen nach der Befreiung eines Ortes veranstaltet wurden."
"Wir waren so, wie die in Käfigen aufgezogenen Vögel, die, wenn man sie freilässt, damit sie wegfliegen können, nicht mehr wissen, wie man fliegt. Ich war darüber zutiefst niedergeschlagen. Ich sagte mir: Verdammt nochmal! Wir wissen nicht mehr, wie wir unser Gehirn gebrauchen können, da irgendetwas unser Hirn blockiert.` Dann, auf einmal, 1969, fing unser Gehirn wieder zu funktionieren an. Wir brachen aus dem Käfig aus, und wir fingen wieder an, fliegen zu lernen."
Wer trotz allem die 68er-Bewegung als einen rein universitären Mittelschichtenprotest anzusehen pflegt, sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Oder, wie hieß es doch so schön auf einem 68er-Graffito an der Pariser Hochschule für Musik: "Wenn der Finger auf den Mond deutet - Schaut der Idiot auf den Finger (Chinesisches Sprichwort)."
Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 14-15/2008)