Wie hier den Kurfürstendamm in Westberlin eroberten Studenten 1968 in zahlreichen europäischen Städten die Straßen.Die Studentenproteste von 1968 liegen 40 Jahre zurück, die Generation der damaligen Aktivisten steht an der Schwelle zum Rentenalter. Die nationalen Medien in Europa nutzen den Jahrestag für eine Bestandsaufnahme und Neubewertung der Ereignisse.
"Der Mai 68 wird nicht mehr, wie bislang üblich, als ein plötzlich und aus heiterem Himmel sich entladendes Gewitter gedeutet, sondern als Epizentrum gesellschaftlicher Veränderungen gesehen, die in einer Zeitspanne von rund zwei Jahrzehnten abliefen", konstatierte Johannes Willms in der Süddeutschen vom 5. März 2008. Er spricht von einer einsetzenden Historisierung. Doch von einer rein wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist die Debatte weit entfernt, denn viele damalige Akteure spielen weiterhin eine große Rolle - mit ihrer Erinnerung, Verklärung oder Verdammung der eigenen Geschichte.
Der polnische März
Er entzündete sich an der Absetzung des Theaterstücks "Die Totenfeier" von Adam Mickiewicz und mündete in der Forderung nach freier Meinungsäußerung und mehr Demokratie. "Anders als im Westen spielte der Generationenkonflikt 1968 in Polen nur eine untergeordnete Rolle. Schriftsteller und Wissenschaftler schlossen sich aus Zorn über die offizielle Zensur gegenüber Mickiewicz' Stück und ihrer nationalen Kultur dem Protest der Jungen an", analysierte der ehemalige stellvertretende Chefredakteur der polnischen Zeitung Rzeczpospolita, Jan Skórzynski, in einem Essay für Projekt Syndicate im März 2008.
Die polnische Regierung reagierte auf die Proteste mit einer antisemitischen Kampagne, in deren Folge bis zu 15.000 Polen jüdischer Abstammung ausgebürgert oder zur Ausreise gezwungen wurden. Dieser Vorgang beschäftigt die polnische Öffentlichkeit 40 Jahre später besonders, zumal die Frage nach einem polnischen Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg bereits durch die Veröffentlichung von Jan Tomasz Gross' Buch "Die Angst" aufgeworfen und hitzig debattiert wurde.
Mit Blick auf die antisemitische Kampagne im März 1968 betonte der polnische Historiker Paweł Machcewicz am 8. März 2008 im Dziennik, man könne nicht die Sowjetunion für die Hetzkampagne verantwortlich machen. "Die antizionistische Kampagne im Jahr 1968 war autonom. Es gibt keine Beweise, dass Moskau Form oder Intensität vorschrieb."
Viele der damaligen Opfer nahmen den 40. Jahrestag zum Anlass, um ihre Wiedereinbürgerung und eine Entschuldigung von der heutigen polnischen Regierung zu fordern.
Der Prager Frühling
Mehr als der kurze polnische März 1968, der im übrigen Europa kaum wahrgenommen wurde, war der Prager Frühling für viele Europäer - besonders östlich des Eisernen Vorhangs - ein Fixpunkt. "Das, was in der Tschechoslowakei passierte, hätte man sich eben auch für die DDR gewünscht", erinnerte sich die heutige deutsche Bundeskanzlerin und damalige DDR-Bürgerin Angela Merkel im SZ-Magazin vom 29. Februar 2008.
Ein Student steht auf einem sowjetischen Panzer und hält die tschechische Fahne hoch. Bei der Niederschlagung des "Prager Frühlings" verlieren 72 Menschen ihr Leben, mehr als 200 werden verletzt. (© AP )
Mehr als der kurze polnische März 1968, der im übrigen Europa kaum wahrgenommen wurde, war der Prager Frühling für viele Europäer - besonders östlich des Eisernen Vorhangs - ein Fixpunkt. "Das, was in der Tschechoslowakei passierte, hätte man sich eben auch für die DDR gewünscht", erinnerte sich die heutige deutsche Bundeskanzlerin und damalige DDR-Bürgerin Angela Merkel im SZ-Magazin vom 29. Februar 2008.
Ein Student steht auf einem sowjetischen Panzer und hält die tschechische Fahne hoch. Bei der Niederschlagung des "Prager Frühlings" verlieren 72 Menschen ihr Leben, mehr als 200 werden verletzt. (© AP )
Eine Öffnung des realen Sozialismus nämlich, wie es die kommunistische Parteiführung unter Alexander Dubček 1968 in der Tschechoslowakei versuchte. Sie wollte einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" schaffen, was freie Meinungsäußerung und alternative Lebensentwürfe einschloss. "Es war nicht zu überhören, was die neue Ausrichtung implizierte: Der vorherige Sozialismus hatte ein Monstergesicht gehabt", erläuterte die slowakische Schriftstellerin Irena Brezna am 29. Februar in der Neuen Zürcher Zeitung. "Während bei den westlichen Linken der 'Prager Frühling' zukunftsorientiert als 'dritter Weg' wahrgenommen wurde, als Verheißung einer gerechten Gesellschaft, war das Tauwetter für mich rückwärts- und gegenwartsgerichtet, als Entlarvung der kommunistischen Verbrechen, und darin lag seine Menschlichkeit."
Das Experiment des "dritten Weges" wird heute in Tschechien und der Slowakei als gescheitert betrachtet, beendet durch den sowjetischen Einmarsch im August 1968 und abgelöst durch die Entscheidung für das westliche Demokratiemodell nach 1989.
"Erschwert wird die Auseinandersetzung über 1968 heute auch dadurch, dass die herrschenden Konservativen das Ereignis als 'bloßen Machtkampf innerhalb der damaligen KP-Führung' abtun. Gezielt. Es soll niemand auf die Idee kommen, sich der Ideale und Werte von damals etwas genauer zu erinnern", erklärte Tschechien-Korrespondent Hans-Jörg Schmidt am 9. März 2008 in der österreichischen Presse.
Der Mai 68 in Paris
Viel geschrieben und gestritten über die Ereignisse von 1968 wird hingegen in Frankreich und Deutschland. "Die Erinnerung an den 40. Jahrestag des Mai 68 wird gnadenlos und alles erdrückend zum Medienereignis des Jahres in Frankreich, das bereits mit einer Lawine von Tagungen, Büchern und Lexika begonnen hat", schrieb der französische Philosoph Pascal Bruckner im belgischen Le Soir am 14. März 2008. Und das, obwohl Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy im Wahlkampf vergangenes Jahr einen Bruch mit den Achtundsechzigern zum Programm gemacht hatte.
Die 68er-Proteste in Frankreich konzentrieren sich auf den Mai, auf Studentendemonstrationen folgten die legendären Barrikadenkämpfe im Pariser Quartier Latin. In Paris bauen die Studenten Barrikaden auf und liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Anders als in Deutschland solidarisieren sich auch die Arbeiter mit dem Protest der Studenten und rufen zu einem Generalstreik auf. (© AP)
Viel geschrieben und gestritten über die Ereignisse von 1968 wird hingegen in Frankreich und Deutschland. "Die Erinnerung an den 40. Jahrestag des Mai 68 wird gnadenlos und alles erdrückend zum Medienereignis des Jahres in Frankreich, das bereits mit einer Lawine von Tagungen, Büchern und Lexika begonnen hat", schrieb der französische Philosoph Pascal Bruckner im belgischen Le Soir am 14. März 2008. Und das, obwohl Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy im Wahlkampf vergangenes Jahr einen Bruch mit den Achtundsechzigern zum Programm gemacht hatte.
Die 68er-Proteste in Frankreich konzentrieren sich auf den Mai, auf Studentendemonstrationen folgten die legendären Barrikadenkämpfe im Pariser Quartier Latin. In Paris bauen die Studenten Barrikaden auf und liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Anders als in Deutschland solidarisieren sich auch die Arbeiter mit dem Protest der Studenten und rufen zu einem Generalstreik auf. (© AP)
John Lichfield beschrieb im Independent vom 23. Februar 2008 das Besondere der französischen Ereignisse: "In keinem anderen Land hat eine Studentenrebellion beinahe die Regierung zu Fall gebracht. In keinem anderen Land hat eine Studentenrebellion zu einem Arbeiteraufstand geführt, der von unten kam und die paternalistische Gewerkschaftsführung ebenso überwältigte wie die paternalistische, konservative Regierung."
Die Folgen des Mai 68 werden in Frankreich ganz unterschiedlich beurteilt. Während manche Franzosen die Aktivisten von damals verantwortlich machen für gesellschaftlichen und moralischen Verfall, sehen andere in den Protagonisten des Mai 68 den Ursprung aller Bewegungen und ziehen eine Linie von damals zu den späteren Aufstände in der Banlieue oder aktuellen Schüler- und Studentenprotesten.
Der französische Philosoph André Glucksmann widersprach in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung am 17. Februar 2008 dieser Zuschreibung: "Nichts ist unsinniger als zu behaupten: Die 68er Generation hat etwas Relevantes getan. 'Die Generation '68 existierte genau drei Wochen, sie hat sich dann zerstreut. Es war eine kurze Erhellung über das 20. Jahrhundert. Mehr nicht... Der Mai ´68 ist weder der Grund unseres heutigen Glücks noch unseres Unglücks."
Deutschlands Achtundsechziger und die Nationalsozialisten
Auch in Deutschland sind zum 40. Jahrestag ein halbes Dutzend Bücher über das Jahr 1968 erschienen, Ausstellungen und Dokumentationen werden überall gezeigt. Für großes Aufsehen sorgte der Historiker - und damalige Aktivist - Götz Aly mit seinem Buch "Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück". Aly vertritt die These, die Achtundsechziger seien ihren Nazi-Eltern ähnlicher gewesen, als ihnen lieb sei. Sie seien dem Massenmörder Mao hinterher gelaufen, hätten vereinfachend "USA-SA-SS" gebrüllt und sich nicht für die großen Prozesse gegen die Nazis interessiert.
Dagegen betonte der Historiker Norbert Frei, gerade das kritische Verhältnis zur Schuld der Nationalsozialisten sei das besondere Kennzeichen der deutschen Achtundsechziger gewesen: "In der vergangenheitspolitischen Landschaft der Bundesrepublik hingegen stand, ausgesprochen oder nicht, der Mord an den europäischen Juden wie ein Gebirge der Schuld. Dessen Unermesslichkeit empfanden vor allem die Jungen", schrieb er am 11. März 2008 in der Neuen Zürcher Zeitung.
"Überkommentiert und untererforscht" sei das deutsche '68, meint Frei, der selbst in diesem Frühjahr das Buch "1968, Jugendrevolte und globaler Protest" vorgelegt hat. Als einer der wenigen stellt er die deutschen Ereignisse in einen internationalen Kontext und beschreibt das Jahr 1968 in den USA, West- und Osteuropa.
Reform versus Unterdrückung
Vereinzelt wurden die unterschiedlichen nationalen Ereignisse des Jahres 1968 doch in einen Zusammenhang gebracht - meist unter Betonung der Unterschiede zwischen Ost- und Westeuropa.
In Paris herrschten 1968 fast bürgerkriegsähnliche Zustände. Entsprechend heftig wird in Frankreich noch heute über '68 gestritten. (© AP)
Vereinzelt wurden die unterschiedlichen nationalen Ereignisse des Jahres 1968 doch in einen Zusammenhang gebracht - meist unter Betonung der Unterschiede zwischen Ost- und Westeuropa.
In Paris herrschten 1968 fast bürgerkriegsähnliche Zustände. Entsprechend heftig wird in Frankreich noch heute über '68 gestritten. (© AP)
Georges Mink beschrieb diese Unterschiede in der französischen Zeitung Le Monde am 4. Januar 2008: "Auf der einen Seite ging es darum, aus dem System sowjetischen Typs auszubrechen, das viele Charakteristika des Totalitarismus aufwies. Auf der anderen Seite verlangte die Masse 'einfach' die Entblockierung des existierenden demokratischen Systems, das in der Routine eingekapselt und ohne Vorstellungskraft war - und konnte sich auch durchsetzen(!). So lässt sich auch der Unterschied in der Reaktion der beiden Regime ermessen: die Demokratie reformiert sich selbst, während das autoritäre System sowjetischen Typs mit dem Ersticken aller Veränderungswünsche antwortet."
Besonders deutlich wurden die Unterschiede in der Protesthaltung im damals geteilten Deutschland. In Ostberlin orientierte man sich weniger an Westberlin, sondern an den Ereignissen in Prag, wie sich der Schriftsteller Rolf Schneider in der Welt vom 12. Februar 2008 erinnerte. "Vor diesem Hintergrund erschienen uns die über das Fernsehen verfolgbaren Aufmärsche in Westdeutschland, wo man mit roten Tüchern und dem Ruf nach Rätedemokratie auf den Straßen umherlief, irrelevant, kindisch und unendlich weit weg."
Ähnlich erinnerte sich Angela Merkel und resümierte: "Die einen wollten den Sozialismus aufbrechen und menschlicher machen, hatten aber keine Abneigung gegen die soziale Marktwirtschaft. Und die anderen kamen aus der Marktwirtschaft und haben den Sozialismus verherrlicht. Eigentlich waren diese Bewegungen gegenläufig und trotzdem waren sie in manchem gleich."
Erweiterung der Freiheit
Worin sich die Bewegungen glichen, versuchte Ernst Hanisch in der österreichischen Presse vom 7. März 2008 durch eine "exaktere Begriffsbestimmung" zu beschreiben. "Die 68er-Bewegung war eine Jugendbewegung (führend die Studenten), die eine neue Welt, eine neue Gesellschaft schaffen wollte." Jenseits der ideologischen Auseinandersetzungen in Ost- und Westeuropa war für diese Bewegungen seiner Auffassung nach charakteristisch: "Die spielerischen Regelverletzungen innerhalb einer noch stark von der Untertanenmentalität bestimmten politischen Kultur erweiterten den Raum der Freiheit. Die Zivilgesellschaft wurde stärker. Ein neues Lebensgefühl breitete sich aus."
Dieses neue Lebensgefühl fand seinen Ausdruck in Musik und Kunst, in der Befreiung der Sexualität und in unkonventioneller Kleidung. 1968 war in erster Linie eine kulturelle und sexuelle Revolution, und erst in zweiter Linie eine politische, meinte Lichfield. "In Frankreich waren sechs Wochen Chaos nötig, um graue Hosen gegen lilane zu tauschen, um von der sozialen und sexuellen Unterdrückung der 1950er Jahre zur sozialen und sexuellen Freiheit der 1970er (und folgende) überzugehen."
Für Cohn-Bendit haben diese Gemeinsamkeiten wohl weit darüber hinaus geführt. In einem Interview mit Café Babel vom 23. Januar 2008 sagte er: "1968 war immerhin eine europäische Bewegung. Sie hat andere Beweggründe gehabt, aber es gab sie vielerorts in Europa. Und dieses antiautoritäre Rebellieren hat in ganz Europa eine neue Gesellschaftsform bewirkt. Heute ist man auf dem Weg zu einer gemeinsamen Identität."