Ein Gewimmel von Reminiszenzen, Allegorien, Selbsttäuschungen, Verallgemeinerungen und Projektionen hat sich an die Stelle dessen gesetzt, was in diesem atemlosen Jahr passiert ist. Die Erfahrungen liegen begraben unter dem Misthaufen der Medien, des 'Archivmaterials' – einer Wirklichkeit, die unter der Hand unvorstellbar geworden ist. Mein Gedächtnis, dieser chaotische, delirierende Regisseur, liefert einen absurden Film ab, dessen Sequenzen nicht zueinander passen. Vieles ist mit wackelnder Handkamera aufgenommen. Die meisten Akteure erkenne ich nicht wieder. Je länger ich mir das Material ansehe, desto weniger begreife ich. Es war nicht möglich, das alles gleichzeitig zu verstehen. Hans Magnus Enzensberger
Zu den wichtigsten Austragungsorten dieser vermeintlichen 'Weltrevolution' zählten, laut Wolfgang Kraushaar: "Der Pariser Mai, dessen Euphorie wie ein romantisches Traumgebilde ebenso rasch wieder in sich zusammenfiel, wie es sich herausgebildet hatte, der Prager Frühling, der in seiner Bedeutung erst richtig erkannt worden ist, als er von den sowjetischen Panzern bereits niedergewalzt wurde, der Aufstand der Schwarzen in den USA, deren nach Waffen rufende Protagonisten sich vor allem nach der Ermordung Martin Luther Kings bestätigt fühlten, die Proteste der mexikanischen Studenten gegen die korrupte Staatspartei, die im Oktober kurz vor der Eröffnung der Olympischen Spiele auf so brutale Weise erstickt wurde, aber auch der Internationale Vietnam- Kongress in Berlin."
Der damalige amerikanische Präsident Lyndon B. Johnson argwöhnte angesichts der weltweiten Proteste, das Aufbegehren könne von zentraler feindlicher Stelle gesteuert sein. Er beauftragte die CIA damit, die Organisation und Finanzierung der Proteste aus dem Ausland aufzuklären. Doch sein Geheimdienst konnte ihm nicht helfen: Die Proteste seien hausgemacht. Die Kumulationen des Jahres 1968 sind sicher nicht Ausdruck einer zentral gesteuerten kommunistischen Weltverschwörung, vielmehr konvergierten hier ganz unterschiedliche soziokulturelle Prozesse. Zwar gab es sporadische Versuche, die Ereignisse bewusst zu synchronisieren: So demonstrierten die amerikanischen Studenten immer am 15. jedes Monats, dieser jour fixe wurde dann von Studierenden bis nach Kairo übernommen. Aber trotz solcher Indizien einer Kooperation und Koordination halten ehemalige Akteure wie der einstige Vorsitzende des deutschen SDS und bekennende Internationalist KD Wolff ebenso wie die Autoren Wolfgang Kraushaar oder der amerikanische Historiker Mark Kurlansky die Synchronizität der Ereignisse für eher zufällig: "Die Rebellion war weder geplant noch organisiert. Sie wurden mittels hastig einberufener Zusammenkünfte gesteuert; einige der wichtigsten Entscheidungen fielen aus der Laune des Augenblicks heraus."
David gegen Goliath
Einer der Fluchtpunkte des international synchronisierten Aufbegehrens lag in der Herausforderung der 'Hegemonialmacht' USA. Che Guevara hat in seiner berühmten "Botschaft an die Völker der Welt" die USA zur Zielscheibe eines militanten Internationalismus gemacht: "Unsere ganze Aktion ist eine Kriegsansage gegen den Imperialismus und ein Ruf nach der Einheit der Völker gegen den großen Feind des Menschengeschlechts: die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam."
1968 gehen Polizisten in Chicago mit Knüppeln gegen Anti-Vietnamkriegsdemonstranten vor. Diese Szenen wurden per Satellit weltweit ausgestrahlt und steigerten den Protest zur internationalen Bewegung. (© AP)
1968 gehen Polizisten in Chicago mit Knüppeln gegen Anti-Vietnamkriegsdemonstranten vor. Diese Szenen wurden per Satellit weltweit ausgestrahlt und steigerten den Protest zur internationalen Bewegung. (© AP)
Anders die Black Panther Bewegung, die sich ab 1966 unter der Ägide des New Yorker Aktivisten Stokely Carmichael formierte und nach der Ermordung Kings am 4. April 1968
Mark Kurlansky nennt die Ereignisse darum sardonisch einen jener Momente der "Fernsehmagie" des Jahres 1968.
Als in der so genannten Tet-Offensive die Vietcong-Truppen einen Vorstoß auf die US-Botschaft in Saigon machten und damit den Wendepunkt des Kriegsgeschehens markierten, schlug zugleich in der breiten amerikanischen Bevölkerung und in der Welt die Stimmung vollends gegen den 'imperialistischen' Krieg der Supermacht um. Unter dem weltweiten Druck kündigte Johnson an, kein weiteres Mal für das Präsidentenamt zu kandidieren. Woodstock Nation, das 'andere' Amerika der Subkultur, wie es so unnachahmlich in Jimi Hendrix' legendärem Gitarren-Solo in Woodstock zum Ausdruck gekommen war,
Persönliche Transfers
Herbert Marcuse gehörte mit seiner Schrift "Der eindimensionale Mensch" (1964) zu den einflussreichsten Theoretikern der New Left. In einem Interview gab sich der Philosoph der "Großen Verweigerung" angesichts der weltweiten Ereignisse optimistisch, die Revolution könne von Kräften außerhalb der Arbeiterklasse hervorgebracht werden. Die Ereignisse hätten "einen qualitativ neuen Typus menschlicher Wesen" hervorgebracht: "Es war eine der beglückendsten Erfahrungen meines Lebens zu beobachten, dass die Studentenbewegung eine internationale Bewegung ist, die sich ohne feste Organisationsformen entwickelt hat und ständig weiter entwickelt.
Anders ausgedrückt, es gibt so etwas wie Solidarität, so etwas wie Übereinstimmung in den Zielen und das ohne die traditionellen Formen der Organisation. Ich sah eine Bewegung, die den neuen Menschen nicht erst nach der Revolution erhofft. Das ist meiner Meinung nach einer der hoffnungsvollsten Aspekte in der gegenwärtigen Situation."
Mario Savio wurde, später unterstützt durch die Folksängerin Joan Baez, zum Sprecher der Studenten an der Universität Berkely, Kalifornien. Hier versammelten sich im Dezember 1964 6000 Studenten zu einem Sit-in. (© AP)
Mario Savio wurde, später unterstützt durch die Folksängerin Joan Baez, zum Sprecher der Studenten an der Universität Berkely, Kalifornien. Hier versammelten sich im Dezember 1964 6000 Studenten zu einem Sit-in. (© AP)
Auch in den USA hatte die Revolte eine Basis an den Universitäten. Bereits im Juni 1962 kam ein kleiner Kreis von Aktivisten des US-amerikanischen SDS in Port Huron in Michigan zusammen, um im berühmten "Port Huron Statement" die Gefühle und Perspektiven ihrer Generation zu formulieren. Die bemerkenswerte Erklärung begann mit den Worten: "Wir sind Menschen dieser Generation, aufgewachsen in zumindest bescheidenem Komfort, sitzen an den Universitäten und schauen voller Unbehagen auf die Welt, die wir erben."
John Lennon und Yoko Ono bei ihrem "Bed In" 1969 in Amsterdam. Das frischverheiratete Paar demonstrierte so für den Frieden (© AP)
John Lennon und Yoko Ono bei ihrem "Bed In" 1969 in Amsterdam. Das frischverheiratete Paar demonstrierte so für den Frieden (© AP)
Etwa zeitgleich wurden in San Francisco das Love-In, das Bed-In und das Smoke-In kreiert, die der politischen Selbstaufklärung den hedonistischeren Unterton der Selbstverwirklichung beimischten. Die aufblühende Subkultur der Hippies erwies sich als äußerst fantasiereich, ihre Neuschöpfungen, massenmedial vermarktet, gingen rasch um die Welt.
Selbst diese Spannung zwischen den unterschiedlichen Fraktionen setzte sich in Deutschland fort. Einerseits sprach Rudi Dutschke den Protagonisten der amerikanischen Subkultur für die internationale Bewegung eine geradezu kanonische Autorität zu: "Die prägende Literatur ist jetzt die Underground- Literatur, sind die Reden von Malcom X, die Songs der Rolling Stones und von Aretha Franklin."
Der Vietnam-Kongress in Berlin und der APO -Apostel
Auch die deutschen Studenten weigerten sich, Vietnam als fernes Geschehen zu begreifen, bloß zuzuschauen und sich zum "Komplizen" (H. M. Enzensberger) machen zu lassen. Den größten Coup landete man im Februar 1968, als der SDS in West-Berlin den Internationalen Vietnam-Kongress organisierte und damit den Protest gegen den Krieg in eine Massenbewegung überführte. Führende Vertreter internationaler Studentenverbände fanden sich ein: Aus Frankreich kamen die Trotzkisten Alain Krivine und Daniel Bensaїd sowie Daniel Cohn-Bendit von der anarchistischen Gruppe LEA (Liaison des Etudiants Anarchistes). Aus Großbritannien reiste der Aktivist Tariq Ali an, einstmals Vorsitzender des berühmten Debattierklubs Oxford Union, und mit ihm Robin Blackburn von der New Left Review. Mit Bernadine Dohrn hatte auch der amerikanische SDS eine Vertreterin geschickt. Rudi Dutschke hielt das Hauptreferat.
In diesem einflussreichen Statement wird deutlich, dass die Globalisierung durchaus keine Perspektive ist, die nachträglich an das Geschehen von 1968 herangetragen wird. Für den Chefanalytiker der Bewegung war sie vielmehr ein konstitutives Element der Umwälzungsprozesse. Dutschke hob an in der feierlichen Diktion dessen, der sich bewusst ist, gerade 'Geschichte zu machen': "Jede radikale Opposition gegen das bestehendeSystem, das uns mit allen Mitteln daran hindern will, Verhältnisse einzuführen, unter denen die Menschen ein schöpferisches Leben ohne Krieg, Hunger und repressive Arbeit führen können, muss heute notwendigerweise global sein. Diese Globalisierung der revolutionären Kräfte ist die wichtigste Aufgabe der ganzen historischen Periode, in der wir heute leben und in der wir an der menschlichen Emanzipation arbeiten. [...] In den weltweiten Demonstrationen liegt in einem antizipatorischen Sinne so etwas wie eine revolutionäre Globalstrategie."
Die Antikriegsbewegung war in ganz Europa gut organisiert. 1966 führte die Schauspielerin Vanessa Redgrave eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg in London an. (© AP)
Die Antikriegsbewegung war in ganz Europa gut organisiert. 1966 führte die Schauspielerin Vanessa Redgrave eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg in London an. (© AP)
Das Ende der Rede des Apo-Apostels ist – unter der Berufung auf den algerischen Befreiungstheoretiker Frantz Fanon – beseelt von einer revolutionären 'Nah-Erwartung': "Genossen! Wir haben nicht mehr viel Zeit. In Vietnam werden auch wir tagtäglich zerschlagen, und das ist nicht ein Bild und keine Phrase."
Mick Jagger war Teilnehmer dieser Demonstration, die er in seinem Song "Street-Fighting Man" besungen hat. Für den politischen Denker Dutschke blieb jede Kritik an der kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft unvollständig, solange sie nicht 'dialektisch' mit den revolutionären Bewegungen in der Dritten Welt verbunden würde. Unmissverständlich stellte er fest: "Ein marxistischer Sozialist ist Internationalist und treibt internationale Analyse."
Che Guevara, Pantokrator der Weltrevolution
Che Guevara wurde zu einer Ikone der 68er Bewegung. (© AP)
Che Guevara wurde zu einer Ikone der 68er Bewegung. (© AP)
Spätestens als am 2. Januar 1959 das diktatorische Batista-Regime Kubas gestürzt wurde und die Guerilleros unter Fidel Castro und dem Argentinier und Wahl-Kubaner Che Guevara in Havanna einzogen, war für eine sich in aller Welt formierende Neue Linke das role model eines befreiten, revolutionären Sozialismus geboren. Ihr Sieg über den Diktator stieß weltweit auf Anerkennung und Sympathie, weil er die Logik des Kalten Krieges zu durchbrechen schien: Kein von Moskau manipulierter Staatsstreich wie in Prag und Budapest war das gewesen, sondern ein spontaner Volksaufstand. Anders als die Greise im Kreml oder im Ostberliner Politbüro hatten Kubas Revolutionäre alles, was ein gutes Image braucht: Jugend und Sex-Appeal. Castro ernannte Che Guevara zunächst zum Leiter der Nationalbank und hob ihn schließlich 1961 in den Posten des Ministers der Industrie. 1963 wurde Guevara kubanischer Industrieminister. In dieser Eigenschaft kritisierte er öffentlich die Sowjetunion wegen "imperialistischer" Methoden und, so nimmt man heute an, musste daraufhin zurücktreten. Der Mythos des Freiheitshelden, der Amt und Würden aufgibt, um Revolution zu machen, ist also nur bedingt haltbar. Jedenfalls ging Guevara nach Bolivien, um dort – begleitet von einigen arbeitslosen Bergarbeitern – die revolutionären Ereignisse von Kuba zu wiederholen. Aber statt zum Revolutionär wurde er hier zum Desperado, gefangen genommen und ohne Gerichtsurteil erschossen. Die bolivianischen Militärs bahrten ihn in einer Dorfschule auf und fotografierten sich mit ihm. Die Bilder seiner von Kugeln durchbohrten Leiche gingen als Beweis um die Welt: Der Mann, den Sartre als den einzigen wirklich "authentischen" Menschen des 20. Jahrhunderts bezeichnet hatte, war tot.
Aber mit diesem Toten hatte die Bewegung zugleich ihren wichtigsten 'Märtyrer' gewonnen. Das Bild, in dem Che Guevara gewissermaßen seine 'Auferstehung' feierte, wurde zur vielleicht wichtigsten Ikone der Revolution: El Comandante, den Blick fest auf ein Ziel gerichtet, über der Stirn die Baskenmütze mit dem fünfzackigen Stern. Dieser Schnappschuss, geschossen 1960 vom Fotografen der Zeitung Revolución Alberto Diáz, genannt Korda, lag jahrelang unbeachtet in einer Kiste, bevor ihn der italienische Verleger Giangiacomo Feltrinelli 1967 auf Plakate drucken ließ. Kuba-Reisen entwickelten sich zu einer Art Pilgerfahrt. Hans Magnus Enzensberger hielt sich in den Jahren 1968 und 1969 hier auf, gleichzeitig reisten zahlreiche Intellektuelle an wie Dutschkes Freund Bernd Rabehl, der im Januar 1968 den Kulturkongress von Havanna besuchte.
Bereits im September 1967 schockierte Dutschke die Zuhörer auf einer Delegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt mit dem Appell, Che Guevaras 'Propaganda der Schüsse' durch eine 'Propaganda der Tat' in den Metropolen zu ergänzen. Damit näherte er sich der Position der Tricontinentalen. An die Seite der Guerilleros in den Peripherien der Dritten Welt müsse, so Dutschke, der "Stadtguerillero" treten, der den Kapitalismus (nach innen) bzw. den Imperialismus (nach außen) vom Zentrum ausattackieren könne. Als Paradebeispiel dieses neuartigen Kampfes in den Metropolen nannte Dutschke die radikale japanische Studentenorganisation Zengakuren, die mit 5000 Stadtguerilleros einen "begrenzten Bürgerkrieg" führe.
Die Situationistische Internationale als geheimer Drahtzieher der globalen Revolte?
Bereits Anfang der 1960er Jahre war es das Programm der situationistischen Avantgarde, die Revolutionierung des Alltags mit den Befreiungsbewegungen außerhalb Europas zu verbinden.Ihr Cheftheoretiker Guy Debord bezeichnete das alltägliche Leben als "kolonisierten Sektor" und forderte dazu auf, alle Lebensgewohnheiten, die die Kreativität lähmen, abzuwerfen.
1967 werfen Abbie Hoffman (links), und Jerry Rubin brennende Dollarscheine als "Liebesgeste" von der Besuchertribüne der New Yorker Börse auf das Handelsparkett. Den Stars der Hippiebewegung ging es vor allem um die Medialisierung ihrer Aktion. (© AP)
1967 werfen Abbie Hoffman (links), und Jerry Rubin brennende Dollarscheine als "Liebesgeste" von der Besuchertribüne der New Yorker Börse auf das Handelsparkett. Den Stars der Hippiebewegung ging es vor allem um die Medialisierung ihrer Aktion. (© AP)
Vor allem Guy Debords einflussreiche Schrift "La Société de Spectacle"/"Die Gesellschaft des Spektakels" (Paris 1967) weist auf die Verblendungszusammenhänge moderner, mediengelenkter Blickregime hin: "Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbe-
dingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln."
Pariser Mai 1968
Der Mai 1968 stellte den dramatischen Höhepunkt der Pariser Bewegung dar. Wenige Monate zuvor hatte Staatspräsident Charles de Gaulle noch erklärt, die Franzosen würden sich langweilen. (© Günter Zint)
Der Mai 1968 stellte den dramatischen Höhepunkt der Pariser Bewegung dar. Wenige Monate zuvor hatte Staatspräsident Charles de Gaulle noch erklärt, die Franzosen würden sich langweilen. (© Günter Zint)
In Frankreich, wo der Staatspräsident de Gaulle noch in seiner Neujahrsansprache zum Jahr 1968 eingeräumt hatte, die Franzosen "langweilten" sich,
Auf dem Anti-Vietnam-Kongress im Februar 1968 in Berlin lernte er Dutschke kennen. Das Attentat auf den APO-Führer wenige Wochen später nahm Cohn-Bendit zum Anlass, den SDS-Vorsitzenden Karl Dietrich Wolff nach Nanterre einzuladen, um vor den französischen Studenten zu sprechen. Die Konfrontation mit dem Staat, ausgelöst in der Pariser Vorortsuniversität, sprang bald auf die Sorbonne über. Im Mai 1968 agitierte Cohn- Bendit hier in einem aus dem Boden gestampften Ausschuss der "IS" – dem Comité enragé IS. Die Parolen zur Kritik an der Entfremdung in allen ihren Formen, die Kritik an der Bildwelt und am Warenfetischismus fügten den Arbeiten Guy Debords kaum etwas Neues hinzu, popularisierten diese aber in ungeahnter Weise. Die Kunsthochschulen von Paris richteten das Atelier populaire ein, hier entstanden im Mai und Juni über 350 verschiedene Siebdruckplakate pro Tag, die mit ihrer einfachen Grafik und den prägnanten Slogans in ganz Europa stilbildend wurden. Der niederländische Autor Cees Nooteboom gibt als teilnehmender Beobachter einen Eindruck der damaligen Szenerie: "Ich [lasse] es auf mich wirken, die Agora, das Forum, den Innenhof der Sorbonne, einen der unvorstellbarsten Orte der Welt. Unvorstellbar und unbeschreiblich. Ein jugendliches Volk bewegt sich hier, beschäftigt mit einer Revolte und einer Revolution, die keiner, der hier gewesen ist, je wird vergessen können. [...] Alle Wände sind mit Manifesten, Sprüchen, Aufrufen, Parolen, Mitteilungen, Feststellungen sympathisierender oder einander bekämpfender Gruppen vollgeklebt. Es ist der Mittelpunkt eines leidenschaftlichen, glücklichen Kosmos, in dem der Fremdling sprachlos umherirrt und nicht weiß, wo er beginnen soll."
Die Studenten um Daniel Cohn-Bendit, Alain Geismar und Alain Krivine forderten erfolgreich junge Arbeiter auf, ihre Fabriken zu besetzen. Dass 25 Enragés im März eine Streitmacht von tausend Studierenden und Arbeitern mobilisiert hatten, deren Zahl innerhalb weniger Wochen auf 50.000 und im Mai auf zehn Millionen Menschen anschwoll, zeigt, welche Konsequenzen die ohnmächtigen Repressionen einer Regierung hatten. Große Teile Frankreichs erlebten ein politisches Festival, alles schien möglich. Dabei erfuhren die Vorgänge ganz unterschiedliche Wertungen: Während Raymond Aron, Professor an der Sorbonne, die Unruhen als "studentischen Karneval" apostrophierte, in dem die Studenten – bewaffnet mit Versatzstücken früherer Revolutionen – bloß eine "Quasi-Revolution" spielten,
Prager Frühling und Kalter Krieg
Es waren nicht nur die Vereinigten Staaten von Amerika, die in den Augen einer sensibilisierten Weltöffentlichkeit den repressiven Charakter imperialistischen Handelns zeigten; auch die Versuche der Sowjetunion, in Osteuropa die Loyalität der Bündnispartner einzufordern, nahmen in den 1950er Jahren gewaltsame Züge an. Nach den Interventionen 1953 in Ostdeutschland und 1956 in Ungarn, insbesondere aber nach der gewaltsamen Unterdrückung der Reformbewegung in Prag war die Sowjetunion zwanzig Jahre lang auf massive Militärpräsenz angewiesen, um den Warschauer Pakt zusammenzuhalten.
Die Protestbewegungen des Ostblocks, die sich in Folge der Unruhen nach der Chruschtschow-Rede vom 20. Parteitag, der Ungarischen 'Revolution' und der Arbeiteraufstände an der polnischen Ostseeküste im Winter 1970 in der DDR, Polen oder Jugoslawien formierten, waren, verglichen mit den Massenschwärmen im Westen, nicht mehr als 'versprengte' Haufen von Dissidenten. Nur in Prag hatte das 'Tauwetter' im Jahre 1968 mit dem politischen Hoffnungsträger Alexander Dubček kollektiven Charakter angenommen, in dem Gesellschaftsexperiment, das unter dem Namen 'Prager Frühling' bekannt geworden ist. Ein ganz neuer gesellschaftlicher Spielraum wurde hier eröffnet: Bereits im Jahre 1965 hatten tschechische Hippies den durchreisenden Allan Ginsberg zum Kraj Majales – zum Mai-König – gewählt, bevor er wie zuvor in Kuba von den Behörden ausgewiesen wurde. Die Jugend war nicht länger vollständig vom Westen abgeschnitten, sie partizipierten an der pulsierenden Jugendkultur, trugen Texasskis – Bluejeans – oder gingen in Klubs, um Beat zu hören. Das Avantgardetheater blühte, tschechische Filme wie "Die Liebe einer Blondine" oder "Das Geschäftsjahr in der Hauptstraße" fanden international Beachtung.
Der Zeitraum ist auch in Prag voller dramatischer Ereignisse, als hätte auch hier jeder am politischen Leben teilnehmen wollen.
Zumindest hatte der Widerstand noch Möglichkeiten, sich zu äußern. Die Verfechter des Prager Frühlings montierten Straßenschilder ab oder drehten sie, um die Invasoren zu verwirren. Tschechen sprachen die Soldaten in den Panzern auf Russisch an und brachten sie mit ihren Fragen, was sie hier zu suchen hätten, in Verlegenheit. "Iwan Go Home!", prangte an den Mauern, die – wie im Mai in Paris – übervoll von Botschaften waren. Die Untergrundpresse reagierte über Nacht mit Sonderblättern: "Bis zum gestrigen Tag lebten wir in Ruhe und Frieden, das ganze Land baute mit einer unerhörten Einheit seinen sozialistischen Staat auf. Warum seid ihr zu uns gekommen? Ihr selbst seht und hört die Bestürzung unseres Volkes. Denkt darüber nach, warum man euch zu uns gesandt hat! Wer gab euch das Recht dazu?" und "Nur das Volk ist frei, das anderen Völkern nicht die Freiheit raubt." Sibylle Plogstedt, SDS-Aktivistin und Organisatorin des Vietnamkongresses in Berlin, hat den Einmarsch der Sowjets in Prag selbst erlebt: "Gegenüber dem was in Prag passierte erschien mir die Studentenrevolte in Berlin wie ein Kinderspiel."
Die Zeitschrift květy machte sich über die russischen Soldaten lustig, die das Nationalmuseum im Zentrum Prags beschossen, weil sie es irrtümlicherweise für den Sitz des Zentralkomitees gehalten hatten. Der Volksmund erklärte daraufhin die durchsiebte Fassade des Nationalmuseums zum Kunstwerk, nach dem sowjetischen Verteidigungsminister Marschall Gretschko hieß es fortan "El Gretschko". Im Januar 1969 setzte der Student Jan Palach ein dramatisches Zeichen gegen die Gewöhnung an die Invasoren, indem er sich nach dem Vorbild vietnamesischer Mönche selbst verbrannte. Die westdeutsche Linke galt u. a. wegen eines kritischen Traktats, das Hans-Jürgen Krahl in einer Voltaire Flugschrift zum Prager Frühling veröffentlichte,
Gruppierungen der Neuen Linken kritisierten Fehlentwicklungen sowohl im Sowjetkommunismus wie in der Sozialdemokratie, statt dessen propagierten sie einen Dritten Weg, der dem 'Sozialismus mit menschlichem Antlitz' nahe verwandt war. So lässt sich das Jahr 1968 auch im geopolitischen Kontext des Kalten Krieges begreifen: "Besonders herausragend war dabei die Parallelität von reformerischen und revolutionären Gesellschaftsveränderungsprojekten in Ost und West, wie sie sich am zugespitztesten im 'Prager Frühling' und im 'Pariser Mai' niedergeschlagen hat."
Solidarität, die "Zärtlichkeit der Völker"
Einerseits erfreuten sich die USA in der Studentenbewegung von 1968 als Verteidiger gegen den Faschismus im Zweiten Weltkrieg einer gewissen Hochachtung; andererseits wurden sie zunehmend als Hegemonialmacht angesehen, die diktatorische Regime von Griechenland bis Persien oder Chile unterstützte. Gerade aus der Auseinandersetzung mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit und den Elitenkontinuitäten im Adenauerstaat musste den Protestierenden in Deutschland die Existenz faschistischer Diktaturen – zumal in Europa – skandalös erscheinen. Im Jahr 1973 kettete sich Günter Wallraff am Athener Syntagmaplatz an, um auf den unhaltbaren Zustand einer 'Gewöhnung' (vgl. Palach) an eine unsichtbar gewordene Diktatur ausgerechnet an der Wiege der Demokratie hinzuweisen. Geheimdienstler des Obristenregimes schlugen ihn, den sie für einen griechischen Oppositionellen hielten, noch vor Ort zusammen und traktierten ihn später in der Untersuchungshaft mit der berüchtigten 'Falanga' (Folter). So weit konnte die aufrichtig empfundene Solidarität gehen. Klaus Staeck hat Wallraffs 'Martyrium' zum Anlass für ein Plakat genommen, das er mit "Die Kunst der 70er Jahre findet nicht im Saale statt" untertitelte.
Ähnlich war die Situation in Spanien und Portugal, nur waren die dort amtierenden Diktatoren bereits vergreist. Generalissimo Francisco Franco stand in seinem 29. 'Friedensjahr', als er am 4. Dezember 1968 seinen 75. Geburtstag feierte. Da hängten plötzlich Studenten in Madrid ein Plakat auf, auf dem zu lesen war: "Franco, Mörder, Herzlichen Glückwunsch." Spanien galt trotz der jahrzehntelangen Säuberungsaktionen gegen Oppositionelle noch als weniger repressiv als der im Nachbarland Portugal waltende Autokrat António de Oliveira Salazar. Wolf Biermann stimmte ein Spottlied auf die Scheintoten an, die sich ans Leben wie an die Macht klammerten: "Ballade zur Beachtung der Begleitumstände beim Tode von Despoten: Wenn endlich ein Despot, erschlagen ist und tot, dann nimmt man schnell den toten, versiegelten Despoten, und legt ihn tief ins Grab, und obenauf mehr Steine, als damals Jesus seine, damit nicht auferstehn ..."
Es gab ein festes Zeichensystem, mit dem man weltweit seine Zugehörigkeit zur Protestbewegung im Zeichen Internationaler Solidarität markieren konnte. Dazu gehörten die Rebellen, die den Tyrannen die Stirn geboten hatten, allen voran natürlich Che Guevara, auf den Wolf Biermann ebenfalls eine Hymne geschrieben hat: "Der rote Stern an der Jacke / Im schwarzen Bart die Zigarre / Jesus Christus mit der Knarre / so führt Dein Bild uns zur Attacke / Uns bleibt, was gut war und klar war / Dass man bei Dir immer durchsah / Und Liebe, Hass, doch nie Furcht sah / Commandante Che Guevara" (1975). Che Guevara, Ho Chi Minh und Mao Tse-tung wurden zu den Säulenheiligen der Bewegung. Gerd Koenen beschreibt das Schlachtfeld der planetarischen Weltrevolution nicht ohne Sinn für die Ironien dieser Geschichte: "Erratisch-geheimnisvoll, wie Findlinge der Osterinseln, liegen die Idole dieser Jahre in der pastoralen 'Landschaft der Schlacht'." Aber trotz der jeden Lebensbereich überwachenden Che Guevara-Poster, allen – aus den USA importierten – "Ho, Ho, Ho-Chi-Minh"-Skandierens und aller Frantz Fanon-Lektüre: Eine postmaterialistisch sich gebärdende Jugend der Industriestaaten adoptierte die Großmeister des Widerstands gegen die Weltmacht nicht ohne ihre Appelle entsprechend den eigenen politischen Bedürfnissen umzudeuten. Bei all dem ging es vor allem um das, was Che Guevara die "Zärtlichkeit der Völker" genannt hatte: um Solidarität mit Teilen der Menschheit, die man für 'unterdrückt' hielt. Dass dabei Stalinisten wie Mao Tse-tung, Ho Chi Minh oder Che Guevara von einer Jugend gewissermaßen als 'Monstranzen' vor sich her getragen wurden, die doch eigentlich im Namen der Freiheit angetreten war, gehört dabei zu den eigentümlichsten – und dunkelsten Aspekten von 1968.