Professionelle Beobachter waren von der eruptiven Wucht der 1967 eskalierenden Protestbewegung völlig überrascht, hatten sie doch noch kurz zuvor ein vorherrschendes politisches Desinteresse registriert
Das Überraschungsmoment der Revolte beförderte schon bald die in der Publizistik weithin geteilte Vorstellung von 1968 als tiefer Zäsur zwischen bleiernen Zeiten des autoritären Immobilismus und den lichten Weiten einer modernen Zivilgesellschaft oder - je nach Provenienz der Betrachter - zwischen geordneten Verhältnissen und ihrer Auflösung. Von jenem Jahr aus betrachtet, interessierte der erste Teil der Dekade dementsprechend lediglich als "Inkubationszeit des Protests"
Der folgende Beitrag skizziert einige gesellschaftliche Tendenzen der Bundesrepublik in den frühen sechziger Jahren, fragt nach politischen Anlässen, Wahrnehmungen und Motiven, die oppositionelle Aufbrüche in diesem Zeitraum bewirkten, und wendet sich schließlich der Entstehung einer Neuen Linken zu.
Das Ende der Nachkriegszeit
Als kleinster gemeinsamer Nenner bisheriger Deutungen scheint sich herauszukristallisieren, die sechziger Jahre als eine "Phase der Gärung" zu verstehen, "in der sich eine Fülle von Veränderungsimpulsen wechselseitig verstärkten"
Der durchschnittliche Arbeitnehmerhaushalt vermochte in den sechziger Jahren am enorm gestiegenen Konsum der neuen "Wohlstandsgesellschaft" in nie gekanntem Ausmaß teilzuhaben. Die Nettoeinkommen stiegen in jener Dekade um ca. 50 Prozent. Dieser Wohlstandszuwachs, er zeigte sich etwa bei der Verbesserung des Wohnkomforts und der raschen Verbreitung von Konsumgütern, die zuvor als Luxus gegolten hatten, ließ neue Lebensstile entstehen. Charakteristisch war dafür ein in der deutschen Geschichte zumindest des 20. Jahrhunderts einmaliger Eigenheimbauboom. Allein von 1961 bis 1968 erhöhte sich der Anteil der wohnungsbesitzenden an allen Haushalten von 29,1 auf 34,3 Prozent
Der gestiegene Stellenwert massenkultureller Konsumption im Verlauf der Transformation einer modernen Industrie- zu einer postindustriellen Gesellschaft führte zu einer neuen Qualität, für die der Soziologe Gerhard Schulze den Begriff "Erlebnisgesellschaft" vorgeschlagen hat. Unter den veränderten materiellen Bedingungen wurde das zentrale existenzielle Problem nicht mehr im Überleben, sondern im Erleben gesehen. Lebensalter und das Wahrnehmungsraster jung - alt mit einem jugendspezifischen Anspruch auf Progressivität rückten in den sechziger Jahren in den Vordergrund sozialer Wahrnehmung
Die "Erlebnisgesellschaft" scheint in der Tat als idealtypischer Begriff den Kern massenkultureller Veränderungen in jenem Zeitraum recht gut zu erfassen. Anfang der sechziger Jahre (1961) wurden etwa vier Millionen Fernsehhaushalte, 1970 über 15 Millionen gezählt. Der Aufstieg des neuen audiovisuellen Mediums
Dass das audiovisuelle Medium dem Lesen von Zeitungen und Zeitschriften keinen Abbruch tat, weist darauf hin, dass sich der Medienkonsum differenzierte und nicht einfach vom Fernsehen monopolisiert wurde. Zumindest die an Kiosken dominierenden Titelbilder von Illustrierten lassen den Eindruck eines allgemeinen Drangs zu expressiver Visualisierung und Buntheit gewinnen, der sich vor allem in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre stetig verstärkte, als in der Mode so genannte "Schockfarben" für Aufsehen sorgten und das Fernsehen (1967) selbst farbig wurde.
Der im Kontext der "Erlebnisgesellschaft" als typisch angesehene kulturelle Konflikt zwischen Jugendlichen und erwachsener Bevölkerungsmehrheit, der in jenem Jahrzehnt öffentlich in nie zuvor gekanntem Ausmaß diskutiert wurde und rasch eine politische Dimension gewann, enthält viele Hinweise auf gewandelte Auffassungen, die sich im Streit um Haar- und Rocklänge, Tänze und Musikstile niederschlugen. Die Twist-, Rock- und Beat-Rhythmen der sechziger Jahre, die in der ersten Hälfte des Jahrzehnts vor allem aus Großbritannien, dann aus den USA importiert wurden, sind in ihrer Bedeutung als internationaler jugendkultureller Code von kaum zu überschätzender Bedeutung. Hierin drückten sich jugendliche Wünsche nach mehr "Lockerheit" und "Freiheit" am nachdrücklichsten aus und wurden entsprechend von einem großen Teil der Elterngeneration als Kampfansage aufgefasst. Aber nicht nur in der Jugend, sondern auch in der Bevölkerung allgemein waren die Anfänge eines tief greifenden Wertewandels erkennbar. Dieser vollzog sich von der Dominanz so genannter Pflicht- und Akzeptanzwerte hin zu Selbstentfaltungswerten, wie soziologische Beobachter schon Anfang der sechziger Jahre bemerkten
Oppositionelle Aufbrüche
Der Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963/65 sorgte für eine kontroverse Debatte über den Umgang mit der eigenen NS-Vergangenheit. (© AP )
Der Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963/65 sorgte für eine kontroverse Debatte über den Umgang mit der eigenen NS-Vergangenheit. (© AP )
Um 1960 mehrten sich die publizistischen Beiträge, in welchen Versäumnisse und Fehlentwicklungen im Wiederaufbau mit harter Kritik bedacht wurden. Dies betraf zunächst die gravierenden Defizite im Umgang mit der NS-Vergangenheit, die zu öffentlichen Skandalen geführt hatten. Die sechziger Jahre - und nicht erst 1968 - waren insgesamt gekennzeichnet durch eine qualitative Intensivierung vergangenheits-
politischer Diskurse. Nicht mehr metaphysische Schuld, sondern konkrete Verbrechen beschäftigten nun die Öffentlichkeit. Die 1960 im Fernsehen ausgestrahlte Serie "Das Dritte Reich" mit hohen Einschaltquoten, die Berichterstattung über den Jerusalemer Eichmann-Prozess 1961, den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963/65, Auseinandersetzungen um die persönliche Verstrickung Bonner Politiker in den Nationalsozialismus, Bundestagsdebatten über die Verjährung von NS-Verbrechen u. a. mögen die Intensität öffentlicher Beschäftigung mit der "braunen Vergangenheit" andeuten
Die Kritik am ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik reduzierte sich allerdings nicht allein auf moralische Leerstellen des materiellen Wiederaufbaus, sondern richtete sich auch auf diesen selbst. Wenn die zeitgeschichtliche Forschung zu Recht die Gleichzeitigkeit von ökonomischer Rekonstruktion und Modernisierung in den fünfziger Jahren betont, so waren viele Kritiker am Ende dieser Phase davon überzeugt, dass der Wiederaufbau zwar quantitativ als Erfolg anzusehen, aber ohne Konzept angegangen worden sei. Alexander Mitscherlich und etliche andere klagten besonders über die Schäbigkeit und Geistlosigkeit der Stadtplanung und hoben auf die Zersiedelung und Zerstörung kultureller Urbanität ab
Während die westdeutsche Wirtschaft von einem Export-Rekord zum nächsten getragen wurde, mehrten sich mahnende Stimmen, die u. a. auf Versäumnisse der Bildungspolitik hinwiesen. Angestoßen bereits durch den so genannten "Sputnik-Schock" 1957, wurde der "sowjetische Block" nicht nur als militärische Bedrohung, sondern auch als Konkurrent auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik gefürchtet. Vor diesem Hintergrund verstärkten sich die Forderungen nach einer grundlegenden Bildungsreform, als durch die Errichtung der Berliner Mauer 1961 auch der Zustrom von gut ausgebildeten Fachkräften aus der DDR ausblieb. Georg Pichts Formel von der "Bildungskatastrophe" ist vor diesem Hintergrund zu verstehen
Der Ruf nach einer Auseinandersetzung über die Grundlagen der westdeutschen Politik fand zunehmend Anklang in einer sich artikulierenden kritischen Öffentlichkeit. Die Aktion gegen das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" wegen angeblichen Verrats militärischer Geheimnisse 1962 wurde deshalb zum Bumerang für die Regierenden. Demonstrationen und negative Stellungnahmen selbst konservativer Blätter zeigten ein neues staatsbürgerliches Verständnis. Der Begriff "Pluralismus", in dem sich zugleich die Beobachtung einer gesteigerten gesellschaftlichen Differenziertheit wie auch das Postulat der Toleranz gegenüber unterschiedlichen Auffassungen ausdrückte, wurde immer häufiger in Diskussionen eingebracht.
Die neuen gesellschaftlichen Signaturen am Ende des Wiederaufbaus nötigten die politischen Parteien und Verbände zu einer Überprüfung ihrer jeweiligen Programmatik und von deren Präsentation in der gewandelten Öffentlichkeit. Es ging nun nicht mehr vorrangig um grundsätzliche ordnungspolitische Positionen wie im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik. Parlamentarische Demokratie, "soziale Marktwirtschaft", europäische Integration und generell die Westoption hatten sich durch ihren Erfolg legitimiert, und mit dem Abtauen des Kalten Krieges verlor auch eine dramatisierende Freund-Feind-Rhetorik an Glaubwürdigkeit. Stattdessen schien nun diejenige politische Partei die Führung beanspruchen zu können, die mit glaubwürdigen Konzepten zur Reformierung der Gesellschaft aufwartete. Diese Kompetenz schien auch innenpolitisch allmählich an die Sozialdemokratie überzugehen, die mit dem Godesberger Programm von 1959 "ideologischen Ballast" abgeworfen hatte und sich erfolgreich als moderne "Volkspartei" mit ihrem Kanzlerkandidaten Willy Brandt als jugendlich wirkendem "deutschen Kennedy" präsentierte.
Zur Bildung einer breiten kritischen Öffentlichkeit am Ende der "Ära Adenauer" trugen neben dem "Spiegel", der nicht zuletzt durch den Angriff auf ihn seinen Nimbus und seine Auflagenzahlen beträchtlich erhöhte, einige weitere Medien bei. Die linksliberale Wende der Ende der fünfziger Jahre noch in ihrer Existenz bedrohten Wochenzeitung "Die Zeit" sorgte auch hier für neue Leser. Die im September 1962 auf den Markt gekommene satirische Monatszeitschrift "Pardon" steigerte ihre Auflage bis zum Ende der sechziger Jahre von 50.000 auf 300.000 Exemplare, die als linke Studentenzeitung seit Mitte der fünfziger Jahre erscheinende "Konkret" von 20.000 (1957) und 40.000 (1964) auf 400.000 (1968). Beträchtliche Aufmerksamkeit erzielte das seit 1962 in der ARD ausgestrahlte kritische Fernsehmagazin "Panorama" - eine in der Bundesrepublik noch neue Form des Journalismus
Ein Netzwerk intellektueller Foren und Medien, von Radioredaktionen, wöchentlich und monatlich erscheinenden Druckerzeugnissen, Verlagen und Buchreihen bis hin zum politischen Dokumentationstheater beförderte eine linksliberale und sozialkritische Politisierung der literarischen Intelligenz, auf welche die Bundesregierung mit einiger Nervosität reagierte. Als der "Spiegel" 1965 eine Philippika Rolf Hochhuths gegen die angeblich systematische Begünstigung des Großunternehmertums durch die Regierung veröffentlichte, attackierte Bundeskanzler Erhard bei verschiedenen Gelegenheiten seine intellektuellen Kritiker als "Banausen und Nichtskönner, die über Dinge urteilen, die sie einfach nicht verstehen", als "ganz kleine Pinscher", und er sprach von "einem gewissen Intellektualismus, der in Idiotie umschlägt", sowie von "unappetitlichen Entartungserscheinungen der modernen Kunst"
Solche Reaktionen waren ein Indiz für Unsicherheiten, Ängste und den Widerwillen gegen eine publizistische Tendenz, die sich allmählich ausbreitete, aber es bleibt noch auszuloten, wie breit und wie tief die Hauptströmung gehobener linksliberaler Publizistik bis zur Mitte der sechziger Jahre vordringen konnte. Die Intensivierung der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und die "Verjährungsdebatten" im Bundestag (1960 und 1965)
Die Große Koalition von CDU/CSU und SPD von Ende 1966 bis 1969 wurde von den beteiligten Partnern in erster Linie defensiv begründet, als zeitlich von vornherein begrenzter Ausweg aus schwerwiegenden wirtschaftlichen Problemen. Während sich die erste wirtschaftliche Rezession 1966/67 nach 16 Jahren ununterbrochenen Aufstiegs in der langfristigen Perspektive rückblickend lediglich als konjunkturelle Delle darstellt, galt sie den Zeitgenossen als deutliches Anzeichen für künftige Gefahren, die nur durch eine breit fundierte und reformbereite Führung in Bonn abzuwehren seien.
Das neue Kabinett symbolisierte zugleich einen Aspekt gesellschaftlicher Versöhnung nicht nur der großen politischen Widerlager, wie sie etwa Franz-Josef Strauß (CSU) und Karl Schiller (SPD) als "Plisch und Plum" der Wirtschafts- und Finanzpolitik inszenierten, sondern vor allem konträrer Biografien. Gemeinsam saßen auf der Regierungsbank das "Märzveilchen", der im März 1933 der NSDAP beigetretene Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, mit dem früheren kommunistischen Spitzenfunktionär Herbert Wehner und mit Willy Brandt, der als sozialistischer Remigrant in norwegischer Uniform viele Schmähungen hatte über sich ergehen lassen müssen. Nur auf der Basis pragmatischen Hinwegsehens über unterschiedliche Herkünfte konnte ein Bündnis geschlossen werden, in dessen Zentrum eine aktive Konjunkturpolitik und gesamtwirtschaftliche Rahmenplanung stehen sollten. Mit großem Schwung wurde eine "Konzertierte Aktion" ins Leben gerufen, ein "Stabilitätsgesetz" (Mai 1967) verabschiedet und die "Mittelfristige Finanzplanung" eingeführt; eine Finanzreform, in welcher das Steueraufkommen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden neu aufgeteilt wurde, befreite die Kommunen aus der Abhängigkeit von der Gewerbesteuer. Auf zahlreichen Feldern der Politik begann die Große Koalition parallel dazu mit tief greifenden Reformen
Viele Zeitgenossen sahen die Große Koalition allerdings nicht als reformfreudiges Modernisierungsbündnis an, sondern fürchteten sie als Etappe auf dem Weg in eine totale politische Konformität. Das Fehlen einer wirksamen Opposition im Bundestag wurde in vielen Kommentaren kritisiert, und die Ankündigung einer Wahlrechtsreform mit dem Ziel der Einführung des Mehrheitswahlrechts, propagiert als Mittel zur Schaffung klarer parlamentarischer Mehrheitsverhältnisse, erschien in dieser Sicht als endgültige Ausschaltung jeglicher Konkurrenz gegen die Bonner Großparteien. Vor allem die seit Beginn der sechziger Jahre intern erörterten und im Mai 1968 verabschiedeten gesetzlichen Maßnahmen für den Fall eines staatlichen Notstandes
Die Neue Linke
Die zeitgeschichtliche Forschung hat die Herausbildung einer Neuen Linken in der Bundesrepublik und - mit einem deutlichen Vorsprung - in West-Berlin bisher noch wenig untersucht. Beantwortet werden müsste vor allem die Frage, wie gerade zu jener Zeit, als der ideologische Überbau "abendländisch"-konservativen Denkens erodierte und westlich-liberales Denken in der politischen Öffentlichkeit immer stärker dominierte
Zwischen der Sozialdemokratie, in der klassenkämpferische Traditionen und marxistisches Gedankengut marginalisiert wurden, und der Kommunistischen Partei war ein Vakuum entstanden. Die seit 1956 verbotene KPD hatte bereits im ersten Nachkriegsjahrzehnt einen Großteil ihrer Mitglieder und Anhänger verloren. Die Enthüllungen über Stalin auf dem 20. Parteitag der KPdSU, der Ungarn-Aufstand und die Entwicklung in der DDR hatten zur nahezu vollständigen politischen Isolierung der wenigen verbliebenen Mitglieder der illegalen Kommunistischen Partei in Westdeutschland geführt. Eine in ihren Ausmaßen und Formen rückblickend betrachtet mitunter grotesk überzogene strafrechtliche Verfolgung kam hinzu. In einer Atmosphäre, in der alle Organisationsversuche links von der SPD unter dem Generalverdacht einer Steuerung durch die SED standen, achteten selbst die wenigen marxistischen "Traditionalisten" in kleinen linkssozialistischen Gruppierungen
und im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) auf strikte Abgrenzung. Der von der SPD 1960/61 verstoßene akademische Nachwuchsverband schloss selbst kurz darauf kommunistische Gruppierungen aus . Die erstmals zur Bundestagswahl 1961 antretende Deutsche Friedensunion (DFU), in der neben einigen pazifistischen und linkssozialistischen Persönlichkeiten verdeckt auch kommunistische Gruppierungen mitarbeiteten, blieb wegen des Verdachts östlicher Unterstützung weitgehend erfolglos. Vor diesem Hintergrund kamen wichtige Anstöße aus dem westlichen Ausland, nachdem die SPD ihre Unterstützung der Anti-Atomwaffen-Bewegung
auf deren Höhepunkt 1958 einzustellen begann. Die Ostermarsch-Bewegung, die sich aus kleinen Anfängen zu einer Massenbewegung entwickelte, handelte nach britischem Vorbild. 1960 waren es etwa 1.000 Menschen, die gegen die atomare Kriegsgefahr demonstrierten, 1964 schon 100.000 und 1967 150.000, die nun ein erheblich breiteres Spektrum von Protestthemen artikulierten. Auch die anfangs strikt pazifistisch ausgerichtete Ostermarsch-Bewegung wurde von örtlichen Behörden - etwa hinsichtlich der Zuweisung von publikumsfernen Routen und der Zensur von Plakaten - schikaniert und war antikommunistischen Verdächtigungskampagnen ausgesetzt . Innerhalb der Ostermarsch-Bewegung gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Pazifisten und Linkssozialisten, die erst zur Mitte der sechziger Jahre hin von Letzteren für sich entschieden wurden. Gemeinsam vertrat allerdings die Mehrheit der Ostermarsch-Bewegung die Abgrenzung von kommunismusverdächtigen Gruppierungen wie der DFU. Ende der fünfziger Jahre begann in intellektuellen Kreisen, in der Zeitschrift des SDS "Neue Kritik", in der "Konkret" und im West-Berliner Argument-Club, die Entdeckung der "Kritischen Theorie" der Zwischenkriegszeit und des Exils sowie undogmatischer marxistischer Schriften, etwa von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Karl Korsch, Georg Lukacs und Ernst Bloch. Kaum beachtet wurde von den Rezipienten dabei allerdings der historische jüdisch-deutsche Hintergrund, das Moment des Re-Imports vormals verfemter Autoren. Biografisch interessant erscheint auch, dass etliche der jungen Intellektuellen, die sich der Exilliteratur zuwandten, aus Kreisen der bündischen Jugend stammten
. Vor allem der im kalifornischen Exil lebende Herbert Marcuse, der auf dem West-Berliner "Vietnamkongress" 1966 das Hauptreferat halten sollte, avancierte schon früh zum theoretischen Stichwortgeber für eine neue antiautoritäre Linke . Nicht mehr die Arbeiterklasse, sondern die sozial ausgegrenzten oder vom spätkapitalistischen System noch nicht integrierten gesellschaftlichen Gruppen, vor allem der akademische Nachwuchs, wurden von dieser zum neuen revolutionären Subjekt erklärt, das den herrschenden "Manipulationszusammenhang" durchbrechen könne. Man wird die Hinwendung zu solchen theoretischen Ansätzen nicht gänzlich ohne sozialpsychologische Anteile erklären können, etwa den Provokationscharakter sozialistisch-antiautoritärer und marxistischer Terminologie angesichts der östlichen Bedrohung. Gemeinsamkeit verspürte die sich herausbildende Protestbewegung vor allem mit den jugendlich-studentischen Aufbrüchen in der westlichen Welt und zunächst in den USA
. Nicht zuletzt die moralischen "Empörungsmotive" , etwa hinsichtlich des Krieges in Vietnam, und die euphorische Identifikation mit den Befreiungsbewegungen der "Dritten Welt" verbanden die Jugendlichen diesseits und jenseits des Atlantik . Die Bedeutung der diffusen Protestbewegung, die sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre international ausbreitete, lag wohl im Zusammentreffen, für einen kurzen historischen Moment sogar in der Verschmelzung von politischer Bewegung und einer auch kommerziell expansiven jugendlichen Gegenkultur - eine "Kernfusion von Gegenkultur und Kulturindustrie" . Nicht zuletzt die Tendenzen der Bildenden Kunst schon in den frühen sechziger Jahren bieten dafür reichhaltiges Anschauungsmaterial . Es war kein Zufall, dass einige der späteren Aktivisten von 1968, darunter Rudi Dutschke, aus dem Umfeld der Situationistischen Internationale kamen, in der über den Zusammenhang von Ästhetik und Politik nachgedacht wurde . Die Wirksamkeit des politischen Protests basierte vor allem auf seiner ästhetischen Stilisierung und Vermittlung durch die Massenmedien - eine Konvergenz von Protestgeneration und Popkultur . Sicherlich vermag das Generationenparadigma nicht allein die Genese der Neuen Linken erklären. Aber zum einen dominierte der jugendlich-studentische Anteil etwa bei Demonstrationen denjenigen der älteren Erwachsenen und fand zugleich die antiautoritäre gegenüber der traditionell linkssozialistischen Strömung - im Gegensatz zum Beginn des Jahrzehnts - schon zur Mitte der Dekade deutlich größere öffentliche Beachtung . Zum anderen bliebe auch der Gehalt der Neuen Linken gänzlich unverstanden ohne Einbeziehung der Dimension einer "Lebensstilrevolution" , der Sehnsucht nach einem anderen Leben und einer gänzlich neuen Politik, die das Private politisch werden ließ. Das darin enthaltene utopische Moment, das mit einer mitunter "erstaunlichen Ignoranz gegenüber den Errungenschaften des bürgerlichen Rechtsstaats" und einer vehementen Denunziation liberalen Denkens zusammenging, barg zwar formal betrachtet ein antiwestliches Element, aber auch dieses war als Phänomen in allen westlichen Ländern anzutreffen.
Hauptsächlich ging es jedoch um die Durchsetzung von Emanzipationsansprüchen, einer umfassenden Demokratisierung und eines als jugendlich und modern empfundenen Lebensstils, und letztlich wurde die politische Westorientierung der Bundesrepublik gegen bildungsbürgerliche Sonderideologien nun auch massenkulturell breit fundiert. Die Protestbewegung fungierte retrospektiv als treibender und übertreibender Teil einer dynamischen Modernisierung der westdeutschen Gesellschaft und ihrer politischen Kultur, die in breitem Ausmaß um 1960 begann.
Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 22-23/2001)