Ab den 2000er Jahren kam diese Transformation weitgehend zum Stillstand. Die deutsche Industrie erlebte ein Comeback, und das war insbesondere exportgetrieben: Die Öffnung der internationalen Märkte und das starke Wirtschaftswachstum der Schwellenländer begünstigten traditionelle Stärken der deutschen Wirtschaft. Die Bundesrepublik hatte immer noch im Angebot, was die rapide wachsenden Schwellenländer brauchten und wollten, was aber anderswo im Westen bereits dem Strukturwandel anheimgefallen war – von chemischen Grundstoffen über Maschinen und ganzen Produktionsanlagen bis hin zu hochwertigen Autos für neue zahlungskräftige Käufer.
Mit zunehmendem Entwicklungsstand haben Unternehmen in Schwellenländern jedoch ähnliche Fähigkeiten erreicht. Dieser Aufholprozess ist seit langem sichtbar, hat sich aber in den vergangenen Jahren beschleunigt. Die weltweiten Handelskonflikte, die insbesondere die überbesetzten Märkte für Industriegüter betreffen, verschlechtern die Position hiesiger Produzenten zusätzlich.
Andere westliche Länder sind von dieser Entwicklung weniger stark betroffen, weil dort der Industrieanteil an der Gesamtwirtschaft bereits deutlich geringer ist. Allerdings trägt in der Schweiz oder in Japan die Industrie genauso viel zur Wertschöpfung bei wie in Deutschland. Doch der Beschäftigungsanteil ist dort deutlich geringer. Ein Beleg dafür, dass sich Industrieunternehmen in diesen Ländern zunehmend auf hochproduktive Aktivitäten – etwa: Forschung und Entwicklung, Design, Management – konzentrieren, während es hierzulande nach wie vor eine Menge Industriejobs mit geringerer Produktivität gibt.
🤑 Wer will was?
Bislang hat sich die politische Debatte darauf konzentriert, bestehende Strukturen zu bewahren und zu erneuern. Durch die Zahlung von Kurzarbeitergeld sollen Beschäftigte länger auf bedrohten Jobs verbleiben können. Die scheidende Bundesregierung hat Subventionen für große Industrieansiedlungen, insbesondere für Chipfabriken, genehmigt. Traditionelle Stahlstandorte in Duisburg und Saarlouis sollen mittels staatlicher Milliardenförderung auf Wasserstoffproduktion umgestellt werden. Die Resultate dieser Strategie sind bislang bescheiden. So hat der US-Halbleiterhersteller Intel die Ansiedlung einer Fabrik in Magdeburg wegen der schlechten Geschäftslage des Konzerns auf Eis gelegt, obwohl der deutsche Staat knapp zehn Milliarden Euro an Beihilfen bereitgestellt hatte. Der Stahlkonzern ThyssenKrupp will trotz Milliardenhilfen für die Dekarbonisierung Kapazitäten abbauen. Zuletzt war sogar eine Staatsbeteiligung im Gespräch.
Während Sozialdemokraten und Grüne vor allem auf staatliche Interventionen setzen, versprechen Union und FDP niedrigere Steuern, insbesondere auf Unternehmenserträge, sowie Deregulierung und einen Wiederaufbau der Atomenergie, um günstige Strompreise zu gewährleisten. Angesichts enger öffentlicher Kassen (siehe Interner Link: Zahlen, bitte! #4) sind die finanziellen Spielräume begrenzt – sowohl für staatliche Ausgaben als auch für Steuersenkungen.
Die EU-Kommission ihrerseits hat eine europäische Strategie für die Autoindustrie ausgerufen. Dazu soll zunächst ein „strategischer Dialog“ stattfinden. 2024 hat sie bereits höhere Zollsätze auf E-Auto-Importe verhängt, um in der EU ansässige Produzenten vor Billigwettbewerb aus China zu schützen.
Die großen deutschen Industriebranchen sind geprägt von einer überschaubaren Zahl von Konzernen und mittelgroßen Unternehmen. Sie stellen eine mächtige und gut organisierte Interessengruppe dar. Das gleiche gilt für die großen Gewerkschaften IG Metall und IG BCE, die in Deutschlands Traditionsbranchen eine starke Rolle spielen. Verständlicherweise sind Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter daran interessiert, die Bedingungen so zu verändern, dass bestehende Standorte erhalten bleiben. Die Gewerkschaften fordern Standortsicherung und Beschäftigungsgarantien, teils unterstützt von der Politik. Geschäftsführungen fordern vor allem niedrigere Energiekosten, Steuersenkungen sowie weniger Bürokratie.
⏩ Was passiert als Nächstes?
Der Strukturwandel weg von der Industrie lässt sich schwerlich aufhalten. Diese Entwicklung resultiert zum einen, wie erwähnt, aus dem Aufstieg der Schwellenländer auf der Wertschöpfungsleiter. Fortgeschrittene Volkswirtschaften wie die deutsche sind deshalb gezwungen, neue Sprossen zu erreichen, wenn sie ihren Vorsprung behalten wollen. Zum anderen sind die menschlichen Bedürfnisse nach physischen Gütern begrenzt: Wer bereits ein Auto besitzt, braucht eigentlich kein zweites oder drittes. Mit zunehmendem Wohlstandsniveau steigt hingegen der Bedarf an Dienstleistungen und Wissensgütern – von Gesundheitsservices über digitale Unterhaltungsangebote bis zu Bildung und Kultur.
Die moderne Marktwirtschaft wandele sich deshalb zunehmend zu einem „Kapitalismus ohne Kapital“, so die britischen Ökonomen Jonathan Haskel und Stian Westlake in ihrem gleichnamigen Buch. Immaterielle Güter wie Patente, innovative Geschäftsprozesse, Markenbildung oder Design treiben die Produktivität, nicht mehr allein die nächste Maschine in einer Fabrikhalle oder ein weiteres Fahrzeug im Fuhrpark. Oft sind diese immateriellen Werte mit Industrieprodukten verwoben, deren Wert sich durch die innovative Kombination von physischen und virtuellen Gütern ergibt. Als Paradebeispiel gilt Apples iPhone und das drumherum entstandene Ökosystem aus Apps und Inhalten.
Deutschland ist in dieser Disziplin nicht gerade herausragend. Die Investitionen in geistiges Eigentum sind bestenfalls durchschnittlich. Ein Rückstand, der den Strukturwandel erschwert. Während die dominierenden US-amerikanischen Tech-Konzerne hunderte Milliarden Dollar in die Entwicklung neuer Technologien stecken, gibt es diesseits des Atlantiks kaum Vergleichbares (siehe auch Interner Link: Zahlen, bitte! #3).
Die überragende Rolle der Autoindustrie stellt für Deutschland ein zusätzliches Hindernis da. Bislang haben die großen Hersteller und ihre Zulieferer den mit Abstand größten Teil der nationalen Ausgaben für Forschung und Entwicklung getragen, wie aus Zahlen des Stifterverbands hervorgeht. Inwieweit diese Unternehmen künftig noch in der Lage sein werden, zur Schaffung neuen geistigen Eigentums beizutragen, ist eine offene Frage. Das Wachstum der Rüstungsindustrie, das sich durch die steigenden Militäretats infolge der zugespitzten sicherheitspolitischen Bedrohungslage und der Forderungen des kommenden US-Präsidenten Donald Trump abzeichnet, könnte einen Teil dieses Rückgangs auffangen.
Die bestehende Industrie wird sich weiterentwickeln. Neue Technologien wie der Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Robotertechnik versprechen Produktivitätssprünge. Sollten sich diese Erwartungen bewahrheiten, wäre das hochwillkommen. Allerdings könnte eine weitergehende Automatisierung den Verlust von Arbeitsplätzen in diesen Sektoren zusätzlich beschleunigen.
Eine wirtschaftspolitische Strategie, die den Strukturwandel gestaltet, müsste vor allem die staatlichen Ausgaben für Forschung und Bildung erhöhen. Beschäftigte, die in schrumpfenden Traditionsbranchen ihren Job verlieren, sollten weiterqualifiziert werden. Ein Ausbau der Infrastruktur würde helfen, bisherige Engpässe in den Daten-, Strom- und Verkehrsnetzen zu beseitigen. Junge, dynamische Unternehmen brauchen einen leichteren Zugang zu Wachstumskapital. Eine wirkliche EU-weite Kapitalmarktunion, wie sie der im Herbst erschienene Bericht des früheren italienischen Ministerpräsidenten und EZB-Präsidenten Mario Draghi fordert, böte gerade deutschen Firmen eine Menge Chancen.
Entscheidend wird deshalb sein, wie sich die nächste Bundesregierung in diesen Fragen positioniert – und ob es der neuen EU-Kommission gelingt, eine umfassende europäische Transformationsagenda zu formulieren und durchzusetzen.
🧐 Wer weiß mehr?
Institut der deutschen Wirtschaft (2024), Der Industriestandort Deutschland in Zeiten der Dekarbonisierung. Vergleich der Transformationsstrategien zwischen USA, EU und Deutschland, Studie im Auftrag des Ministeriums für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie des Landes Nordrhein- Westfalen (MWIKE), Externer Link: www.iwkoeln.de/studien/markus-demary-ralph-henger-christopher-breddermann-niklas-florian-taft-vergleich-der-transformationsstrategien-zwischen-usa-eu-und-deutschland.html. Die Autoren liefern eine umfassende Informationsbasis und jede Menge Zahlen und Grafiken.
Statistisches Bundesamt, Themenseite zum Verarbeitenden Gewerbe, Externer Link: www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Industrie-Verarbeitendes-Gewerbe/_inhalt.html. Ständig aktualisierte Informationen zur Situation der deutschen Industrie. Dort findet sich auch diese interessante Datenreihe: Erwerbstätige im Inland nach Wirtschaftssektoren. Und: Externer Link: www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Industrie-Verarbeitendes-Gewerbe/_inhalt.html Bis in die 50er Jahre zurückreichende Daten zu den Beschäftigungsanteilen der Sektoren in Deutschland.
Ifo Institut, Ifo Konjunkturperspektiven, Externer Link: www.ifo.de/publikationen/2024/zeitschrift-einzelheft/ifo-konjunkturperspektiven-112024. Detaillierte monatliche (zahlenlastige) Darstellung der Lage in den einzelnen Branchen gemäß den regelmäßigen Umfrage des Münchner Wirtschaftsforschungsinstituts ifo.
Mario Draghi (2024), The Future of European Competitiveness, Externer Link: https://commission.europa.eu/topics/strengthening-european-competitiveness/eu-competitiveness-looking-ahead_en. Der frühere Chef der Europäischen Zentralbank und ehemalige italienische Ministerpräsident hat eine ebenso umfassende wie erschreckende Analyse der EU im internationalen Produktivitätsvergleich verfasst, mit Einzelanalysen für wichtige Sektoren.
Stifterverband für die deutsche Wissenschaft (2023), Zahlenwerk 2023, Externer Link: www.stifterverband.org/sites/default/files/2023-07/zahlenwerk_2023.pdf. Daten und Fakten zu den Aktivitäten in Forschung und Entwicklung in Deutschland.
Jonathan Haskel und Stian Westlage (2017), Capitalism without Capital: The Rise of the Intangible Economy. In diesem Buch liefern die beiden britischen Ökonomen eine gut lesbare, auch für Laien verständliche Analyse der Transformation der Wirtschaft hin zu geistigen Produktionsfaktoren und den Folgen.