Doch es folgten weitere Schocks: Infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine explodierten die Energiepreise. Die Inflation zog empfindlich an und erwies sich als hartnäckiger als zunächst erwartet. Die Zinsen stiegen rapide. Unsicherheit über die weitere geoökonomische Entwicklung breitete sich aus. All das lastet bis heute auf der deutschen Wirtschaft, die seit 2020 im Mittel stagniert.
⏩ Was passiert als nächstes?
In Deutschland hat die Schuldenbremse in den 2010er Jahren geholfen, ein Abgleiten in die roten Zahlen zu verhindern. Allerdings hat sie auch dazu beitragen, dass der Staat sich bei den Investitionen zurückgehalten hat. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („Fünf Weise“) rechnet in seinem jüngsten Jahresgutachten vor, dass die öffentlichen Investitionen in den vergangenen Jahrzehnten kaum den Wertverzehr durch Abnutzung und Veraltung (Abschreibungen) überstiegen haben. Wichtige Bereiche wie Bildung, Verkehrs- und Datennetze sowie die Bundeswehr sind deshalb heute in schlechtem Zustand.
Der relativ dürftige Zustand öffentlicher Güter belastet inzwischen die Wirtschaft. Baufällige Brücken und Bahntrassen sowie wenig leistungsfähige Datennetze behindern Unternehmen und Bürger. Zudem mahnen Sicherheitsexperten dringend, die Verteidigungsfähigkeit zu verbessern. Denn Russland und seine Unterstützer bedrohen auch Mittel- und Westeuropa. Dass unter dem künftigen US-Präsidenten Donald Trump die Nato-Beistandszusage für Europa in Frage steht, verschlechtert die Sicherheitslage zusätzlich. Und sowohl das Erreichen der Klimaziele als auch die Erneuerung der deutschen Industrie wird in den kommenden Jahren Mehrinvestition in Höhe von jährlich 100 Milliarden Euro fordern, wie die Beratungsfirma Boston Consulting 2021 für den Bund der deutschen Industrie (BDI) vorrechnete.
Ein Blick auf den Bundeshaushalt zeigt, wie eng die Spielräume unter den gegenwärtigen Schuldenregeln sind. An den vier größten Ausgabenposten lässt sich kurz- bis mittelfristig kaum etwas ändern. Im Haushaltsentwurf des Bundes für 2025, der insgesamt Ausgaben in Höhe von gut 489 Milliarden Euro vorsah, entfallen 117,6 Milliarden Euro auf Zuschüsse zur Rentenversicherung, 57,4 Milliarden auf die Verteidigung (dazu kommen weitere Gelder aus dem „Sondervermögen Bundeswehr“, ein 2022 geschaffener Nebenhaushalt, der bald ausgeschöpft sein wird), 41,3 Milliarden auf Bürgergeld, Wohngeld und ähnliche Sozialleistungen, 37,9 Milliarden auf Zinszahlungen auf die Bundesschuld. Zusammen machen diese Positionen etwa die Hälfte der Ausgaben des Bundes aus. Alle anderen Haushaltsposten sind gemessen daran klein.
Bei den großen Budgetpositionen lässt sich bestenfalls auf mittlere Sicht der Anstieg bremsen, aber kaum schnell und drastisch kürzen: Wegen der steigenden Zahl von Alten wächst der Bundeszuschuss zur Rente in der Tendenz weiter. Höhere Zinsen verteuern den Schuldendienst. Bei der sozialen Grundsicherung muss der Staat ein Existenzminimum gewähren. Bei den Verteidigungsausgaben dürfte angesichts der Bedrohungslage eine Aufstockung um mindestens die Hälfte nötig sein, um das Nato-Ziel von zwei Prozent des BIP zu erreichen. Womöglich sind aber noch deutlich größere Wehretats nötig. Polen gibt beispielsweise vier Prozent des BIP aus, soviel wie die Bundesrepublik während des Kalten Kriegs.
🤑 Wer will was?
Dass ein Lockern der Schuldenbremse nötig ist, diese Haltung erhält mehr und mehr Unterstützung. SPD, Grüne und Linke treten schon länger dafür ein. Sondertöpfe sollen helfen, den öffentlichen Investitionsstau zu finanzieren. Union und FDP wollen die Schuldenbremse beibehalten und setzen vor allem darauf, durch wirtschaftsfreundliche Reformen das Wachstum und damit die Steuereinnahmen zu erhöhen. Doch auch Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) hat sich kürzlich in einem Interview offen für die Idee gezeigt, staatliche Investitionen unter bestimmten Bedingungen auszunehmen.
Die Fünf Weisen schlagen vor, die Schuldenbremse durch Mindestquoten für „zukunftsorientierte öffentliche Ausgaben“ (Bildung, Verkehr, Verteidigung) zu ergänzen –damit künftig nicht mehr an der falschen Stelle gespart wird. Außerdem wollen sie die Ausnahmeregeln flexibilisieren, die während Wirtschaftskrisen („Notlagen“) gelten.
Absehbar wird das Ringen um die Tragfähigkeit und die Struktur des Staatshaushalts die wirtschaftspolitischen Debatten der kommenden Jahre bestimmen. Bei stagnierender oder sogar schrumpfender Wirtschaft (siehe: Interner Link: Zahlen, bitte! #1) gibt es prinzipiell drei Handlungsoptionen, die allerdings allesamt mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden sind: mehr Schulden; Steuererhöhungen, insbesondere auf hohe Einkommen; Ausgabenkürzungen, vor allem beim großen Posten Rente und Soziales.
Es wäre nicht überraschend, wenn die Lösung letztlich in einer Mischung aus allen drei Strategien bestünde.
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🧐 Wer weiß mehr?
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2024/25.Externer Link: https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/jahresgutachten-2024.html Die Fünf Weisen liefern in einem umfangreichen Kapitel (S. 83-155) einen Überblick über die Schulden- und Investitionsproblematik und stellen einen eigenen durchgerechneten Reformvorschlag vor.
Internationaler Währungsfonds (IWF): Jährlicher Länderbericht 2024 https://www.imf.org/en/Publications/CR/Issues/2024/07/17/Germany-2024-Article-IV-Consultation-Press-Release-Staff-Report-and-Statement-by-the-552080. Der IWF analysiert die Stabilität der Staatsfinanzen sowie des Finanzsektors. Auch die Washingtoner Experten plädieren für eine Reform der Schuldenbremse. Beim IWF findet sich zudem eine hochinteressante Langzeitdatenbank, der die historischen Zahlen in Abbildung 3 entnommen sind. Externer Link: https://www.imf.org/external/datamapper/d@FPP/USA/FRA/JPN/GBR/SWE/ESP/ITA/DEU
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): Wirtschaftsbericht Deutschland Externer Link: https://www.oecd-ilibrary.org/economics/oecd-wirtschaftsberichte-deutschland_19990278. Überblick über die Entwicklung der deutschen Wirtschaft, insbesondere mit Blick auf den anstehenden Umbau der Energie- und Verkehrssysteme in Richtung Klimaneutralität. Erschienen im Mai 2023, also nicht mehr topaktuell.
Bundesfinanzministerium (BMF): Die Website des BMF Externer Link: https://www.bundeshaushalt.de/DE/Bundeshaushalt-digital/bundeshaushalt-digital.html bietet die Möglichkeit, sich durch das Zahlenwerk des Bundeshaushalts in vielen Grafiken und Zahlen zu klicken.
Henrik Müller (2023): Challenging Economic Journalism. Covering Business and Politics in an Age of Uncertainty. Palgrave Macmillan. Externer Link: https://www.springerprofessional.de/challenging-economic-journalism/25522428 In Kapitel 3 wird der Zielkonflikt zwischen Effizienz, Stabilität, Nachhaltigkeit (Sustainability) und Gerechtigkeit (Fairness) dargelegt und der sachgerechte Umgang im öffentlichen Diskurs (gemäß „ESSF-Formel“) thematisiert.