Zwar dreht sich die Debatte vor allem um Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge. Doch die Abgrenzung zu anderen Formen von Zuwanderung verschwimmt zuweilen. So ist in rechtsradikalen Milieus die Forderung nach einer „Remigration“ laut geworden, die letztlich auf die Deportation von Millionen Bundesbürgern mit Migrationshintergrund hinausliefe – eine inhumane, wirklichkeitsfremde und verfassungswidrige Idee.
⚠️ Wo ist das Problem?
Angesichts der aufgeheizten Debatte drohen zwei grundlegende Fakten in Vergessenheit zu geraten:
Erstens, die deutsche Gesellschaft hat zu einem beträchtlichen Teil ausländische Wurzeln. Ein Viertel der hier Lebenden sind im Ausland geboren oder Kinder von Zuwanderern. 13,9 Millionen dieser Menschen sind (noch) keine deutschen Staatsbürger.
Diese Diversität sollte nicht überraschen. Schließlich ist Deutschland seit den 1960er Jahren ein Einwanderungsland. Im Durchschnitt der Jahre 1960 bis 2000 lag die Nettoimmigration (die Differenz von Ein- und Auswanderung) bei rund 221.000 Personen jährlich. In den Nullerjahren sank der Saldo auf 96.000 Personen jährlich ab. Nach 2010 zogen die Zahlen wieder deutlich an, was zunächst an der schlechten Wirtschaftsentwicklung anderswo in Europa lag, später auch am Zuzug von Schutzsuchenden, besonders aus den Kriegsländern Syrien und der Ukraine. Im Ergebnis kamen zwischen 2011 und 2023 im Schnitt 545.000 Personen pro Jahr nach Deutschland.
Hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine lebhafte Migrationsdynamik. 2023 beispielsweise zogen 1,93 Millionen her, während 1,27 Millionen das Land verließen. Im bisherigen Verlauf des Jahres 2024 ist die Migrationsdynamik abgeflaut, wie das Externer Link: Statistische Bundesamt feststellt, was insbesondere am verminderten Zuzug von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine liegt.
Zweitens, Deutschland ist für die Zukunft auf große Zuwandererzahlen angewiesen. Ohne den Zuzug aus dem Ausland wäre die deutsche Bevölkerung bereits in der Vergangenheit geschrumpft. Seit Ende der 1960er Jahre liegt die sogenannte Fertilitätsrate (Geburten pro Frau) so niedrig, dass die jeweilige Kindergeneration kleiner ist als die Elterngeneration. Die Erwerbsbevölkerung ist in den vergangenen Jahrzehnten dennoch gewachsen, was maßgeblich an der Zuwanderung liegt. Dies war auch der entscheidende Treiber hinter der guten Wirtschaftsentwicklung bis Ende der 2010er Jahre. (Siehe Interner Link: „Zahlen, bitte!“ #1)
In den kommenden Jahrzehnten wird die ansässige Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter erheblich schrumpfen. In den restlichen 2020er und 2030er Jahren erreichen die zahlenmäßig großen Jahrgänge der „Babyboomer“ das Ruhestandsalter. Die Vorboten dieser Entwicklung sind längst sichtbar. Unternehmen haben seit Jahren Schwierigkeiten, offene Stellen mit passend qualifizierten Kräften zu besetzen. Die Zahl der unbesetzten Stellen verharrt trotz wirtschaftlicher Stagnation auf hohen Niveaus.
Damit die Beschäftigung in den kommenden Jahrzehnten in etwa konstant bleibt, braucht die Bundesrepublik eine Nettozuwanderung von 400.000 Personen jährlich, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) berechnet hat.
Es gibt keine andere realistische Möglichkeit, auf Dauer die Beschäftigung zu stabilisieren: Dass Frauen in absehbarer Zukunft wieder im Schnitt drei oder mehr Kinder zur Welt bringen, wäre ein demografisches Novum; ein derart starker Anstieg der Fertilitätsraten ist praktisch nie zu beobachten. Auch die Ausweitung der Erwerbsbeteiligung oder der Arbeitszeiten stößt an Grenzen. Dass ein rapider Anstieg der Produktivität, ausgelöst etwa vom Einsatz Künstlicher Intelligenz, die demografische Lücke füllen könnte, ist nicht erkennbar. Seit einiger Zeit sinkt die Produktivität (Wirtschaftsleistung pro gearbeiteter Stunde) sogar.
Das heißt: Ohne Zuwanderung in den Arbeitsmarkt würde die Bundesrepublik massive Probleme bekommen – wirtschaftlich, finanziell und sozial. Es würde nicht nur an Beschäftigten fehlen, sondern auch an Steuer- und Sozialsicherungsbeitragszahlern. Auch medizinisches und pflegendes Personal, das einst die großen Babyboomer-Jahrgänge betreuen könnte, würde knapp.
📰 Ist das neu?
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich immer wieder Phasen mit hoher und solche mit geringerer Migrationsdynamik abgelöst.
Allerdings hat sich über die Zeit das Umfeld verändert. So hat die internationale Mobilität deutlich zugenommen: Die Grenzöffnungen der 80er und 90er Jahre, ein höherer Informations- und Bildungsstand auch in ärmeren Ländern sowie günstigere Verkehrsverbindungen haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Innerhalb Europas stieg insbesondere nach dem EU-Beitritt der mittelosteuropäischen Länder ab 2004 die Zahl der Bürger, die von ihrem Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes und Arbeitsplatzes Gebrauch machen. Die instabile geopolitische Lage, die sich in einer Vielzahl von bewaffneten Konflikten und Kriegen, darunter in Syrien und in der Ukraine, niederschlägt, hat den dortigen Abwanderungsdruck („Push-Faktoren“) erhöht.
Das Phänomen hoher Zuwandererzahlen ist also nicht neu. Allerdings übertreffen die heutigen Größenordnungen frühere Phasen deutlich. Die durchschnittliche jährliche Nettozuwanderung seit Anfang der 2010er Jahre liegt mehr als doppelt so hoch ist wie der langjährige bundesrepublikanische Durchschnitt. Große Zahlen an Neuankömmlingen stellen eine Herausforderung für die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft dar, zumal in Jahren wie 2015 und 2022, als jeweils mehr als zwei Millionen Personen ins Land kamen. Konkret lassen sich eine Überlastung vieler aufnehmenden Kommunen und zunächst hohe Kosten für Unterbringung und Sozialleistungen beobachten.
Die starke trendmäßige Zunahme der Migration ist übrigens kein rein deutsches Thema, sondern stellt eine internationale Entwicklung dar, die auch andere Länder beschäftigt. So ist in Großbritannien, das aus der EU ausgetreten ist, unter anderem um die Zuwanderung zu begrenzen, der Zuzug massiv gestiegen: Seit dem Brexit Anfang 2021 hat sich der Immigrationssaldo verdreifacht, schätzt das staatliche Statistikamt ONS.
In der Geschichte der Bundesrepublik war Zuwanderung zunächst überwiegend arbeitsmarktgetrieben. Ab den späten 1950er Jahren wurden gezielt „Gastarbeiter“ angeworben aus Italien, Spanien, Portugal, Jugoslawien, Griechenland und der Türkei, um den damaligen Arbeitskräftemangel in der Industrie zu lindern. Diese Phase endete in den 70er Jahren: Wegen steigender Arbeitslosenzahlen beschloss die damalige sozialliberale Bundesregierung einen „Anwerbestopp“. Seither wurden Ausländer vor allem aus humanitären Gründen ins Land gelassen, darunter Familienangehörige von Gastarbeitern sowie Kriegs- beziehungsweise Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien. Die Hürden zur Aufnahme einer Beschäftigung waren hoch, um inländische Arbeitnehmer vor Konkurrenz und Arbeitslosigkeit zu schützen.
Diese Zweiteilung zwischen humanitär und wirtschaftlich motivierter Zuwanderung bestimmt bis heute das Regelwerk. Zwar genießen Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten Freizügigkeit und können direkt in Deutschland tätig werden. Doch für Bürger aller übrigen Länder gilt das nicht. Eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, bleibt in der Praxis schwierig. Trotz inzwischen in Kraft getretenem „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ ist der Zuzug mit bürokratischen Hindernissen verstellt, wie Arbeitgeber beklagen.
Für Einwanderungswillige aus Nicht-EU-Ländern stellt ein Asylantrag häufig den erfolgversprechendsten Zugang nach Deutschland dar. Wer auf diesem Weg ins Land kommt, darf jedoch nicht unmittelbar einen Job annehmen. Die Warteschleifen der Verfahren erschweren eine rasche Integration, was durchaus gewollt ist, denn im Falle einer Ablehnung müssen die Betroffenen gegebenenfalls Deutschland wieder verlassen.
Die Immigrationspolitik in ihrer gegenwärtigen Form steckt in einer Zwickmühle: Einerseits werden qualifizierte Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten dringend benötigt. Andererseits sollen sich potenzielle Asylbewerber mit geringen Anerkennungschancen möglichst gar nicht erst auf den Weg machen.
Allerdings ist die Integration in den Arbeitsmarkt keineswegs chancenlos. So kommt eine Externer Link: IAB-Studie zu dem Ergebnis, dass von den Schutzsuchenden, die zwischen 2013 und 2019 nach Deutschland kamen, die allermeisten nach acht Jahren einer regulären Beschäftigung nachgingen. Bei den Männern waren es 86 Prozent, ein Wert deutlich über dem deutschen Durchschnitt. In den ersten drei Jahren nach Ankunft jedoch war nur eine Minderheit erwerbstätig. Bei den Frauen hatten auch nach acht Jahren in Deutschland nur 33 Prozent einen Job.
⏩ Was passiert als nächstes?
Bis 2026 soll der neue "Asyl- und Migrationspakt" der EU in Kraft treten. Asylbewerber sollen dann Anträge an den Außengrenzen stellen und diese gar nicht erst übertreten. Diejenigen, die in die EU kommen, sollen über ein Quotensystem auf die Mitgliedstaaten verteilt werden. Wie dieses System in der Praxis funktionieren wird, muss sich erweisen.