#1 Warum wächst Deutschlands Wirtschaft nicht mehr?
👋 Hey! Es ist Freitag, der 6. September, und hier kommt die erste Ausgabe von Interner Link: “Zahlen, bitte!”. Henrik Müller erklärt, was letzten Monat in der Wirtschaftspolitik wichtig war. Deutschlands Wirtschaft wächst nicht mehr. Aber warum eigentlich? Was hat das mit der immer älter werdenden Gesellschaft zu tun? Und was kann man dagegen tun?
Von Henrik Müller
🤔 Was ist los?
Deutschland erlebt eine ausgedehnte Phase schwachen Wirtschaftswachstums. Mitte 2024 lag das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also die Wirtschaftsleistung, inflationsbereinigt in etwa auf dem Niveau von Ende 2019. Auch im zweiten Quartal ist die Wirtschaftsleistung Externer Link: geschrumpft, nachdem schon 2023 das BIP geschrumpft war. Immer wieder haben Wirtschaftsforscher einen „Aufschwung“ oder eine „Erholung“ vorgesagt. Bislang ist eine Rückkehr zu stabilem Wachstum aber ausgeblieben.
Die enttäuschende Wirtschaftsentwicklung ist inzwischen auch ein politisches Thema. Voriges Jahr hat die Bundesregierung ein „Externer Link: Wachstumschancengesetz“ vorgelegt, das im Herbst 2023 vom Bundestag Externer Link: verabschiedet wurde. Zentraler Baustein dabei ist die steuerliche Förderung von Investitionen. Messbare Wirkungen sind bislang ausgeblieben.
In der Wirtschaft macht sich zunehmend Nervosität breit. Die Unternehmen schätzen die Geschäftslage deutlich schlechter ein als in den 2010er Jahren. Auch was die Zukunftsaussichten angeht, sind sie pessimistischer als damals. Im Sommer 2024 sind die Werte, die das Ifo-Institut in Externer Link: Umfragen bei Firmen ermittelt, noch weiter zurückgegangen.
Auch die Bürgerinnen und Bürger sind zunehmend beunruhigt. In Externer Link: Umfragen nimmt der Anteil derjenigen zu, die die Wirtschaftslage für problematisch halten. Zugleich konsumieren die Bürger weniger und legen vorsichtshalber mehr Geld zur Seite: Die Sparquote lag im ersten Halbjahr deutlich über den Werten der vergangenen Jahre.
⚠️ Wo ist das Problem?
Deutschland steckt nicht in einer Rezession, sondern in einer schleichenden Strukturkrise. Die Unterscheidung ist wichtig, denn beides wird in der öffentlichen Debatte oft vermischt.
Rezessionen kommen mit gewisser Regelmäßigkeit vor. Auf Phasen von geschäftlichem und gesellschaftlichem Optimismus folgen immer wieder Zeiten der Ernüchterung. Unternehmen kürzen dann Investitionsprojekte zusammen. Bürger halten sich beim Konsum zurück. Der Export in andere Länder entwickelt sich verhalten – in der Summe geht die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und damit die gesamte Wirtschaftsleistung zurück. Produktionskapazitäten liegen brach; Beschäftigte verlieren Jobs, die Arbeitslosigkeit steigt.
Für Rezessionen gibt es häufig konkrete Auslöser, darunter negative finanzwirtschaftliche, politische oder technologische Entwicklungen. Regierungen und Notenbanken haben ein reichhaltiges wirtschaftspolitisches Instrumentarium entwickelt, mit dem sie einer kurzfristigen Schrumpfung der Wirtschaft entgegenwirken können. Dazu gehören Zinssenkungen und Wertpapierkäufe der Notenbanken, Kurzarbeiter- und Arbeitslosengeld, staatliche Investitionsprogramme und pauschale Einkommensbeihilfen. Das konjunkturpolitische Ziel besteht stets darin, ein Wegbrechen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage abzufedern, um eine nachhaltige Destabilisierung der Wirtschaft und der Gesellschaft zu verhindern. Rezessionen sind typischerweise kurz. Meist sind sie nach weniger als einem Jahr vorbei.
Bei einer Strukturkrise liegen die Dinge anders. In diesem Fall schwächelt eine Volkswirtschaft, weil ihr produktives Potenzial nicht mehr zunimmt. Möglich ist auch, dass Produkte, Prozesse, Geschäftsmodelle und Branchenzusammensetzungen nicht mehr den aktuellen Bedarfen und Anforderungen entsprechen.
Moderne Gesellschaften sind an stetigen Fortschritt und eine immer weiter fortschreitende Verbesserung der Lebensbedingungen gewöhnt. Beides ist ohne Wirtschaftswachstum kaum zu erreichen. Wachstum wirkt sich auch auf andere Indikatoren wie Lebenszufriedenheit, Lebenserwartung und Geburtenzahlen aus.
Wichtig ist vor allem die Entwicklung des BIP pro Einwohner. Wenn die Bevölkerung wächst, muss auch die Wirtschaft entsprechend mitwachsen, sonst sinkt der Lebensstandard. Deutschlands Bevölkerung wächst nach wie vor leicht (durch Zuwanderung). Entsprechend bedeutet eine stagnierende Wirtschaft einen Rückgang des Wohlstandsniveaus. Tatsächlich lag das BIP pro Einwohner 2023 preisbereinigt um rund 350 Euro unter dem Wert von 2019.
📰 Ist das neu?
Seit ihrer Gründung hat die Bundesrepublik noch nie eine derart ausgedehnte Schwächephase erlebt. Überhaupt ist es erst das achte Mal, dass die jährliche Wirtschaftsleistung zurückgegangen ist. Nach dem langen Boom der Nachkriegsjahre kam es 1967 zu einer ersten leichten Rezession, die damals für viel Aufsehen und politische Aktivität sorgte, weil man sich um die gesellschaftliche Stabilität sorgte. In den 70er und frühen 80er Jahren lösten die zwei Ölschocks, gefolgt von kräftigen Zinserhöhungen durch die westlichen Notenbanken, einen kurzzeitigen Rückgang des BIP aus. In den 2000er Jahren waren Exzesse der Finanzmärkte die Ursache: zunächst das Platzen der Dotcom-Blase, dann die Finanzkrise von 2008/09. Die Corona-Pandemie von 2020/21 und die damit einhergehenden Lockdowns und Lieferengpässe lassen sich als Naturkatastrophe werten.
Demgegenüber hat die derzeitige Wirtschaftskrise nicht eine einzige konkrete Ursache. Vielmehr kommen verschiedene geoökonomische, technologische und demografische Faktoren zusammen. Zwar haben die Zinserhöhungen, mit denen die Europäische Zentralbank und andere Notenbanken in den Jahren 2022 und 2023 die Inflation bekämpfen wollten, die Wirtschaft gebremst. Zudem haben die im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine 2022 zwischenzeitlich stark gestiegenen Energiepreise Industriezweige in Mitleidenschaft gezogen, die energieintensiv produzieren, etwa die chemische Industrie.
Häufig wird jedoch übersehen, dass die Industrieproduktion bereits seit 2018 schrumpft, wie das Statistische Bundesamt Externer Link: berechnet hat. Für Deutschland ist das schmerzhaft, weil die Industrie hierzulande einen im internationalen Vergleich immer noch großen Anteil an der Wertschöpfung ausmacht.
Die Ursachen des Erodierens der Industrie sind vielfältig: Die Phase des raschen Aufholens in den Schwellenländern, vor allem in China, ist vorbei, und dortige Produzenten können inzwischen vieles selbst herstellen. Entsprechend sind sie weniger auf importierte Maschinen, Anlagen und Vorprodukte aus Deutschland angewiesen. Dazu kommen geopolitische Verwerfungen zwischen dem Westen einerseits und der Allianz der Autokratien um Russland und China, die sich in Sanktionen und Embargos niederschlagen. So hat die Europäische Union (EU) als Reaktion auf Russlands Angriff auf die Ukraine vielen Unternehmen verboten, mit Russland Handel zu treiben. Auch die USA steuern inzwischen einen deutlich protektionistischen Kurs, der heimische Unternehmen subventioniert und auch europäische Importe mit Zöllen bedroht.
Schließlich ist die größte deutsche Industriebranche, die Autobauer, von der holprigen Wende hin zur Elektromobilität bedroht. Führend sind Hersteller in anderen Ländern, darunter der US-Konzern Tesla sowie chinesische Produzenten wie BYD, von deren Existenz noch vor wenigen Jahren kaum jemand im Westen etwas wusste.
Die Bundesrepublik hat immer wieder Phasen eines Strukturwandels erlebt, etwa das allmähliche Schrumpfen der Stahlindustrie an Rhein, Ruhr und Saar in den 70er und 80er Jahren. Derzeit steckt die deutsche Volkswirtschaft jedoch in einer noch tiefgreifenderen Transformation, die tatsächlich historisch neu ist.
Die untere Abbildung zeigt, welche Faktoren das unterliegende Wachstum („Potenzialwachstum“, also den jährlichen Zuwachs an Produktionskapazitäten) beeinflussen, basierend auf einer Externer Link: Schätzung der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute. Deutschland kommt demnach nur noch auf Werte von 0,5 Prozent pro Jahr; in den 2010er Jahren war es dreimal soviel. Eine Ursache für diesen rapiden Rückgang ist die demografische Entwicklung. Vor allem weil die großen Jahrgänge der in den 50er und 60er Jahren Geborenen allmählich in Rente gehen, werden passend qualifizierte Arbeitskräfte knapp. Zuwanderung allein wird den Rückgang voraussichtlich nicht kompensieren können.
Die Hoffnungen beruhen darauf, dass Investitionen in physisches und geistiges Kapital den Rückgang an Arbeitskräften wettmachen. Bislang ist davon in den Zahlen allerdings nichts zu sehen. Aktuell gehen die Investitionen in geistiges Eigentum (etwa in Patente für neue Erfindungen) sogar zurück, weil die Unternehmen Ausgaben für Forschung und Entwicklung kürzen; auch die Bundesländer sparen bei Forschung und Hochschulen, weil sie die Schuldenbremse einhalten müssen.
🤑 Wer will was?
Weitgehender Konsens herrscht inzwischen darüber, dass Deutschlands gegenwärtige Probleme auf der Angebotsseite der Volkswirtschaft liegen. Entsprechend sind Rufe nach nachfrageseitigen Maßnahmen, etwa Zinssenkungen der Zentralbank oder nationale Konjunkturprogrammen, praktisch nicht zu hören.
Dissens gibt es dennoch. Auf der linken Seite des politischen Spektrums geht es vor allem um staatliche Investitionen und Subventionen für private Investitionen in neue Branchen und Prozesse, insbesondere in die Energiewirtschaft und die energieintensive Industrie. Dafür solle die „Schuldenbremse“ – jene grundgesetzliche Regel, die die staatliche Kreditaufnahme in konjunkturell normalen Zeiten weitgehend verbietet – reformiert oder abgeschafft werden. Bei den Konservativen will man von Lockerungen der Schuldenbremse nichts wissen und plädiert eher für Steuersenkungen für Unternehmen und Bürokratieabbau, um private Investitionen zu ermöglichen.
Keine Seite fordert einen gesetzlich festgeschriebenen späteren Renteneintritt, obwohl dies helfen würden, den demografisch bedingten Rückgang an Arbeitskräften zumindest abzufedern. Weitgehenden Konsens gibt es aber darüber, die Erwerbstätigkeit über das Erreichen der Altersgrenze hinaus finanziell attraktiver zu machen. Der erleichterte Zuzug von Fachkräften aus dem Ausland wird prinzipiell auf beiden Seiten unterstützt. Jedoch gibt es Zweifel an der sozialen Akzeptanz und der gesellschaftlichen Integrationsfähigkeit, die besonders lautstark von rechtspopulistischen Kräften geäußert wird.
Daneben geht es gerade Vertretern der Wirtschaft um eine Stärkung des EU-Binnenmarkts, um Deutschland und Europa insgesamt widerstandsfähiger zu machen, was insbesondere der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) Externer Link: fordert, bislang mit geringer Resonanz in Deutschland.
⏩ Was passiert als Nächstes?
Da es sich um eine angebotsseitige Krise handelt, ist mit einer raschen Erholung nicht zu rechnen. Es entstehen bereits weniger neue Jobs. Bei nach wie vor hohen Zuwandererzahlen dürfte die Arbeitslosigkeit allmählich steigen. Im Bundestagswahlkampf 2025 dürfte das Thema Wachstumsschwäche daher eine große Rolle spielen.
Zum Weiterlesen empfehlen sich insbesondere folgende Schriften:
Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2024). „Deutsche Wirtschaft kränkelt – Reform der Schuldenbremse kein Allheilmittel“, Gemeinschaftsdiagnose #1-2024, Externer Link: https://gemeinschaftsdiagnose.de/wp-content/uploads/2024/04/IfW_Kiel_GD_1_2024_RZ2_WEB.pdf. Halbjährlicher Bericht zur konjunkturellen Lage und Wirtschaftspolitik durch die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute; interessant ist insbesondere die Projektion des Produktionspotenzials (ab Seite 60).
Jonathan Haskel, Stian Westlake (2022). Restarting the Future. How to Fix the Intangible Economy. Princeton University Press, Externer Link: https://press.princeton.edu/books/hardcover/9780691211589/restarting-the-future. Inspirierender Blick von zwei britischen Ökonomen auf die Wachstumsschwäche westlicher Volkswirtschaften sowie innovative Reformansätze, zumal hinsichtlich der Bedeutung immaterieller Wirtschaftsgüter („Intangibles“).
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