Wie sieht die künftige Energieversorgung Europas aus?
Jacopo Maria Pepe
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Die rasant gestiegenen Gaspreise werfen Fragen für die Energieversorgung der EU auf – umso mehr, wenn an den Klimazielen der Union festgehalten werden soll. Der Berliner Politologe Jacopo Maria Pepe zweifelt, ob die EU ihre Ziele einer grünen Transformation erreichen kann.
Seit der Unterzeichnung des Pariser Klimaabkommens 2015 und der Verabschiedung des Interner Link: European Green Deal vier Jahre später zählen globale klimapolitische Verpflichtungen und die "grüne" Transformation zu den höchsten Prioritäten der Europäischen Union (EU). Um die Erderwärmung auf unter zwei Grad Celsius zu begrenzen, hat sich die EU verpflichtet, bis 2030 die Emissionen um mindestens 55 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 zu reduzieren und bis 2050 zum ersten klimaneutralen (engl. net zero) Kontinent zu werden. Dafür müssen das Energiesystem und die Energieversorgung der Mitgliedsstaaten dekarbonisiert werden. Denn die Erzeugung und der Verbrauch fossiler Energien sind immer noch für 75 Prozent der EU-weiten Treibausgasemissionen verantwortlich.
Bis zur russischen Invasion in die Ukraine basierte der Plan für die Transformation der europäischen Energiesysteme bis 2030 auf drei Säulen: Energieeffizienz, dem Ausbau Erneuerbarer Energien und dem Wasserstoffmarkthochlauf, in dieser zeitlichen Abfolge.
Dem Plan lagen zwei Annahmen zu Grunde:
Erstens ein sinkender Verbrauch fossiler Energieträger wie Kohle und Erdöl bis 2030 bei gleichzeitig dauerhaft sinkender Preisentwicklung der Produktion Erneuerbarer Energien. Dabei stufte die EU das relativ emissionsarme und vielfältig angewendete Erdgas als "Brückentechnologie" ein.
Zweitens eine stabile, für manche EU-Länder wie Deutschland vorwiegend durch russische Importe gesicherte Gasversorgung. Den Bezug des russischen Erdgases wollte man erst nach dem Auslaufen langfristiger Verträge beenden. Bis dahin sollte Gas – insbesondere für Deutschland – eine Schlüsselrolle als indirekter Garant der Energietransformation spielen.
Der Überfall auf die Ukraine, der Wegfall russischer Lieferungen und die dadurch verursachte Verschärfung der Energiepreiskrise hat nun der EU vor Augen geführt, dass Energieversorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Wettbewerbsfähigkeit nicht selbstverständlich sind. Die langfristigen Klimaziele können zwar die Energieversorgung auf eine neue Basis stellen und auch dabei helfen, eine stabile, sichere und geopolitisch unabhängige Versorgung zu gewährleisten. Eine Sicherung der Versorgung mit fossilen Energieträgern bleibt aber kurzfristig unabdingbar, auch um die Transformation auf eine stabile Basis zu stellen. Deshalb ist es sehr wahrscheinlich, dass die zeitliche Abfolge des EU-Energieplans revidiert werden muss. Entsprechend müssten dessen Ziele gleichzeitig und schneller verfolgt werden, inklusive der Sicherung der fossilen Energieversorgung.
Kurz nach dem 24. Februar 2022 hat sich die EU-Kommission mit dem REPowerEU-Programm noch einmal deutlich hinter die klimapolitischen Ziele von Paris und ihren Green Deal gestellt und die Prioritäten neu austariert. Das russische Gas soll nun schnell durch die Diversifizierung von Lieferanten und Infrastruktur ersetzt, Energieeffizienz und – kurzfristig – die Einsparpotenziale sollen gesteigert werden. Dazu wurde ein beschleunigter Ausbau der Erneuerbaren Energien beschlossen: Das europäische Ziel wurde bis 2030 von 40 auf 45 Prozent angehoben. Ähnlich beim (grünen) Wasserstoff: Bis 2030 gibt es nun das Ziel, etwa zehn Millionen Tonnen in der EU zu produzieren, weitere zehn Millionen Tonnen sollen jährlich importiert werden.
Anteil der Fossilen am EU-Energiemix bei 70 Prozent
Der Anteil Erneuerbarer Energie am EU-Strommix betrug 2020 zwar 38 Prozent und überstieg somit den Anteil fossiler Energieträger Gas und Kohle. Die Sektoren Industrie, Verkehr und Wärme sind aber weiterhin für einen hohen fossilen Anteil an EU-Energie-Gesamtmix verantwortlich: Im Jahr 2020 hatten Erdgas, Erdöl und Erdölprodukte hier einen Anteil von 60 Prozent. Wenn man Kohle dazurechnet, steigt der Anteil auf über 70 Prozent. Heimische fossile Energiequellen, insbesondere Erdgas, sind dagegen seltener verfügbar. Ihre Förderung nimmt sogar ab, was die Abhängigkeit von fossilen Importen erhöht: Vor dem Krieg führte die EU 75 Prozent ihres Erdöls und ihrer Erdölprodukte sowie etwa 30 Prozent ihres Gases und rund fünf Prozent ihrer Kohle ein. Dabei war Russland zentral: von dort kamen im Jahr 2020 etwa 29 Prozent des importierten Erdöls und der Erdölprodukte, 43 Prozent des importierten Erdgases und 54 Prozent der importierten Kohle. Der Wegfall russischer Gaslieferungen wirft nun angesichts der angespannten Marktlage und der mittelfristigen Angebotsknappheit von Flüssigerdgas (LNG, Abkürzung für engl. Liquified Natural Gas) einen Schatten auf die Zukunft der "Brückentechnologie".
In den kommenden zwei bis drei Jahren wird die Rolle von Erdgas auch über die längerfristige Zukunft einer emissionsfreien EU-Energieversorgung entscheiden. Industrie und Haushalte waren zusammen mit dem Stromsektor im Jahr 2020 etwa für zwei Drittel des unionsweiten Gasverbrauches verantwortlich. In Ländern wie Deutschland oder Italien lag dieser Anteil sogar noch höher. Angesichts des weiterhin geplanten Kohleausstiegs bleibt Erdgas kurz- bis mittelfristig zudem auch im Stromsektor entscheidend für die Netzstabilisierung.
Nach dem Wegfall russischer Lieferungen können Investitionen in neue LNG-Infrastruktur – insbesondere in Terminals zum Umschlag des Gases – sowie der massive Einkauf von LNG auf den globalen Märkten zweifelsohne für eine gewisse Stabilität sorgen. Es wird der EU und insbesondere Mitgliedsländern wie Deutschland, Tschechien oder Italien wahrscheinlich möglich sein, den Winter 2022 ohne russische Lieferungen zu überstehen. Voraussetzung dafür sind allerdings zum einen günstige klimatische Bedingungen und zum anderen nachfrageseitige Einsparungen. Zweifel an der Resilienz der Versorgung im Winter und an der Solidarität innerhalb der EU im Falle einer Gasmangellage in manchen Mitgliedsländern sind allerdings angebracht.
Angebotsseitig wird der Markt bis in die Jahre 2026/27 tendenziell unterversorgt bleiben. Erst nach diesem Datum sollen neue Projekte in den USA und Katar zusätzliche Volumina auf den Markt bringen. Die Preise dürften allerdings lange volatil und damit die Versorgung weniger stabil bleiben, da der Markt den starken Preiswettbewerb zwischen Asien und Europa auch nach 2027 noch widerspiegeln wird.
Zur Rolle von Erdgas als "Brückentechnologie"
Nachfrageseitig können hohe Preise den Gasverbrauch in der Industrie kurzfristig drücken, während stärkere Einsparungen vor dem Start der Heizsaison im Wärmesektor den privaten Verbrauch senken. Mittelfristig fördern hohe Gaspreise auch größere Energieeffizienz im Bausektor und in der Industrie, können aber gleichzeitig an der Wettbewerbsfähigkeit und sogar an der Existenz einiger Industriezweige in Europa zerren.
Vor dem Hintergrund dieses unsicheren Szenarios stellt sich die Frage nach der Rolle von Erdgas als "Brückentechnologie" akuter denn je. Die EU steht hier vor einem Dilemma: sollte Erdgas seine Funktion als "Brücke" auch nur teilweise beibehalten, werden die EU-Mitglieder ihre Importe in einem stark veränderten und volatilen globalen Marktumfeld sichern müssen. Dies hätte ungewisse Auswirkungen auf die Stabilität des Energie- und Industriesystems und somit auf die nötigen Transformationsprozesse insgesamt, insbesondere in Industrie und Verkehr.
Sollten hingegen der Strom- und Wärmesektor sowie die Industrie angesichts der prekären Marktlage eine beschleunigte "grüne" Gassubstituierung anstreben, würde dies aufgrund des zusätzlichen Strombedarfs in kürzester Zeit einen großen Anstieg der Produktionskapazitäten der Erneuerbaren und der Stromproduktion insgesamt erfordern. Ein solch starker Zuwachs erscheint jedoch unrealistisch. Infrastrukturelle, regulatorische und Produktionsengpässe könnten die Folge sein. Schon unter einem vor dem Krieg entwickelten "normalen" Szenario, welches die Nutzung von Erdgas als Brückentechnologie einpreiste, schien der prognostizierte Strombedarfsanstieg bis 2030 schwer zu decken zu sein.
Der Umbau der Produktionsprozesse in der Grundstoffindustrie hin zu grünem Wasserstoff, die Erhöhung der grünen Wasserstoffproduktion sowie die Beschleunigung der Elektrifizierung der Wärme und des Transportsektors werden für eine tiefe Dekarbonisierung entscheidend sein. Dadurch aber wird der europäische Strombedarf bis 2035 gegenüber dem heutigen Stand von 2.700 Terawattstunden (TWh) um 25 bis 50 Prozent steigen und sich bis 2050 sogar verdoppeln müssen.
Nicht nur schnellere Genehmigungsverfahren für Strom und Wind in energieintensiven Ländern wie Deutschland spielen dabei eine Schlüsselrolle. Auch der Ausbau der Transportinfrastruktur für Wasserstoff ("European Hydrogen Backbone") und von Stromtrassen sowohl innerhalb Europas als auch zwischen der EU und der Nachbarschaft, insbesondere Nordafrika, dem östlichen Mittelmeer, Südosteuropa und dem skandinavischen Raum, sind wichtig. Dabei darf nicht vergessen werden, dass der Bau von LNG-Infrastruktur klimapolitisch nur sinnvoll ist, wenn sie "H2-ready" ist, also mit der Möglichkeit, auf Wasserstoff und Wasserstoffprodukte umgerüstet werden zu können.
Es drohen neue, teils gefährliche Abhängigkeiten
Der Markthochlauf der grünen Wasserstoffwirtschaft steht vor gewaltigen Herausforderungen. Der hohe Gaspreis und die niedrigen grünen Stromerzeugungskosten erhöhen zwar die Wettbewerbsfähigkeit der grünen Wasserstoffproduktion. Um den Wasserstoffmarkthochlauf zu forcieren und schneller eine tiefgreifende Dekarbonisierung der energieintensiven Sektoren zu ermöglichen, ist allerdings nicht nur der dafür notwendige zusätzliche grüne Strombedarf enorm (über 500 TWh bis 2030). Auch der im REPowerEU Plan vorgesehene Zubau von Elektrolysekapazitäten (120 Gigawatt bis 2030) erscheint unrealistisch.
Die Sicherung von Importvolumen entlang der gesamten Wertschöpfungs- und Lieferkette sowie der massive Ausbau von Erneuerbaren verheißen zudem auch in einem Idealszenario neue, teils gefährliche Abhängigkeiten: China spielt nicht nur bei kritischen Rohstoffen und deren Veredelung eine Schlüsselrolle, sondern auch bei der Herstellung von Solarpanelen, Windturbinen und Elektrolyseuren. Beim Bau von kritischen Komponenten oder bei der Anwendung alternativer Technologien sind zudem Länder wie USA, Japan oder Großbritannien potenzielle Wettbewerber. Es gilt außerdem, die Stabilität neuer Wasserstofflieferländer in Afrika oder in der Golfregion sowie deren zum Teil von der EU abweichenden klima- und energiepolitischen Prioritäten zu berücksichtigen.
Vor diesem Hintergrund ist ein Ersatz von Gas im gesamten Energiesystem mittelfristig schwierig. Eine emissionsarme Energieversorgung, welche die übermäßige Gaslastigkeit schrittweise überwindet, ließe sich nur durch einen technologieneutraleren Ansatz erreichen. So könnten flexiblere Kriterien für die Definition von nachhaltigem Wasserstoff erlauben, neben "grünem" auch "blauen" oder "roten", emissionsarmen Wasserstoff zu importieren oder zu produzieren, um eine schnellere Marktskalierung zu ermöglichen, insbesondere für die schnelle Dekarbonisierung der Luftfahrt- oder der Grundstoffindustrie. Während für grünen Wasserstoff Erneuerbare Energien eingesetzt werden, benutzt man für "blauen" fossiles Erdgas, das entstehende CO₂ wird im Boden gespeichert. Beim "roten" Wasserstoff wird Atomstrom benutzt.
Im Stromsektor müsste man übergangsweise neben Erneuerbaren Energien und Erdgas auch Atomkraft weiterhin zulassen. Ein schnell skalierter Wasserstoffmarkt könnte hier auch für den weiteren Anstieg des EE-Anteils durch Brennstoffzellen als Zwischenspeicher sorgen. Allerdings sollte nicht unerwähnt bleiben, dass – neben der Atomverstromung – die Kohleverstromung derzeit noch kompetitiver als Gasverstromung und stabiler als grüne Verstromung ist.
An den Plänen zum Kohleausstieg hält die Europäische Union zwar derzeit fest. Und kurzfristig sind die durch Kohlekraftwerke zusätzlich verursachten Emissionen durch das Europäische Emissionshandelssystem auch gedeckt. Sollte allerdings der Gaspreis über mehrere Jahre hoch bleiben, die Gasversorgung ungenügend diversifiziert und/oder die Erneuerbaren nicht schnell genug ausgebaut werden, dann könnte Kohle auch strukturell wieder eine Rolle für die Energie- beziehungsweise die Stromversorgung spielen, mit direkten negativen Folgen auf die Dekarbonisierungsziele.
Energiepolitische Weichenstellungen unter großem (Zeit-)Druck
Die Weichen für die Energieversorgung der Zukunft müssen maßgeblich schon in den kommenden Monaten und Jahren unter ökonomischem wie politischem (Zeit-)Druck gestellt werden. Dadurch ergeben sich für die Entscheidungsträger große politische Dilemmata. Klimaneutralität bleibt höchste Priorität der EU – und ein energie-, klima- und nunmehr sogar geopolitisches Gebot. Das Festhalten an dem klimapolitisch ambitionierten Zeitplan wirft wegen der Entwicklungen auf dem Gasmarkt aber einen Schatten auf die zukünftige Energieversorgung der EU.
Die langfristigen Erfolgsaussichten für eine emissionsfreie und stabile Energieversorgung lassen sich momentan nur schwer prognostizieren. Aus der gegenwärtigen Situation und einigen absehbaren Trends lässt sich allerdings schließen, dass die zukünftige EU-Energieversorgung sicherlich nicht autark sein kann.
Energie ist die Lebensader unserer Gesellschaft. Als politischer Gegenstand erweist sie sich als Querschnittsthema unter anderem zwischen Klimaschutz, Sicherheit und Wirtschaft.
In den vergangenen Jahren ist der Anteil von russischen Gaslieferungen nach Deutschland im Verlauf gestiegen. Angesichts des russischen Angriffskriegs wird darüber debattiert.
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Jacopo Maria Pepe
Der Politologe Dr. Jacopo Maria Pepe beschäftigt sich bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) mit Energiepolitik und Handelsbeziehungen. Seit 2022 leitet er das SWP-Projekt "Geopolitik der Energiewende – Wasserstoff (GET H2)".