Die Europäische Union, die USA und weitere westliche Staaten haben auf Russlands Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 schnell und mit beispiellosen Externer Link: Sanktionen reagiert. Zwangsmaßnahmen, die bereits seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 bestanden, wurden umgehend verstärkt. Noch nie wurde ein so mächtiger Staat so umfassend sanktioniert. Die Russische Föderation kann als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat jede Resolution des Gremiums blockieren und verfügt – noch vor den USA – über die meisten Atomsprengköpfe weltweit. Auch das wirtschaftliche Gewicht Russlands ist (noch immer) bemerkenswert. Nicht nur ist das Land die elftgrößte Volkswirtschaft der Welt (die Wirtschaftsleistung ist etwas höher als die Spaniens), sondern auch ein bedeutender Exporteur von Öl, Gas und anderen strategisch bedeutenden Bodenschätzen. Mit diesen Machtressourcen ist die Russische Föderation ein äußerst untypisches Sanktionsziel.
Zudem haben die westlichen Staaten ihre Sanktionen – also wirtschaftliche (und diplomatische) Zwangsmaßnahmen, um ein politisches Ziel zu erreichen (in dem Fall den Rückzug Russlands aus der Ukraine) – immer weiter verschärft. Die EU hat bis Oktober 2022 sieben Sanktionspakete in Kraft gesetzt, ein achtes ist vom Europäischen Rat bereits angenommen worden. Diese Einigkeit ist umso bemerkenswerter, da gemäß der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik stets alle 27 EU-Mitgliedsstaaten zustimmen müssen.
Weltkarte der EU-Sanktionen
Die Externer Link: EU-Sanktionskarte ermöglicht es, alle nicht strafbewehrten Beschränkungen zu verfolgen, die die EU gegen außereuropäische Länder verhängt hat, darunter das Einfrieren von Vermögenswerten, Waffenembargos oder Einreisebeschränkungen. Sie enthält umfassende Angaben zu allen EU-Sanktionsregelungen und den entsprechenden Rechtsakten, einschließlich der vom UN-Sicherheitsrat angenommenen und auf EU-Ebene umgesetzten Regelungen.
Dazu gehören auch aktuelle Informationen über die Liste der Personen, Einrichtungen und Güter, die von den seit Februar 2022 gegen Russland verhängten Sanktionspaketen betroffen sind, sowie über alle Rechtsakte und Leitlinien, auf denen diese Beschränkungen beruhen.
Externer Link: https://www.sanctionsmap.eu
Die Sanktionen fallen dabei in drei Bereiche: Erstens geht es um umfassende Finanzbeschränkungen. In einem historisch beispiellosen Akt fror die EU direkt nach Beginn des Angriffskriegs russische Auslandsreserven in Höhe von etwa 300 Milliarden US-Dollar ein. Zahlreiche Banken wie die Sberbank, das größte russische Geldinstitut, sind mittlerweile vom internationalen Bankentransfersystem Swift, das mehr als 11.000 Banken weltweit nutzen, ausgeschlossen. Zudem ist die Platzierung und der Kauf von russischen Anleihen verboten: Russische Unternehmen stehen damit vor großen Problemen, sich Mittel auf dem internationalen Finanzmarkt zu beschaffen.
Der zweite Bereich umfasst Exportkontrollen, vor allem für Hochtechnologie (wie Mikrochips, Halbleiter und Software) und sogenannte Dual-Use-Güter, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke genutzt werden können. Westliche Staaten erteilen keine Genehmigungen mehr für den Export und die Wartung dieser Güter. Zum Beispiel dürfen keine Ersatzteile für Flugzeuge mehr geliefert werden. Dies ist umso gravierender, da drei von vier Passagiermaschinen in Russland aus den USA, Europa oder Kanada stammen. Zudem haben die Technologiesanktionen die russische Automobilindustrie schon jetzt schwer getroffen: Für Monate standen die Bänder still; in Russland produzierte Automobile und andere Fahrzeuge werden mittlerweile ohne Airbags und andere importierte Bauteile hergestellt.
Drittens richten sich individuelle Sanktionen direkt gegen Verantwortliche, die politische Elite und am Krieg beteiligte Firmen und Organisationen.
Ab 2023 Ölembargo gegen Russland
Im Juni 2022 hat die EU beschlossen, schrittweise die Einfuhr von russischem Erdöl mit Tankschiffen und später auch durch Pipelines zu verbieten. Da das meiste Öl auf dem Seeweg in die EU kommt, werden damit bis Ende 2022 rund 90 Prozent der russischen Erdöleinfuhren in die EU gestoppt. Spätestens im Februar 2023 wird ein nahezu vollständiges Ölembargo der EU gegen Russland greifen und der Preis russischen Öls voraussichtlich gedeckelt werden.
Die Russland-Sanktionen markieren damit vorläufig den Höhepunkt eines internationalen Trends: Wie im Fall von Iran oder Syrien wirken Sanktionen wieder umfassender und treffen damit weite Teile der Wirtschaft und potenziell die Bevölkerung in den Zielländern.
Bislang wirkt die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl jedoch als Achillesverse des westlichen Sanktionsregimes. Allen voran die Ölexporte machten im vergangenen Jahr mehr als ein Drittel des russischen Staatshaushalts aus. Für lange Zeit waren Öl und Gas nicht von den europäischen Sanktionen betroffen. Seit der Invasion haben europäische und andere Staaten deshalb weiter Milliardensummen für Öl- und Gas-Lieferungen an Russland überwiesen. Zudem nutzt Präsident Putin diese Abhängigkeit offensichtlich für seine Machtpolitik. Russland hat vor dem Winter den Gasfluss durch Nord Stream 1 ganz und durch andere Pipelines auf ein Minimum gedrosselt.
Offensichtlich durch Sabotage wurden die Pipelines Nord Stream 1 und 2 (eine der zwei Röhren) im September 2022 zerstört. Zudem erklärte Präsident Putin nach Scheinreferenden die ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja – ähnlich wie zuvor die Krim – völkerrechtswidrig zu russischem Staatsgebiet. Sind die westlichen Sanktionen gegen Russland also wirkungslos?
Sanktionen wirken erst mittel- oder langfristig
Grundsätzlich sollen Wirtschaftssanktionen den Preis einer Handlung – in dem Fall des völkerrechtswidrigen russischen Einmarschs in der Ukraine – in die Höhe treiben und damit die Kosten-Nutzen-Rechnung des Gegenübers (der russischen Regierung) verändern und es zum Einlenken zwingen. Man sollte bei der Bewertung von Sanktionen jedoch stets zwischen wirtschaftlichen und politischen Kosten unterscheiden.
Die sozialwissenschaftliche Sanktionsforschung hat wiederholt festgestellt, dass sich gerade in Autokratien wirtschaftliche Kosten nicht automatisch in Druck auf die Herrschenden übersetzen. Eine durch Sanktionen hervorgerufene oder beförderte Wirtschaftskrise führt nicht zwangsläufig dazu, dass sich die Bevölkerung auflehnt oder Präsident Putin den Rückhalt der politischen Elite verliert. Bislang hat der Repressionsapparat in Russland auch kleinste Proteste und Unmutsäußerungen erstickt. Die Verhaftungswellen zu Beginn des Krieges in der Ukraine und nach dem Beginn der Teilmobilisierung im September 2022 unterstreichen, dass die Bevölkerung nur mit schwerwiegenden persönlichen Folgen gegen den Krieg protestieren kann. Dass der Angriffskrieg als "militärische Spezialoperation" bezeichnet werden muss, verdeutlicht außerdem das Ausmaß von Zensur und Propaganda im Land.
Bei der Bewertung der Russland-Sanktionen muss erstens in Rechnung gestellt werden, dass Sanktionsziele mit Gegenmaßnahmen antworten können und, zweitens, dass Sanktionen in der Regel erst mittel- oder langfristig wirken.
Zunächst gelang es der russischen Zentralbank so bereits Ende Februar 2022 durch strikte Kapitalmarktkontrollen, einen Zusammenbruch des Finanzwesens und einen kompletten Absturz des Rubels zu verhindern. Die Sanktionen führten damit nicht zu einem Zahlungsausfall und Blackout der russischen Wirtschaft. Anders als zunächst vorhergesagt wird das Wirtschaftswachstum im Jahr 2022 zwar einbrechen, aber nicht um 15 Prozent, sondern voraussichtlich zwischen vier und sechs Prozent. Nach Schätzungen der britischen Wochenzeitschrift The Economist werden die hohen Öl- und Gaseinnahmen zudem im Jahr 2022 für einen Handelsüberschuss von 265 Milliarden US-Dollar sorgen, den zweithöchsten weltweit.
Gleichzeitig funktionieren Sanktionen nicht wie ein An/Aus-Schalter, sondern wirken in der Regel mit Verzögerung. Noch kann die russische Regierung über die Einnahmen aus Öl- und Gasverkäufen den Krieg finanzieren. Auch ein massiver Schaden durch die Finanz- und Technologiesanktionen ist erst in einiger Zeit zu erwarten.
Zentrale Normen des Völkerrechts bekräftigt
Eine wegweisende Studie ermittelte, dass auferlegte Sanktionen in ungefähr einem Drittel der Fälle zu einem Kurswechsel des Ziellandes führen.
Neben dem Erzwingen einer Verhaltensänderung (in der Forschung engl. coercing genannt) sollten jedoch weitere Funktionen bei der Bewertung dieses Instruments der Außenpolitik einbezogen werden. Sanktionen schränken auch den Handlungsspielraum des Gegenübers ein (engl. constraining). So unterbinden die westlichen Technologiesanktionen den Nachschub mit Mikrochips, die auch in der russischen Rüstungsindustrie gebraucht und nicht einfach ersetzt werden können. Und schließlich senden Sanktionen kostspielige Signale an unterschiedliche Empfänger: das Sanktionsziel selbst, mögliche Nachahmerinnen und Nachahmer sowie die eigene Bevölkerung (engl. signaling).
Sie bekräftigen damit zentrale Normen des Völkerrechts wie die Unverletzbarkeit nationalstaatlicher Grenzen. Da Sanktionen als Mittel der Außenpolitik mittlerweile derart etabliert sind, würde eine Nichtanwendung fast schon der Legitimierung einer Völkerrechtsverletzung wie dem russischen Einmarsch in die Ukraine gleichkommen. Außerdem zeigen Sanktionen innenpolitisch – also innerhalb der USA, den EU-Mitgliedstaaten und weiteren like-minded –, dass die Regierungen "etwas" tun und außenpolitisch handlungsfähig sind. Gerade für die EU ist dies von großer Bedeutung.
Faktoren für den Erfolg von Zwangsmaßnahmen
Die sozialwissenschaftliche Sanktionsforschung hat Erfolgsfaktoren identifiziert, die es wahrscheinlicher machen, dass Zwangsmaßnahmen zu einem Einlenken des Ziels beitragen.
Erstens ist die Drohung mit Sanktionen besonders erfolgversprechend. Das Gegenüber kann sich in diesem Stadium noch ohne großen Gesichtsverlust zurückziehen. Über diesen Schatten der Sanktionen hat sich Putin mit dem Angriff auf die Ukraine in Windeseile hinweggesetzt – entweder waren die Sanktionsdrohungen für ihn nicht glaubhaft (möglicherweise auch, weil die Reaktion des Westens auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim im Jahr 2014 offensichtlich zu zurückhaltend ausfiel) oder er war bereit, selbst höchste Kosten für Russland in Kauf zu nehmen.
Zweitens ist entscheidend, wie der Zielstaat politisch verfasst ist: Druck von außen beeinflusst Demokratien leichter als Autokratien. Die wirtschaftlichen oder diplomatischen Beschränkungen führen dort schneller zu einem Politik- oder Regierungswechsel, weil Bürgerinnen und Bürger auf der Straße demonstrieren oder die Regierung gleich ganz abwählen können. Sanktionen können sich sogar als kontraproduktiv erweisen und ein autoritäres Regime stärken, wenn es der Regierung gelingt, die Maßnahmen als imperialistischen Angriff auf das gesamte Land und die Bevölkerung zu brandmarken.
Drittens machen es klar formulierte und vor allem beschränkte Forderungen sanktionierten Regierungen leichter, nachzugeben. Der Ruf nach freien Wahlen und dem Schutz der Menschenrechte gefährdet dagegen direkt den Machterhalt eines autoritären Regimes. Die Invasion in der Ukraine hat eine enorm hohe Bedeutung für die russische Führung. Diese hat sich mit der rechtswidrigen Annexion der vier ukrainischen Regionen im September 2022 noch weiter erhöht. Trotz aller Medienkontrolle und Propaganda wäre ein Einlenken aus Sicht Putins ein Zeichen von Schwäche, das seine Machtposition gefährden würde.
Viertens haben Sanktionen gegen befreundete Staaten, mit denen es engen wirtschaftlichen Austausch und große politische Einigkeit gibt, höhere Aussichten auf Erfolg.
Fünftens geben wirtschaftlich schwache Zielstaaten eher nach. All die genannten Erfolgsfaktoren können von den Sanktionierenden nicht direkt beeinflusst werden und sind im Fall von Russland nicht gegeben.
Ein sechster Erfolgsfaktor für Sanktionen fehlt ebenfalls: Druck, der von einer möglichst großen Staatenkoalition oder sogar den Vereinten Nationen ausgeht, wirkt normalerweise stärker: Die Akzeptanz der Maßnahmen ist höher, die Schlupflöcher sind kleiner. Zwar haben bislang mehr als 35 Staaten, allen voran die USA, EU-Mitgliedstaaten und Großbritannien, Sanktionen gegen Russland verhängt. Diese haben ein enormes politisches und wirtschaftliches Gewicht. Andere wichtige Akteure wie China, Indien, die Türkei, Brasilien und Südafrika bleiben jedoch außen vor und haben keine Sanktionen verhängt.
Zudem müssen Sanktionen effektiv umgesetzt und Schlupflöcher geschlossen werden. Gerade in Deutschland zeigen sich dabei substanzielle Schwächen, denen die Bundesregierung jetzt mit einem neuen "Sanktionsdurchsetzungsgesetz" zu begegnen versucht.
Fazit: Die Wirkung von Sanktionen nicht überschätzen
Die Russland-Sanktionen wirken im Zusammenspiel mit anderen Maßnahmen wie Waffenlieferungen und finanzieller Unterstützung für die Ukraine. Für den unmittelbaren Kriegsverlauf erscheinen Waffenlieferungen an die Ukraine als äußerer Faktor im Augenblick entscheidender. Zwar belegt die Sanktionsforschung, dass umfassende, kostenträchtige Maßnahmen insgesamt eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit haben. Der Kreml hat jedoch wiederholt gezeigt, dass er gewillt ist, die massiven wirtschaftlichen und symbolischen Kosten der westlichen Sanktionen für seinen Angriffskrieg in Kauf zu nehmen. Der finanzielle Schaden für Russland ist schon jetzt beträchtlich, zudem haben sich mehr als 1.000 Unternehmen aus aller Welt aus Russland zurückgezogen. Dieser "Chilling Effect" ist einerseits auf Sanktionen, andererseits auf die Bedingungen in Russland selbst zurückzuführen: Das Land fällt als sicherer Investitionsstandort für die nächsten Jahre aus. Ob die Sanktionen wirklich zu einem russischen Kurswechsel führen oder vor allem bestrafen, bleibt abzuwarten. Insgesamt gilt, die Wirkung von Sanktionen als Mittel der Außenpolitik nicht zu überschätzen.
Zudem sind die Russlandsanktionen in Europa mit beträchtlichen Kosten für die Sanktionierenden selbst verbunden: Die aufgrund des Krieges, der Sanktionen und der russischen Gegenmaßnahmen rasant gestiegenen Energiepreise bedeuten eine große Belastung für die Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen. Schließlich zeigen Beispiele wie Afghanistan, Iran und Syrien, dass umfassende Zwangsmaßnahmen trotz humanitärer Ausnahmen – medizinische und landwirtschaftliche Güter sind explizit nicht sanktioniert – tendenziell zulasten breiter Bevölkerungsgruppen in sanktionierten Staaten gehen können. Die Wirksamkeit und humanitären Auswirkungen der westlichen Sanktionen gegen Russland müssen deswegen regelmäßig überprüft werden.