Die Corona-Pandemie ist in vielerlei Hinsicht eine Zäsur. Sie zeigte die Anfälligkeiten und Schwächen unserer Gesellschaften und Volkswirtschaften auf dramatische Weise auf. Auch der globale Warenaustausch erwies sich als krisenanfällig. Das wirft die Frage auf, wie sich die Globalisierung unter dem anhaltenden Eindruck von Covid-19 verändern wird.
In Normalzeiten organisieren freie Märkte komplexe Produktionsschritte, verteilen diese hocheffizient auf die entsprechenden Akteure in verschiedenen Ländern, nutzen dabei Spezialisierungsvorteile durch internationale Arbeitsteilung aus und schaffen somit eine optimale Güterversorgung zu niedrigen Preisen - und das just in time. Doch die Corona-Pandemie unterbrach viele Lieferketten durch Grenzkontrollen, Exportverbote und Lockdowns, der Ausfall einiger Zulieferer legte ganze Wertschöpfungsketten lahm. Viele Branchen waren betroffen: vom Autobauer bis zum Netzwerkausrüster.
Aber: Hätte es bessere Alternativszenarien als unsere offenen und verflochtenen Volkswirtschaften gegeben? Eine Studie des ifo-Instituts zeigt, dass die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie nur marginal kleiner gewesen wären, wenn die globalen Produktionsnetzwerke reduziert und die Produktion nach Hause zurückverlagert worden wäre. Gleichzeitig würde dies in Deutschland zu enormen Wohlstandsverlusten führen, da das Land stark vom Export abhängig ist. 17 Prozent der hiesigen Wertschöpfung finden über globale Wertschöpfungsketten statt, weltweit sind es zwölf Prozent.
Nicht nur Pandemie für Störung des Welthandels verantwortlich
Dass eine Pandemie mit erheblichen ökonomischen Störungen einhergeht, ist offenkundig. Das ist aber nicht in erster Linie ein Problem des internationalen Handels. Beispielsweise setzten die Lockdowns global zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein, weshalb Produktionsausfälle teilweise durch Importe ersetzt werden mussten. Außerdem wurden die Grenzen für Waren auch schnell wieder geöffnet, eine umfassende Güterversorgung war zu keinem Zeitpunkt ernsthaft gefährdet. Engpässe wie etwa bei Atemschutzmasken oder Desinfektionsmitteln entstanden hauptsächlich nachfrageseitig aufgrund des pandemiebedingt gestiegenen Bedarfs. Angebotsseitig wurde die Produktion ausgeweitet, nach kurzer Zeit waren Spezialgüter nicht mehr knapp.
Martin T. Braml (© Privat)
Martin T. Braml (© Privat)
Trotzdem muss man fragen, wie Wertschöpfungsketten widerstandsfähiger gegenüber solchen Schocks werden können. Störungen des Welthandels haben derzeit ihren Ursprung nicht nur in der Pandemie, sondern auch in Naturkatastrophen und politischen Entscheidungen, beispielsweise im Handelsstreit zwischen den USA und China. Lieferrisiken und Versorgungsunsicherheiten müssen somit gerade ohnehin laufend neu bewertet werden.
In diesem Zusammenhang fällt oftmals der Begriff des "Near-Shorings", also der stärkeren Regionalisierung von Produktionsnetzwerken. Dies mag auch zum Teil mit verstärkter Automatisierung einhergehen. Wenn neue Produktionstechnologien wie etwa die additive Fertigung ("3D-Druck") Lohnkostenunterschiede irrelevant machen, gibt es aufgrund der Transportkosten einen Anreiz, Wertschöpfungsketten zu verkürzen und die Produktion näher an den Ort des Konsums heranzuführen. Aber auch räumliche Nähe ist kein Allheilmittel: So war der Güterimport aus Vietnam im März 2020 stabiler als der aus der Lombardei.
Außerdem sollte beim Thema Near-Shoring nicht vergessen werden, dass das Produktionsnetzwerk Europa schon heute für Deutschland viel wichtiger ist als die Zulieferung von und nach Asien und Nordamerika, deren Anteil an der deutschen Wertschöpfung sich jeweils nur im einstelligen Prozentbereich bewegt. Außerdem wurde die globale Wertschöpfungskette Deutschlands über die Zeit bereits regionaler. Abgesehen davon sind die Arbeitsmärkte Mittel- und Osteuropas weitestgehend leergefegt, was stark mit deren Einbindung in die "Factory Europe" (Fabrik Europa) zusammenhängt. Somit bliebe aus deutscher Sicht eine Verlagerung von Wertschöpfung allenfalls in strukturschwache Hochlohnländer wie Italien, also Standorte, die weltweit nur unzureichend wettbewerbsfähig sind.
Diversifikation statt Protektionismus
Als Alternative sollten Firmen künftig verstärkt Überlegungen unternehmen, ob unter Umständen eine verstärkte Lagerhaltung von kritischen Vorprodukten der Just-in-Time-Produktion vorzuziehen ist. Bei niedrigen Kapitalkosten und hohem Automatisierungsgrad mag dabei der Nutzen den möglichen Schaden durch Lieferausfälle überkompensieren. Darüber hinaus wird das erfolgreiche Risikomanagement entlang der Lieferkette eine verstärkte Diversifizierung der Lieferketten oder auch mehrere potentielle Zulieferer für ein Produkt verlangen.
Die damit gewonnene Widerstandsfähigkeit gegen Störungen verspricht mehr als die wirtschaftliche Abschottung. Zur globalen Arbeitsteilung gibt es nach unserem Dafürhalten keine wirkliche Alternative. Die gewaltigen Globalisierungsgewinne sowohl in den Industrieländern als auch in vielen Schwellenländern sollten nicht aufgegeben werden. Davon abgesehen hat Deutschland bei einer global einsetzenden Protektionismusspirale durch seinen hohen Handelsüberschuss viel zu verlieren. Alle politischen Anstrengungen sollten daher darauf gerichtet sein, die Märkte offen zu halten.
Bei allem gilt es zudem zu beachten, dass privatwirtschaftlich agierende Unternehmen diese Entscheidungen zu treffen haben. Damit entzieht sich ein Großteil dieser Fragen ohnehin der politischen Steuerung. Auch wenn während der Pandemie das schnelle Agieren Chinas gelobt wurde, ist keineswegs ausgemacht, dass eine Kommandowirtschaft den Corona-Schock besser verdaut als das deutsche Modell der freien Marktwirtschaft mit seinen starken sozialen Auffangnetzen.
Die Corona-Pandemie kann überdies nicht darüber hinwegtäuschen, dass schon vor 2020 der Welthandel weitgehend stagnierte.
Boom beim Dienstleistungshandel
Das Volumen in dieser Branche hat sich seit dem Jahr 2000 beinahe vervierfacht. Die Corona-Pandemie dürfte diesen Trend weiter beschleunigen. Plötzlich zum Home-Office gezwungen, stellten viele Firmen fest, dass Telearbeit für viele Beschäftigte tatsächlich funktioniert. Fast drei Viertel der Unternehmen, die während der Pandemie auf das Arbeiten von Zuhause setzten, wollen diese Möglichkeit in Zukunft verstärken. Selbst ein Großteil der Unternehmen, die befürchteten, dass Mitarbeiter im Homeoffice weniger produktiv sind, planen nun, die Heimarbeit auszuweiten.
Auch neue Formen der Dienstleistungserbringung boomen, so etwa digitale Sprechstunden bei Ärztinnen und Ärzten. Der Trend ist auch daran erkennbar, dass viele Hochschulen weltweit über Nacht zu Fern-Unis wurden. Auch wenn Home-Office, Telemedizin und Remote-Unterricht technisch längst möglich sind, gab es nun einen gewaltigen Schub für deren Akzeptanz. Für viele Unternehmen hat die Corona-Pandemie den digitalen Wandel vorangetrieben, da schnell deutlich wurde, dass das Homeoffice die negativen Auswirkungen der Krise verringert.
Während physische Präsenz immer weniger wichtig erscheint, werden vormals nicht handelbare Dienstleistungen plötzlich handelbar. Warum nicht den Tele-Doktor in Österreich anrufen, wenn der deutsche keine Zeit hat? Einen Softwareentwickler aus Indien beauftragen? Zwischendurch einen Online-Kurs an einer ausländischen Universität besuchen? Vom eigenen Wohnzimmer aus ist das nunmehr mit geringen Kosten verbunden. Home-Office kann von überall aus erbracht werden. Der Ökonom Richard Baldwin bezeichnete dies zuletzt als "Tele-Migration", wenn also Beschäftigung und Migration voneinander entkoppelt werden und eine neue Form der Arbeit entsteht, die es Arbeitnehmerinnen und -nehmern ermöglicht, in einem Land zu sitzen und in virtuellen Büros eines anderen zu arbeiten.
Die Globalisierung nach Corona wird folglich nicht rückabgewickelt, sondern zum einen um den Gesichtspunkt der Resilienz der Lieferketten ergänzt. Zum anderen wird sie im Bereich des internationalen Dienstleistungshandels gewaltig voranschreiten.
Rivalität zwischen USA und China fordert EU heraus
Die Europäische Union (EU) ist stolz darauf, den größten Binnenmarkt der Welt errichtet zu haben, der mit vielen Volkswirtschaften durch Freihandelsabkommen eng verflochten ist. Die Corona-Pandemie wirft allerdings einen Schatten auf diese erfolgreiche Bilanz: Die Krisenbewältigung war zunächst vor allem vom Handeln der Nationalstaaten geprägt. Zeitweilige innereuropäische Exportverbote und Grenzschließungen zogen sogar die Integrität des Binnenmarktes in Zweifel. Damit wurde die Handlungsfähigkeit der Union einmal mehr als unzureichend entlarvt.
Dabei steht der Kontinent vor großen Herausforderungen. Unabhängig von der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl im November und der Corona-Krise bleibt die geopolitische Rivalität zwischen den USA und China die größte strategische Herausforderung für die EU. China strebt nach globaler Vormachtstellung. Bezeichnend dafür das Ziel, seinen Staatsunternehmen in mehreren Schlüsselbranchen bis 2025 eine weltweit führende Stellung zu verschaffen ("Made in China 2025") und die sogenannte Seidenstraßen-Initiative, ein gigantisches Infrastrukturprojekt, das Asien, Afrika und Europa besser miteinander verbinden soll. Dagegen wollen die USA ihre Hegemonie verteidigen und von Importen aus China unabhängiger werden ("Decoupling"). Beide Länder sind gewillt, ihren Einfluss auch mithilfe ihrer Marktgröße geltend zu machen, zum Beispiel durch das Anwenden von Sanktionen. Das könnte die EU zwingen, sich auf die eine oder andere Seite zu stellen.
Für die Europäer stellt sich hierbei die Frage, ob sie bei Themen wie dem Ausschluss von chinesischen Anbietern (wie beim Mobilfunkstandard 5G) den Amerikanern folgen sollen. In Brüssel spricht man mittlerweile gerne von der strategischen Autonomie, die neben technologischen Aspekten auch das Militärische umfasst. Stand jetzt ist Europa auf vielen Feldern verwundbar. Am wenigsten allerdings auf dem Feld der Industriegüterproduktion. Auch deshalb sollten politische Anstrengungen nicht darauf gerichtet sein, die Globalisierung in ihrer jetzigen Form rückabzuwickeln und Near-Shoring oder Ähnliches aktiv voranzutreiben.
Für die strategische Souveränität Europas benötigt es zuallererst Investitionen in Bildung, Forschung, Infrastruktur und Verteidigung sowie verstärkte Zusammenarbeit auf Feldern, auf denen hohen Synergieeffekte und somit Kosteneinsparungen auf europäischer Ebene möglich sind (vor allem im Verteidigungsbereich). Staatsausgaben für diese Zwecke müssen gegenüber stets steigenden Sozialausgaben abgewogen werden. Ferner muss es die EU schaffen, den Binnenmarkt zu einem vollintegrierten Dienstleistungsmarkt weiterzuentwickeln. Kleinteilige Regulierung behindert noch vielerorts Innovationen.
Europas Stärke ist seine Vielfalt. Um diese Stärke allerdings ausspielen zu können, muss man (innereuropäischen) Wettbewerb zulassen. Die von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier ins Spiel gebrachten "European Champions", also das Zulassen von Monopolen auf dem Heimatmarkt zum Zweck der Dominanz auf dem Weltmarkt, sind gegen die Prinzipien der Marktwirtschaft und gehen allein deshalb zu Lasten der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Zuletzt benötigt Europa mehr Bereitschaft – regulatorisch wie steuerrechtlich – Innovation zu fördern, im Feld zu testen und schnell zu adaptieren. Die Corona-Krise hat nämlich auch gezeigt, dass die Politik in der Lage ist, weitreichende und zukunftsweisende Entscheidungen unverzüglich zu treffen, wenn es notwendig ist. Von diesem Momentum sollte sich die Wirtschaftspolitik inspirieren lassen.