Mehr als eine halbe Million Suchergebnisse finden sich im Internet Anfang 2019 bei der Recherche zum Stichwort 'Lobbyismus' mit einer einschlägigen Suchmaschine. Der Topeintrag kommt von Wikipedia:
"Lobbyismus, Lobbying oder Lobbyarbeit ist eine aus dem Englischen übernommene Bezeichnung für eine Form der Interessenvertretung in Politik und Gesellschaft, bei der Interessengruppen ("Lobbys") vor allem durch die Pflege persönlicher Verbindungen die Exekutive, die Legislative und andere offizielle Stellen zu beeinflussen versuchen. Außerdem wirkt Lobbying auf die öffentliche Meinung durch Öffentlichkeitsarbeit ein. Dies geschieht vor allem mittels der Massenmedien." (Hervorhebung im Original)
Wenn es beim 'Lobbyismus' um Interessenvertretung in Politik und Gesellschaft geht, warum geht es dann vor allem um "persönliche Verbindungen" zur Exekutive und Legislative? Was ist neu oder anders an der anonymeren Arbeit über die Massenmedien als im traditionellen Verständnis von Interessenpolitik? Persönliche Beziehungen und die Medien spielten auch in der Vergangenheit schon eine Rolle bei der Öffentlichkeitsarbeit von Verbänden. Ein Externer Link: Artikel der Lobbypedia des lobbykritischen Vereins Lobbycontrol problematisiert dagegen den Zusammenhang von Lobbyismus und Demokratie. Das Lobbys, also Interessenvertreter/-innen versuchen Einfluss in Politik und Gesellschaft zu nehmen, ist legitim und wird schon im Rahmen der Verfassung mit verschiedenen Grundrechten in der Bundesrepublik und in vielen anderen Ländern geschützt. Zu nennen sind insbesondere das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 GG), das Recht auf Demonstration (Art. 8 GG), das Recht auf Zusammenschluss (Koalitionsfreiheit / Art. 9 GG), das Recht auf politische Partizipation (z.B. Petitionsrecht Art. 17 GG). Gleichzeitig verweist das Schlagwort Lobbyismus auf Ungleichheit in der Gesellschaft, auf starke und schwache Interessen. Neben der Problematik von asymmetrischer Macht und Einflussnahme geht es bei der Definition von Lobbycontrol auch um problematische Formen der Einflussnahme. Verdeckte Einflussnahme, Versuche der Manipulation und korrupte Praktiken gelten als undemokratisch, stehen also nicht mehr, zumindest nicht vollständig im Einklang mit den geltenden Normen der Demokratie: Zu viel Macht von einzelnen Interessen, zu wenig Transparenz bei der Arbeit vieler Interessengruppen, zu einseitige Einflussnahme bis hin zur gekauften Politik, zur Korruption.
Zwar sind viele Kritikpunkte am ungleichen Einfluss von Interessengruppen keineswegs neu, aber der Eindruck von einer besonders starken Zunahme des Einflusses von Wirtschaftslobbys seit den 1980er Jahren prägt die öffentliche Wahrnehmung und Debatte. Im Zuge der Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, der Liberalisierung von besonders regulierten Branchen, von Europäisierung und Globalisierung schien das Gewicht von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden ständig zuzunehmen. Gewerkschaften und Sozialverbände gerieten in die Defensive. Was ist dran an dieser weiten Lobbykritik? Gibt es tatsächlich eine starke Veränderung des Systems der Interessenvertretung und eine Zunahme des Lobbyismus in Deutschland und Europa? Inwiefern unterscheiden sich die Kategorien Interessenvertretung und Lobbyismus? Welche Faktoren bestimmen den Wandel? Wie ist er zu bewerten? Gibt es Grund zur Sorge oder gilt gleichwohl das Leitbild vom Pluralismus der Interessen und Einflussnahme zum Wohle der Allgemeinheit?
Mit diesem Dossier wird ein Beitrag geleistet, die Diskussion über das komplexe Phänomen des Lobbyismus auszuleuchten, historisch einzuordnen und zu versachlichen. Gleichzeitig wird nicht bestritten, dass die Diskussion über Demokratie, ungleichen Einfluss und Lobbymacht aus guten Gründen Anlass für eine kritische Auseinandersetzung bietet, weil es nicht zuletzt um mitunter konkurrierende Grundwerte von Freiheit, Inklusion und Fairness geht, weil Standpunkte zu beziehen sind, und weil Demokratie nicht einfach gegeben, sondern immer auch (weiter) zu entwickeln ist.
Im Zentrum des Dossiers stehen die aktuellen Umstände und die Veränderungen in der Politik der Interessenvertretung. Allerdings ist es zum Verständnis der Gegenwart unabdingbar, zum Teil weit in die Vergangenheit zurückzublicken, z.B. bei der Analyse der Strukturveränderungen der Wirtschaft. Es gilt, die Ursachen der Veränderung im System der Interessenvertretung genauer zu bestimmen und die Wirkungen differenziert einzuschätzen. Die Grundlagen für eine allgemeine Beurteilung der Politik der Interessenvertretung und des Lobbyismus werden im ersten Teil des Dossiers gelegt. Im Einzelnen spielen dabei die Umgestaltungen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, die Entwicklungen in der Europäischen Union, der Strukturwandel der Wirtschaft, die Veränderungen der Medien und Öffentlichkeit sowie die Entwicklung der Zivilgesellschaft und die neuen Demokratiebewegungen eine bedeutende Rolle. Diese verschiedenen Stränge können auch durch die Brille der Demokratietheorie betrachtet und vertiefend erörtert werden. Im zweiten Teil des Dossiers werden Fallbeispiele aufgearbeitet, welche die einzelnen Aspekte des Wandels im nationalen und europäischen politischen System, in der Wirtschaft, in den Medien und in Bereichen der Zivilgesellschaft veranschaulichen und konkret erläutern. Auf dieser Basis und ausgestattet mit weiteren Hinweisen auf Quellen und Literatur zur Vertiefung lässt sich ergiebig diskutieren, was an der vorherrschenden Lobbyismuskritik berechtigt oder überzogen ist und welche Möglichkeiten es gibt, dort Abhilfe zu schaffen, wo dies als nötig erachtet werden kann.
Leitend für die Beiträge zu diesem Dossier ist die Grundeinschätzung, dass Lobbyismus nur im Zusammenhang mit dem System der Interessenvertretung diskutiert werden kann, sich also nicht aus der Verallgemeinerung einzelner Fälle erklären lässt. Das Feld der Interessenvertretung ist zudem nicht statisch, sondern verändert sich in Abhängigkeit von unterschiedlichen Faktoren, u.a. aufgrund
von rechtlich-institutionellen Veränderungen des politischen Systems (z.B. Föderalismusreform oder Verlagerung von Zuständigkeiten im Zuge der europäischen Integration),
der Zusammensetzung der inländischen und ausländischen Akteure,
der Formen der Einflussnahme (z.B. aufgrund von Veränderungen kommunikations- technischer Möglichkeiten)
von Verschiebungen von in Kräfteverhältnissen (z.B. zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften).
Notwendig ist also eine historische Erörterung, in deren Rahmen es zu klären gilt, ob und was ggf. neu ist am Phänomen des "Lobbyismus" und wie die möglicherweise veränderten Formen der Interessenvertretung einzuschätzen sind.
Grundsätzlich wird mit und in den Beiträgen ferner darauf abgehoben, dass im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse immer verschiedene Interessen und Kräfte existieren und wirken, teils gegeneinander, teils miteinander. Für das demokratische politische System ist das nützlich, weil von und über Interessengruppen wichtige Informationen vermittelt werden. Lobbygruppen verfügen über Expertise im weiten Sinn und auch die Bewertung von Sachverhalten aus verschiedenen Perspektiven ist für den politischen Diskussionsprozess unabdingbar. Der Tauschansatz der Lobby-Forschung hebt abstrakt auf den jeweiligen Beitrag der gesellschaftlichen Interessengruppen und der politischen Akteure ab. Unterschieden werden Zugangsgüter, die Lobbygruppen bieten (z.B. fachliche Expertise, Informationen zum Brancheninteresse, aber auch Informationen über die Umsetzung von Politik, Unterstützung durch Bürgerinnen und Bürger oder wirtschaftliches Gewicht, z.B. Zahl von Arbeitsplätzen, Steuerbeiträgen etc.) und Zugang, den Politiker/-innen verschaffen (z.B. zu Verhandlungsarenen und Entscheidungsgremien wie Anhörungen, Beratungsgruppen oder Kommissionen, Entscheidungsträger/-innen in Parteien, Parlamenten und Regierungen oder Verhandlungsdelegationen) (Michalowitz 2014). Unterschiedliche Interessengruppen können konkurrieren, aber auch Koalitionen bilden. Über die Betrachtung einzelner Lobbygruppen hinaus wird es immer wichtiger, Allianzen zu bestimmten Anliegen, Fragen oder Themen zu untersuchen (Klüver 2012). Im System der Interessenvertretung macht es dabei einen großen Unterschied, ob unterschiedliche Interessen repräsentiert werden in Entscheidungsgremien sowie im Verhandlungs- und Entscheidungsprozess bis hin zur Gesetzgebung (bzw. deren Verhinderung) oder ob bestimmte Interessen besonders stark sind oder besonders privilegiert werden. Eine besonders starke Repräsentation von Interessengruppen ("the winner takes all") trifft auf eine Opposition, die sich nicht ohne weiteres in den Prozess einschalten kann, also auf außerparlamentarische Oppositionspolitik und Protest angewiesen ist. Schließlich ist zu beachten, dass nicht nur Lobbygruppen die Politik beeinflussen, sondern auch umgekehrt, politische Kräfte in Regierung und Parteien auf Lobbygruppen Einfluss nehmen bzw. Lobbygruppen zur Erreichung von politischen Zielen in die Pflicht nehmen (Schmitter und Streeck 1999). Jedenfalls aber tritt eine historische und relationale Entwicklungsperspektive entschieden gegen Interpretationen auf, die Allmacht und Ohnmacht beschwören, indem mächtige Lobbys allgemein als "Verschwörung" interpretiert werden, die unkontrollierte Macht in der Gesellschaft ausüben. Es ist dabei eine offene Frage, ob und inwiefern ein Mangel an Transparenz solchen Interpretationen Vorschub leistet.
Gefährdung der Demokratie oder pluralistische Dynamik? Die Gegenpole der Einschätzung und Schlussfolgerung zum Thema Lobbyismus
Ein Hotelunternehmer spendet im Landtagswahlkampf und im Bundestagswahlkampf Millionenbeträge an zwei Parteien, die bald darauf auf Bundesebene koalieren. Kurz nach der Bundestagswahl beschließt die neue Regierung eine Absenkung des Mehrwertsteuersatzes für den Geschäftszweig des Großspenders. Das klingt tatsächlich eher nach "Lobbykratie" als nach Herrschaft des Volkes. Ein berühmtes und folgenreiches Einzelbeispiel aus der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, weil der Vorgang dazu beigetragen hat, dass die danach spöttisch als "Mövenpickpartei" bezeichnete FDP bei der folgenden Wahl zum Bundestag nicht mehr ins Parlament gewählt wurde. Immerhin spräche dieses Scheitern der FDP an der Fünfprozenthürde bereits gegen die These der sorgenfreien Herrschaft bestimmter Lobbies. Zumindest mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung und für einen Teil der Akteure – die CSU war ebenso für die steuerliche Entlastung der Hoteliers verantwortlich, geriet aber im Gegensatz zur FDP nicht ins Rampenlicht der öffentlichen Kritik – kann allzu starker Einfluss auf die Politik nach hinten losgehen.
Über den Einfluss von Interessengruppen in der Politik wird regelmäßig in den Medien berichtet. Zuletzt wurde in der Auseinandersetzung um das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP zwischen den Vereinigten Staaten und der EU darüber gestritten, ob und inwiefern industriefreundliche Elemente wie die Einrichtung internationaler privater Schiedsgerichte dieses und ähnlicher Abkommen die Demokratie in Deutschland und den anderen Mitgliedstaaten der EU, aber auch in den USA, unterminieren. Die Öffentlichkeit reagierte empört auf Berichte über die eingeschränkten Möglichkeiten von Parlamentariern, sich über den Stand der Verhandlungen zu informieren. Verhandlungen, die offenbar unter starker Berücksichtigung der Interessen von betroffenen Unternehmen und deren Verbänden geführt wurden.
Die starke und einseitige Berücksichtigung von Wirtschaftsinteressen und die Schwierigkeit von Gewerkschaften, Verbraucherverbänden und schwächeren Interessengruppen, ihre Interessen einzubringen, stehen im Zentrum der Kritik am Lobbyismus. Überspitzt gesagt gelänge es den mächtigen Interessengruppen und ihren Lobbys immer häufiger, die parlamentarische Demokratie und die Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu manipulieren und vorhandene Sicherungen und Kontrollen (checks and balances) auszuschalten. Dabei spielen nicht zuletzt professionelle Dienstleister eine wichtige Rolle, welche die politische Einflussnahme zu ihrem Geschäft gemacht haben und die strategisch und vielseitig agieren (Balser und Ritzer 2016). Umgekehrt lädt auch die Politik im Zeitalter von Privatisierung und der Pflege von Partnerschaft mit dem privaten Sektor Unternehmen und andere nichtstaatliche Akteure zur verstärkten Mitwirkung ein ("Governance"). Sascha Adamek und Kim Otto (2008) analysierten den erweiterten Zugang von Wirtschaftsvertretern in Ministerien und schreiben in diesem Zusammenhang kritisch von einer "gekauften Republik". Ein Mitglied des deutschen Bundestages spricht von der Lobbyrepublik Deutschland (Bülow 2010). Sozialwissenschaftler werfen erneut die Frage auf, ob Kapitalismus und Demokratie noch miteinander vereinbart werden können (Streeck 2013), oder argumentieren sogar, dass wir bereits in einer postdemokratischen Zeit leben (Crouch 2008).
Demgegenüber kann auf das zumindest vorläufige Scheitern der TTIP-Verhandlungen hingewiesen werden, in deren Rahmen sich eine starke Opposition aus NGOs, Gewerkschaften und Oppositionsparteien recht erfolgreich Gehör zu verschaffen wusste. Unternehmensnahe bzw. wirtschaftsliberale Think Tanks und Gruppen wie ECIPE, Prometheus, oder Novo sprechen gar von einer Übermacht der NGOs. Die kritischen Medienberichte und die lebhafte öffentliche Debatte können mit einiger Berechtigung auch als Beleg für das Funktionieren der Demokratie angeführt werden. Zwar kann der Protest gegen TTIP nicht ohne weiteres als Ursache für das Scheitern der Verhandlungen angesehen werden – was wäre geschehen, wenn Donald Trump nicht Präsident der Vereinigten Staaten geworden wäre? Aber zumindest lässt sich vor dem Hintergrund dieser Entwicklung das Bild von der einseitigen und wachsenden Macht von wirtschaftsnahen Lobbies nicht ohne weiteres aufrechterhalten.
Der Politologe Manfred Mai etwa verweist auf das Wachstum und das Gewicht der zivilgesellschaftlichen Organisationen und starker NGOs als Beleg für die Existenz von Gegengewichten zu Wirtschaftslobbys (Mai, 2013, 310). Die enge Verflechtung zwischen Interessengruppen und politischen Institutionen gilt als normal:
Ähnlich argumentiert der niederländische Politikwissenschaftler van Schendelen (2010) für das Brüsseler Lobbysystem. Im Zentrum seiner Analyse stehen die Verschiebung der Macht im Gesetzgebungsprozess hin zum europäischen Parlament und die vielfältigen Möglichkeiten zur informellen Diskussion und Einflussnahme. Probleme und Schwächen resultieren seiner Sicht zufolge weitgehend auf Unkenntnis und der Schwierigkeit der Bürgerinnen und Bürger sowie ihrer Repräsentanten, sich in einem zugegebenermaßen sehr komplexen politischen System zu Recht zu finden. Ein echtes Hindernis bei der pluralistischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung existiere aber nicht.
Die lobbykritische Seite verweist mithin auf die strukturelle Ungleichheit und problematische Formen der Einflussnahme, die zwar nicht ohne weiteres als Beleg für die Krise des gesamten Systems gelten können, aber durchaus Gründe für erheblichen Protest liefern und weit verbreitete Politikverdrossenheit verstärken. Umgekehrt reklamieren Verfechter/-innen der Pluralismus-These, dass das System im Großen und Ganzen recht gut funktioniert, ohne dabei kleinere oder größere Schräglagen in Abrede zu stellen. Das klingt nach der feinsinnigen Interpretation des halbleeren und halbvollen Glases. Allerdings unterscheiden sich die Lager in einer Hinsicht erheblich, nämlich in der Frage des Bedarfes an Lobbyregulierung. Kritiker/-innen des zunehmenden Lobbyismus eint z.B. die Forderung nach einer erheblichen Verstärkung der Lobbyregulierung, z. B. einem verbindlichen Transparenzregister für Lobbyisten und weitergehenden Informationsrechten (z.B. die Bereitstellung eines legislativen Fußabdrucks, also die Dokumentation der Ziele der Einflussnahme von Lobbyisten). Angestrebt wird darüber hinaus eine Minderung von einseitigen Einflüssen insbesondere der großen Wirtschaftsinteressen. Demgegenüber sehen die Verfechter/-innen der Pluralismus-These geringeren Reformbedarf. Ihnen zufolge geht es weniger um die Verhinderung einseitiger oder illegitimer Einflussnahme, sondern um die Möglichkeit zur Verbesserung der Legitimität des politischen Systems durch Erhöhung der Transparenz. Maßnahmen zur Erhöhung der strukturellen Transparenz gelten gleichwohl auch als zweckdienlich, um Interessenkonflikte sichtbar zu machen und die Gefahr illegitimer Einflussnahme zu verringern (Schmedes und Kretschmer 2014, 325). Beide Perspektiven gemeinsam ist die Forderung nach einem verbindlichen Lobbyregister.
Kann und muss also nicht doch klarer unterschieden werden zwischen demokratieverträglicher und Demokratie gefährdender Interessenpolitik? Kann die Lobbyismusdiskussion weitere Kriterien entwickeln, die es ermöglichen, den Stand der Entwicklung und die Qualität der Veränderung der Interessenvertretung einzuschätzen? War das Glas früher voller oder leerer? Und kann sich dementsprechend ein neuer Konsens herausbilden in Bezug auf die Regulierung des Lobbyismus und der Formen der Interessenvertretung?
Lobbyismus-Probleme der Berliner Republik, oder "früher war alles besser"?
Wenn in der deutschen Lobbyismusdebatte von der "Berliner Republik" die Rede ist, wird gerne ein großer Kontrast zum vermeintlich beschaulichen Bonn konstruiert (Schumacher 2006, abgeschwächt Gammelin/Hamann 2005). Heutzutage arbeiten schätzungsweise 5.000 Lobbyisten in Berlin, bis zu 25.000 werden in Brüssel vermutet. Die finanzstärksten Akteure vertreten die Interessen der privaten Wirtschaft. Populäre Veröffentlichungen wie "Die Strippenzieher" von den beiden Journalisten Cerstin Gammelin und Götz Hamann versammeln Fallstudien und Episoden, die vorzugsweise die neue, außerordentliche Lobbymacht von jüngst privatisierten Unternehmen oder der Telekommunikations- und Energiewirtschaft aufzeigen. Auch wenn einige der enthüllten Lobbystrategien, etwa der Widerstand von Volkswagen gegen den Rußfilter Anfang der 2000er Jahre, nicht zum Erfolg führten, konstatiert die Literatur eine Gefahr für die "Autonomie des Staates". Pauschale Gefahrenszenarien dieser Art verkennen wichtige Zusammenhänge zwischen Politik, Ökonomie und Gesellschaft, weil sie sich nicht systematisch mit den relevanten Entwicklungen befassen. Umgekehrt wird übersehen, dass die These von der Gefährdung des Staates durch Interessengruppen sehr alt ist. Schon in der Weimarer Republik, aber auch in der Bonner Republik wurde die Macht der Interessen, nicht zuletzt der Gewerkschaften ("Gewerkschaftsstaat") von konservativer Seite attackiert (zum Beispiel von Götz Briefs 1952 ). Was aber war anders in der Bonner Republik?
In der vergleichenden Verbändeforschung werden (neo)korporatistische Regime von pluralistischen bzw. voluntaristischen Regimen unterschieden. Das Regime der alten Bundesrepublik gehörte dabei zu den typischen korporatistischen, also um Ausgleich von Interessen bemühten Systemen, die auf eine planmäßige Einbeziehung der unterschiedlichen organisierten Interessen zielen. Demgegenüber stand und steht z.B. die USA für ein System, das den vielfältigen Interessen Spielräume einräumt, ohne notwendigerweise auf Ausgleich zu zielen (Voluntarismus). Während in der Bundesrepublik nicht selten in tripartistischen Foren Vertreter/-innen der Spitzenverbände der Unternehmen, der Gewerkschaften, der Wohlfahrtsverbände etc. mit Spitzenvertreter/-innen der Politik verhandeln, stehen sich Lobbyistinnen und Lobbyisten und Staat in den USA häufig feindlich gegenüber. Gleichzeitig gelten einseitige Einflussnahme und ad hoc Lösungen nicht als verwerflich. Eine gemeinwohlorientierte Einschränkung der Interessengruppen durch den Staat gilt als Gefährdung der Freiheit. Während in korporatistischen Arrangements im öffentlichen Interesse offiziell "gemauschelt" wird und die Erwartung existiert, dass die einzelnen Mitglieder der Verbände sich den Gesamtinteressen unterwerfen, werden die einzelnen Interessen im voluntaristischen Regime nicht sehr häufig in die Pflicht genommen. Zwar gibt es auch in den USA Verbände, aber deren Mitglieder ordnen sich den Verbänden keineswegs bereitwillig unter bzw. lassen sich leicht disziplinieren. Umgekehrt sind Interessengruppen und Konzerne aber auch längst legitimer Gegenstand investigativer Recherche, öffentlicher Diskussion und mitunter scharfer Kritik. Nach größeren Skandalen wurde in den USA bereits 1995 ein verpflichtendes Lobbyregister eingeführt, welches seither für ein hohes Maß an Transparenz im Hinblick auf Lobbyausgaben und -zielen aller Interessengruppen sorgt. In Deutschland wird demgegenüber der Insider-Verhandlungsstil unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit nach wie vor von Teilen der Politik und vielen Wirtschaftsverbänden verteidigt, obwohl das traditionelle (neo-) korporatistische Regime sich seit Anfang der 1980er Jahre in vieler Hinsicht auflöst, z.B. Konzerne auf nationaler und europäischer Ebene gerne auch eigenständig agieren. Mit der Regierungsübernahme der Koalition von CDU/CSU und FDP 1982 unter Kanzler Helmut Kohl wurden in Deutschland die Weichen in Richtung angebotsorientierte Politik gestellt und Deregulierungs- und Privatisierungsprojekte vorangetrieben. Im Rahmen der Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie stellte sich die Regierung offen auf die Seite der Metall-Arbeitgeber. Nicht zuletzt brach sie im Laufe des Arbeitskampfes mit der Tradition bei Entscheidungen der Bundesanstalt für Arbeit, Arbeitnehmer/-innen kein Arbeitslosengeld zu zahlen, die indirekt vom Streik der IG Metall betroffen waren (kalte Aussperrung). Nachdem Sozialgerichte die Entscheidung zugunsten der ausgesperrten Arbeitnehmer/-innen aufhoben, änderte die Regierung 1986 die gesetzlichen Grundlagen und schloss Zahlungen an mittelbar vom Streik betroffene Arbeitnehmer/innen für die Zukunft aus.
Noch stärker unter Druck geriet das traditionelle deutsche Regime der Interessenvertretung aufgrund der Entscheidung für die Vollendung des europäischen Binnenmarktes in den 1980er Jahren, weil damit die Dynamik des grenzüberschreitenden Wettbewerbs erheblich verstärkt wurde und auch die zuvor geschützten Sektoren der öffentlichen Daseinsvorsorge (Energie, Telekom, Bahn) erfasste. Der Ausgleich der Interessen im Rahmen der industriellen Beziehungen und der öffentlichen Unternehmen wurde den Anforderungen der Liberalisierung im Rahmen des europäischen Binnenmarktes untergeordnet. Je mehr Entscheidungen in Brüsseler Arenen gefällt werden, desto weniger kann die deutsche Politik mit den deutschen (Spitzen-)Verbänden selbständig aushandeln. Mit der einheitlichen Europäischen Akte von 1987 (zur Vollendung des Binnenmarktes) wurde das traditionelle deutsche System der Interessenvertretung effektiv ausgehebelt.
Auch in anderer Hinsicht sollten die Verhältnisse in der alten Bonner Republik nicht idealisiert werden. Schon in Bonn gab es große Lobbyskandale: die Interner Link: Flick-Affäre und weitere Parteispendenskandale, Rüstungsgeschäfte, enge Verflechtung zwischen Staat und Energiewirtschaft. Ein Beispiel: Als Ludwig Erhard (CDU) 1963 Kanzler wurde, suchte er einen Chef für das Kanzleramt. Ausgewählt wurde Ludger Westrick, der zuvor Erhards Staatssekretär im Wirtschaftsministerium war. Vor seiner politischen Karriere war Westrick Generaldirektor des Energiekonzerns VIAG. Der Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg fand mit einer einfachen Recherche heraus, dass die VIAG ihren Generaldirektor bei vollen Bezügen beurlaubt hatte. Westrick kassierte doppelt.
Im Zentrum der Lobby-Kritik in Bonn standen die Parteistiftungen und über sie abgewickelte illegale Parteienfinanzierung, Parteispenden von Unternehmen. Ohne weiteres kann also das Bild der guten alten Bonner Republik, in der die Interessen der Allgemeinheit im Mittelpunkt des politischen Handelns standen, gegenüber einer Berliner Lobbyismusrepublik nicht überzeugen. Auch in der Bonner Republik gab es große Auseinandersetzungen etwa in der Energie- und Umweltpolitik oder auch im Bereich der inneren Sicherheit, z.B. bei der Volkszählung. Zwar änderte sich das System der Interessenvertretung seit der Vereinigung erheblich, aber wichtige Hintergründe einer doppelten Entgrenzung der Lobbyarbeit sind in den 1980er Jahren zu verorten: Teile des korporatistischen Regimes im Bereich Wirtschaft und Arbeit werden ad acta gelegt; die Interessenvertretung verlagert sich in erheblichem Maße vom nationalen ins europäische politische System und die Beeinflussung der öffentlichen Meinung über Medien, Think tanks und professionelle PR-Agenturen gewann schon vor der Berliner Republik erheblich an Bedeutung. Einzig die verstärkte Einmischung neuer Demokratiebewegungen und die Zunahme zivilgesellschaftlicher Lobbyarbeit entwickelte sich erst in den 2000er Jahren, also zeitversetzt gegenüber der Ausdifferenzierung der Lobbyarbeit von Verbänden und Unternehmen.
Entstanden ist ein gekoppeltes europäisches und nationales Regime, das weder dem Idealtyp des korporatistischen Interessenausgleichs, noch dem streng egoistisch-voluntaristischen Typ voll entspricht. Die Mannheimer Politologin Beate Kohler-Koch spricht von einem eigenen europäischen Typ der Netzwerk-Governance, in dem trotz Vervielfältigung und Zerfasern der Interessengruppen Elemente des Ausgleichs zu finden sind. Annette Zimmer und Rudolph Speth schreiben dennoch zu Recht, dass der Begriff des Lobbying gegenüber dem Begriff der Interessenvertretung aufgewertet wurde (Zimmer und Speth 2015, 12 ): Es geht um eine tatsächlich weitreichende Veränderung der Interessenvertretung und des Lobbying, ein komplexeres, marktförmigeres, europäisches und globalisiertes, medial professionalisiertes und unter Beteiligung einer Vielzahl von stärkeren und schwächeren Akteuren umkämpftes Regime, wobei auch schwächere Akteure in geeigneten Allianzen und unter bestimmten Bedingungen mitunter durchaus überraschende Stärken zeigen. Allerdings sollte die Sicht auf einzelne Akteure und Konflikte nicht davon ablenken, dass vor allem die Europäisierung der Politik die Asymmetrie zugunsten von großen Unternehmen und Wirtschaftsverbänden zum Teil erheblich verstärkt hat. Für kleine Interessengruppen und auch für kleine und mittlere Unternehmen ist es oft nicht einfach, sich in den europäischen Zusammenhängen zu Recht zu finden.
Fünf Erklärungszusammenhänge der Veränderung des Lobbyismus und die demokratietheoretische Perspektive
In den fünf Beiträgen des ersten Teils gehen die Autorinnen und Autoren genauer auf die Entwicklungen und Veränderungen ein, welche für eine angemessene Diskussion des Lobbyismus und der Interessenvertretung der Gegenwart unabdingbar sind. Der Fokus der Beiträge liegt auf dem nationalen politischen System, der Europäischen Union, dem Strukturwandel der Wirtschaft, der Entwicklung der Mediengesellschaft und der wachsenden Rolle der Zivilgesellschaft, insbesondere auch der neuen Demokratiebewegungen. Unvermeidbar sind Überschneidungen, aber der jeweilige Schwerpunkt ermöglicht die konzentrierte Bearbeitung wichtiger Faktoren.
Kathrin Loer und Annette Töller untersuchen den Wandel des politischen Systems in Deutschland, um die Veränderungen im Zusammenspiel der politischen Institutionen und der Akteure der Interessenvertretung zu erklären. Im Zentrum stehen die Zunahme der Nutzung externer Expertise im Gesetzgebungsprozess, der damit verbundene Bedeutungsgewinn der Interessenvertretung, der Strukturwandel der Interessengruppen und ein Mangel an Transparenz, der immer stärker die politische Diskussion über Lobbyregulierung in Deutschland antreibt. Interner Link: Zum Beitrag
Der Beitrag von Dieter Plehwe geht komplementär auf die wachsende Bedeutung der Brüsseler Verhandlungs- und Entscheidungsarenen ein. Der Bedeutungszuwachs der europäischen Institutionen in vielen Politikfeldern bedingt die Ko-Evolution der europäischen Interessengruppen. Schon vor dem Wachstum der professionellen Lobbydienstleister auf nationaler Ebene etablierte sich die neue Branche der Lobbydienstleister in Brüssel. Spezialisierte Beratungs- und PR-Firmen, Rechtsanwaltskanzleien und Think tanks sind aus der Lobbyarbeit der Gegenwart nicht mehr wegzudenken. Möglicherweise aufgrund der größeren Komplexität der Regelungsbereiche, aber auch aufgrund von Skandalen und dem oft bemängelten Demokratiedefizit auf EU-Ebene ist das europäische System der Lobbyregulierung weiter entwickelt als auf der nationalen Ebene. Ein freiwilliges Lobbyregister erleichtert die Orientierung und verbessert die Bedingungen der Recherche, zumal die Kommission starke Anreize für verbindlichere Angaben gesetzt hat. Interner Link: Zum Beitrag
Stefan Schmalz skizziert den wirtschaftlichen Strukturwandel, der zentrale Entwicklungen im System der Interessenvertretung bedingt. Von der Entstehung der Unternehmer- und Arbeitgeberverbände und Arbeitnehmerverbände im 19. Jahrhundert, über die korporatistischen Strukturen in der alten Bundesrepublik bis hin zu den wirtschaftlichen Umbrüchen und der Pluralisierung von von Interessen nach der Wiedervereinigung. Interner Link: Zum Beitrag
Die Arbeit der Interessenvertretung wird auch durch den Strukturwandel der Medien und die wachsende Bedeutung des Fernsehens und der neuen sozialen Medien verändert. Die Vielfalt der Medien erleichtert den Zugang und erschwert die Kontrolle. Das Monopol des öffentlich-rechtlichen Rundfunks war gewissermaßen auch eine Voraussetzung der korporatistischen Regierung. Uwe Krüger geht darauf ein, wie im neuen Regime der Mediendemokratie Machtverhältnisse und Hierarchien eine gewichtige Rolle spielen bei der Strukturierung der Interessenvertretung. Nicht zuletzt der Einfluss von Großkonzernen des Internetzeitalters auf die neuen sozialen Medien wirft neue Fragen der Lobbyregulierung auf. Interner Link: Zum Beitrag
Andererseits wachsen die Akteure der Zivilgesellschaft unter den Lobbyakteuren am schnellsten. Mit NGOs wie Transparency International, Mehr Demokratie, Lobbycontrol, Abgeordnetenwatch oder auch den kleinen und großen Umwelt-NGOs haben sich zum Teil schlagkräftige und mitunter einflussreiche Akteure etabliert, die als Gegengewicht zu anderen Lobbies gelten. Christine Quittkat untersucht deren Entwicklung und diskutiert die Ambivalenz der Zivilgesellschaft, weil neben den lobbykritischen Akteuren auch von Unternehmen und Verbänden gesteuerte NGOs aktiv werden. Insgesamt ist die rasante Entwicklung der zivilgesellschaftlichen Akteure und ihre Beteiligung auf nationaler und europäischer Ebene ein wichtiger Indikator für die Reichweite der Veränderung des Systems der Interessenvertretung. Um den Einfluss von NGOs zu beurteilen, müssen allerdings weniger die einzelnen NGOs untersucht werden, als deren Rolle in häufig konkurrierenden Allianzen und Koalitionen. Interner Link: Zum Beitrag
Wenngleich die verschiedenen Facetten und Zusammenhänge des Lobbyismus im politischen System, in der Wirtschaft, in den Medien und in der Zivilgesellschaft an und für sich wichtig und interessant sind, so gewinnen sie doch ihre höhere Bedeutung im größeren Zusammenhang: der Demokratie. Offiziell kein Element der Gewaltenteilung spielen Interessengruppen ebenso wie die Medien und verstärkt im Zusammenwirken mit den Medien eine erhebliche Rolle im politischen Prozess. Die im europäischen und nationalen Zusammenhang vermehrt diskutierte Krise der Demokratie wird nicht zuletzt in Zusammenhang gebracht mit dem Einfluss von Lobbies. Hans Jürgen Bieling diskutiert den Zusammenhang der Lobby- und Demokratiekritik, um die einzelnen Aspekte der Lobbydiskussion durch die demokratietheoretische Brille genauer zu betrachten. Nach der Einführung in Dimensionen und Verfahren der Demokratie erörtert er wichtige demokratietheoretische Kontroversen: liberale versus soziale Demokratie, Pluralismus versus Machteliten, Legitimationsprobleme versus Unregierbarkeit und geht im Ausblick auf die aktuelle Epoche ein, die mit dem Stichwort der "Post-Demokratie" kontrovers diskutiert wird. Interner Link: Zum Beitrag
Nicht zuletzt vor diesem demokratietheoretischen Hintergrund bieten die konkreten Beispiele im zweiten Teil des Dossiers Gelegenheit und Anschauungsmaterial, die angesprochenen Probleme und Themen vertiefend zu diskutieren und differenziert zu beurteilen.