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"In Brüssel sind die Hierarchien flach"

/ 8 Minuten zu lesen

Ein Mann mit mehreren Tausend Visitenkarten und Einträgen im Adressbuch – seit den 80er Jahren arbeitet der ehemalige EU-Abgeordnete der Grünen Frank Schwalba-Hoth in Brüssel u.a. als Lobbyist. Im Interview erzählt er aus seinem Alltag.

Lobbyist/-innen sind Profis. Professionelles Auftreten ist ebenso wichtig, wie stets auf dem neuesten Stand zu sein. (dpa) Lizenz: cc by/2.0/de

Frank Schwalba-Hoth

Frank Schwalba-Hoth gehört zu den Mitbegründern der Partei Bündnis 90/die Grünen. 1982/83 war er Mitglied des hessischen Landtags, 1984 wechselte er ins Europaparlament. Seit 1987 arbeitet er als Lobbyist und Berater in Brüssel – zunächst als Leiter der EU-Büros von Greenpeace in Brüssel. 1998 gründete er mit Silvana Koch-Mehrin (FDP) die Beratungsfirma Conseillé+Partners. Seit 2002 ist er als selbstständiger Political Strategist tätig. Er beschäftigt sich mit den Themen Zivilgesellschaft, nachhaltige Entwicklung, Energiepolitik und der Weiterentwicklung der EU und führt Neuankömmlinge durch die Brüsseler Politik- und Lobbylandschaft.

Julia Amberger: Herr Schwalba-Hoth, woran haben Sie als Lobbyist gearbeitet?

Frank Schwalba-Hoth: Meine Zeit als Lobbyist liegt nun schon einige Zeit zurück, jetzt bin ich in erster Linie Coach. Die wirklichen Erfolge der Lobbyarbeit sind in der Regel kleine. Bei den "großen" Themen wie Rinderseuche, Energieeffizienz gilt: "Der Erfolg hat viele Väter und Mütter" – darum kann ich da nur eine positive Mitverantwortung für mich reklamieren.

Wie gehen Sie dabei vor?

In Brüssel gibt es Büros von rund 900 Verbänden, 350 zivilgesellschaftlichen Organisationen, 300 Anwaltskanzleien, 250 Beratungsfirmen und 100 Thinktanks, die Kontakt zu Entscheidungsträgern suchen. Wenn man einem Entscheidungsträger gegenübersitzt, muss man wissen, dass man nur einer von vielen ist. Man muss davon ausgehen, dass sich er oder sie wie ein Wissenschaftler verhält, die vorgetragenen Argumentationen vor sich ausbreitet, vergleicht mit dem, was er zuvor gehört hat und dann zu einer eigenen Position kommt. Die Lobbyisten sind Teil der politischen Kultur. Die Kommission zum Beispiel konsultiert sie häufig – insbesondere zu Beginn des Gesetzgebungsprozesses.

Inwiefern wirken Lobbyisten/-innen zu Beginn dieses Prozesses mit?

Mit den Grünbüchern: Die Kommission definiert ein Problem – zum Beispiel in der Energiepolitik, im Abfallbereich oder dem Bankensektor – und bietet verschiedene Entwicklungsstränge an. Diese werden öffentlich diskutiert, eben auch mit den Lobbyisten. Aus den Erkenntnissen dieser Diskussion entwickelt die Kommission ein Weißbuch – eine Art Fahrplan, was wann wie vorgelegt und verabschiedet werden soll.

Wie ist das Verhältnis zwischen Vertreter/-innen von Konzernen und denen von zivilgesellschaftlichen Interessen in diesem Prozess – sind ihre Positionen gleichstark?

Vertreter von Industrie und Zivilgesellschaft, das ist häufig wie Katz und Maus – wobei eine "fitte Maus" manchmal effektiver sein kann als eine zu übergewichtige und damit unbeweglichere Katze. Es gibt aber auch Konstellationen, wo beide in dieselbe Richtung zielen.

Ist die Kommission für Lobbyisten/-innen das wichtigste Organ?

Das Charakteristische der EU ist die "Balance of Power" – hier ist alles miteinander vernetzt. Die Kommission spielt natürlich eine zentrale Rolle, die Mitgliedsstaaten mit ihren 28 Ständigen Vertretungen ebenfalls, aber auch das Europäische Parlament mit seinen 751 Abgeordneten aus über 200 Parteien in sieben Fraktionen, die Zivilgesellschaft und die Medien. Am ehesten lässt sich dieses Zusammenspiel mit dem eines Dirigenten mit seinem Orchester vergleichen, nicht mit einem Solo, nicht mit einem Duett oder Terzett.

Was bedeutet das für Sie?

Wenn man dieses Orchester dirigieren will, muss man mit allen Musiker kommunizieren. Neben Expertise braucht man Sensibilität und Einfühlungsvermögen. Im politischen Brüssel mit seinen unterschiedlichen Kulturen können darum selbst Rahmen und Aufbau eines Gespräches über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Die deutsche Vorgehensweise, etwa sofort zur Sache zu kommen, wird von vielen als unangemessenes "Mit der Tür ins Haus fallen" bewertet. Jemand mit einem mediterranen Hintergrund zieht es in der Regel vor – selbst wenn die Zeit sehr begrenzt ist – zunächst Allgemeines anzusprechen und am Ende zum eigentlichen Thema zu kommen. Hinzu kommt Fremdsprachenkenntnis. Man muss Englisch und Französisch verhandlungssicher beherrschen.

Wer spielt die erste Geige im Orchester: der/die Direktor/-in oder sein/ihre Assistent/-in?

In der EU-Politik sind die Hierarchien flach. Wer die nationale Politik in Paris, London oder Washington gewöhnt ist, glaubt in der Regel, dass ein positiv verlaufenes Gespräch mit einer Top-Person – dem Kommissar, Generaldirektor, Fraktionsvorsitzenden – der Schlüssel zum Erfolg ist. In Brüssel hingegen hängt viel vom "mittleren Management" ab.

Was bedeutet das in der Praxis?

Als Hillary Clinton noch US-Vizepräsidentin war, kam sie nach Brüssel. Unter anderem wollte sie sich für die amerikanische Herangehensweise bei Flugpassagierdaten einsetzen. Die US-amerikanische EU-Vertretung in Brüssel arrangierte für sie ein Treffen mit dem Parlamentspräsidenten. Das war aber sinnlos – sie hätte stattdessen mit einigen Schlüsselabgeordneten sprechen sollen: dem Berichterstatter und den Schattenberichterstattern.

Welche Rolle spielen diese Berichterstatter/-innen?

Für jede wichtige Entscheidung wird ein Abgeordneter des Europäischen Parlaments als Berichterstatter ernannt. Wenn Fraktion A die Berichterstattung übernimmt, ernennen Fraktion B, C, D, F, G und H jeweils einen Schattenberichterstatter für dieses Gesetzesvorhaben. Auch wenn diese manchmal Hinterbänkler sind, haben sie jedoch in einer konkreten Frage mehr gestaltende Macht als ein Parlamentspräsident.

An wen wendet man sich in der Kommission?

Die inhaltlichen Vorgaben kommen natürlich vom Kommissar und dem Generaldirektor der zuständigen Generaldirektion, im Berliner System am ehesten vergleichbar mit einem beamteten Staatssekretär. Sprechen sollte man aber mit den Personen, die an ihrem Schreibtisch wirklich gestaltend tätig sind. Das ist der Desk Officer, der Head of Unit und irgendwann auch der Direktor. Der Weg eines Entwurfs führt über den Direktor und den Generaldirektor hin zum Kommissar – und weiter zu allen Kommissaren, die während einer ihrer Mittwochs-Sitzungen diesen Entwurf verabschieden. Dann liegt es gemeinsam in den Händen des Europäischen Parlaments und des Ministerrates, aus dem Entwurf einen endgültigen Text zu formulieren. Bei jeder dieser Stufen sollte man im richtigen Moment vorstellig werden.

Was muss man noch wissen, um in Brüssel mit seinem Anliegen Erfolg zu haben?

Die Verweildauer spielt eine wichtige Rolle: Wer hier schon etliche Jahre arbeitet, hat einen Vorteil. Ansonsten sind Renommee, Sachkenntnis, Glaubwürdigkeit sowie Kommunikationsfähigkeit wichtig.

... und das bedeutet konkret?

Man muss so auf jemanden zugehen, dass man als eine Art von Geschenk wahrgenommen wird. Und die Leute denken: Ach das ist ja toll – nach zehn Industrievertretern kommt endlich mal der Vertreter einer zivilgesellschaftlichen Organisation. Viele hier in Brüssel machen den Fehler, eine Schlüsselperson in zu kurzen Intervallen zu kontaktieren, so dass man als Plage wahrgenommen wird. Wenn man bei einem Gespräch an der Körpersprache merkt, dass er oder sie keine Zeit mehr hat, ist es besser, sofort abzubrechen und den Rest per Mail mitzuteilen.

Wie wichtig ist es, Koalitionen zu bilden?

Extrem wichtig. Während meiner Greenpeace-Zeit wurde Gentechnik ein politisches Thema. Nachdem wir wussten, was wir wollten, haben wir eine Koalition geschmiedet, in die auch Kirchen und Gewerkschaften einbezogen wurden. Eine solche Koalition sollte aber nie zu früh gebildet werden. Wenn man Schlüsselplayer sein will, muss man den "Rohbau des Schiffes" selbst konstruieren: Man sollte die wesentlichen Punkte selbst formulieren und dann anderen anbieten, sich anzuschließen.

Das klingt nach viel Vorarbeit.

Natürlich. In den meisten Büros ist darum auch nur ein Teil der dort Arbeitenden als Lobbyisten in den EU-Institutionen und auf Veranstaltungen aktiv. Die anderen analysieren die Entwicklungen in Brüssel, kommunizieren mit den "Heimatstrukturen" in den Mitgliedsstaaten oder sind mit technisch-administrativen Dingen befasst.

Was sollte man als Lobbyist/-in auf keinen Fall tun?

So auftreten, wie man es vermutlich in seiner Hauptstadt tun würde. In Brüssel hat sich über die Jahre ein eigener Stil herausgearbeitet. Manchmal erscheinen hier Deutsche zum Beispiel mit einem dicken Aktenkoffer voller Dokumente – und werden dann häufig belächelt. Je wichtiger der Gesprächspartner in der Entscheidungsstruktur ist, desto mehr kommt es auf das eigentliche Gespräch an. Dokumente, Grafiken und Schaubilder können anschließend via Mail übermittelt werden.

Worin unterscheidet sich das Lobbying in Brüssel noch von dem in Berlin?

In Berlin lädt man die Entscheidungsträger zum Essen ein oder organisiert Kaminabende. In Brüssel wird aber schon so viel und so gut gegessen, dass ein weiterer Dinner-Termin häufig als Belastung angesehen wird – insbesondere, wenn die Einladung an 15 oder 20 Entscheidungsträger gerichtet ist. Was in Brüssel zählt, sind zeitlich nicht zu lange Einzelgespräche. Pressekonferenzen sind ebenfalls nur sehr eingeschränkt zu empfehlen. Lieber konzentriert man sich auf einen einflussreichen Journalisten. Das, was alle dankbar annehmen, sind "Geschenke" – Geschenke in Form von Wissen, von Hintergrundinformationen.

Was meinen Sie damit?

Strategische Kommunikation! Unter den Parlamentariern herrscht eine selten eingestandene, relativ hohe Konkurrenz. Wenn zum Beispiel eine der zentralen Institutionen in Brüssel eine neue Leitung bestimmt, man als Lobbyist den Namen der beiden favorisierten Kandidaten kennt und ihn einem Parlamentarier mitteilt, ist er oder sie dankbar. Die wirklich einflussreichen Lobbyisten wissen genau, wie sie ihre Hintergrundinformationen wem gegenüber dosieren. So schafft man sich Freunde, gewinnt Vertrauen.

In den 80er Jahren waren sie selbst Abgeordneter. Wie verliefen damals ihre Kontakte mit Lobbyisten/-innen?

Damals wollte ich nichts mit Lobbyismus zu tun haben. Außerdem interessierten sich nur wenige für das Europäische Parlament. Das EU-Parlament gewann erst durch die verschiedenen Revisionen der EU-Verträge an Einfluss – den Vertrag von Maastricht, Nizza, Amsterdam und Lissabon. Heute sind die drei Hauptinstitutionen Parlament, Kommission und Rat für die Welt der Lobbyisten gleichermaßen wichtig. Lobbyismus war damals generell negativ besetzt.

Und heute ist er das nicht mehr?

Heute versucht man, das Problem teilweise sprachlich zu lösen. Statt von Lobbyismus spricht man nun von Public Affairs.

Ab wann gefährdet die Einflussnahme das Funktionieren einer Demokratie?

Wenn es keine Pluralität mehr in der Bandbreite der vorgetragenen Meinungen geben sollte.

Wie weit darf Einflussnahme gehen?

Bis dahin, was man selbst ethisch vertreten kann – im Extremfall immer bis ganz kurz vor dem, was nicht mehr erlaubt ist.

Laut dem Transparenzregister der EU sind die Ausgaben für Lobbyismus in den letzten Jahren enorm gestiegen – allein in der Autoindustrie von 8 Millionen Euro im Jahr 2011 auf über 20 Millionen im Jahr 2014.

Heute sind alle großen multinationalen Konzerne in Brüssel vertreten – sie müssen dort vertreten sein; und geben immer mehr Geld aus. Solche Zahlen muss man trotzdem vorsichtig betrachten. Das Transparenzregister basiert auf eigenen Angaben. Manche Organisationen erwähnen nur Gelder für Empfänge – aber nicht für Miete, Gehälter und Reisen. Deshalb versuchen die Verantwortlichen des Registers nun, auch diese Angaben "herauszukitzeln". Ich glaube, dass solche spektakulären Steigerungsraten eher darauf zurückzuführen sind.

Warum ist es für Lobbyisten denn so wichtig, dass sie ihr Tun nicht vollständig offenlegen?

Wenn es um in der Öffentlichkeit eher unpopuläre Positionen, also Atom, Verschmutzung, Pestizide usw. geht, wollen insbesondere Beratungsfirmen nicht in den Geruch kommen, zu sehr als "bad boys" wahrgenommen zu werden.

Was muss passieren, damit das Transparenzregister besser funktioniert?

Die Fragen im Transparenzregister müssen sich noch stärker der Realität anpassen. So deklarieren sich einige Vertretungen von Firmen und Verbänden als Nichtregierungsorganisation. Juristisch ist das zutreffend: Jede Struktur, die keine direkten kommerziellen Aktivitäten betreibt, ist nach belgischem Recht eine "Association sans but lucratif (ASBL)" – also eine NGO. Zivilgesellschaftlich aktiv ist sie damit aber lange noch nicht.

Julia Amberger ist Journalistin (u.a. Deutschlandfunk und ARD) und publiziert u.a. zum Thema Lobbyismus.

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