Mit der Europäischen Union ist in den letzten Jahrzehnten eine neue supranationale Sphäre der Politik entstanden, die tief in die nationalen Mitgliedstaaten hineinreicht. Dies hat Auswirkungen auf das Lobbying, weil Interessengruppen längst nicht mehr nur auf der nationalen Ebene politische Entscheidungen zu beeinflussen versuchen und Einflussnahme auf nationaler Ebene häufig auf Verhandlungen und Entscheidungen auf europäischer Ebene zielt. Ein wesentliches Kennzeichen des politischen Systems der Europäischen Union ist der beständige Wandel und das Wachstum der Institutionen und Zuständigkeiten. Immer mehr Politikbereiche wurden vergemeinschaftet und die europäische Ebene wird immer wichtiger, weil dort immer mehr Entscheidungen getroffen werden, die in nationales Recht umgesetzt werden. Mit der Entscheidung Großbritanniens, dessen Bevölkerung sich mehrheitlich gegen die weitgehende Europäisierung nationaler Belange aussprach, zum Austritt aus der EU (Brexit), verlässt allerdings erstmals ein Land die Europäische Union und Stimmen werden lauter, die auf eine Zurücknahme der Integration in einzelnen Politikbereichen drängen. Gleichwohl werden das europäische System der Interessenvertretung und des Lobbying auch in Zukunft ihre zentrale Bedeutung behalten, sowohl für inländische als auch für ausländische Akteure. Ohne die Kenntnisse über europäische Institutionen, Politikprozesse und die europäische Arbeit der Interessengruppen kann daher Lobbying in Europa nicht mehr richtig verstanden werden.
Entwicklung des europäischen politischen Systems seit den 1980er-Jahren
Brüssel, die Lobbyhauptstadt Europas
Die Arbeit der europäischen Institutionen, insbesondere der Europäischen Kommission, des Europäischen Rates und des Europäischen Parlaments, unterlag in den vergangenen zwei Jahrzehnten einer starken Aufwertung und Politisierung. Bis Mitte der 1980er Jahre galt Brüssel als Schauplatz technokratischer Politik. Spezialisten und die Experten der betroffenen Politikbereiche verhandelten dort über neue Regulierungen für wenige Wirtschaftsbereiche (vor allem Landwirtschaft, Kohle und Stahl), ohne dass die Bürgerinnen und Bürger allzu viel davon mitbekommen hätten. Die Kommission der Europäischen Union war mit ihren Beamten das Zentrum dieser neuen Art der Politik, die wenig demokratisch kontrolliert wurde. Weil die Belange der Bürger/-innen und die Befugnisse der nationalen Parlamente dabei nur in wenigen Bereichen eingeschränkt wurden, wurde die Arbeit der EU in der Öffentlichkeit selten wahrgenommen.
Das Europäische Parlament, das erst seit 1979 direkt gewählt wird, führte ein randständiges Dasein und kämpfte bis in die späten 1980er Jahre vergeblich um Anerkennung. Erst mit dem am 1. Januar 1993 realisierten gemeinsamen Binnenmarkt der Mitgliedstaaten der Europäischen Union nahm die Bedeutung des Parlamentes erheblich zu. Im Zuge des Wachstums der EU, insbesondere aber aufgrund der Verlagerung zahlreicher wirtschafts- und sukzessive auch gesellschaftspolitischer Entscheidungsprozesse und Befugnisse auf die europäische Ebene hat sich auch die öffentliche Wahrnehmung der EU als relevanter politischer Akteur verändert, wie nicht zuletzt die Proteste gegen die europäische Handelspolitik deutlich gezeigt haben. Von einer umfassenden europäischen Öffentlichkeit ist zwar nach wie vor nicht die Rede. Aber spezialisierte europäische Medien wie Politico (politico.eu) und Online-Medien wie Euractive.com oder Euobserver.com tragen zur Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit bei, die vor allem den wachsenden Kreis von Europa-Expertinnen und Experten auf nationaler und europäischer Ebene einschließt. Verhandlungen und Entscheidungen auf europäischer Ebene, ob zur Euro-Rettung, Schuldenkrise oder Migration, sind aber weit über diese Kreise hinaus mittlerweile sehr häufig Gegenstand einer intensiven politischen Diskussion. Auch da die Auswirkungen der europäischen Gesetzgebung immer stärker im Alltag der Bürgerinnen und Bürger zu spüren sind.
Auch die Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben deshalb ein Interesse, frühzeitig über Brüsseler Vorhaben informiert zu werden. Weil der Bundestag nicht allein von den Informationen der Bundesregierung abhängig sein will, hat das deutsche Parlament 2007 ein Verbindungsbüro in Brüssel eröffnet, in dem neben der Verwaltung, Vertretungen aller Fraktionen daran beteiligt sind, bereits die Genese europäischer Entscheidungs- und Gesetzgebungsprozesse in Brüssel zu beobachten. Damit wurde ein Frühwarnsystem eingerichtet, welches dem Parlament eine eigene Informationsgrundlage verschafft, die Parlamentarier/-innen also auch etwas unabhängiger macht von der Informationspolitik der nationalen Exekutive. Die nationalen Parlamente holen damit nach, was Unternehmen und Verbände zuvor schon längst getan hatten, um nicht am Ende der europäischen Gesetzgebungsverfahren vom Entscheidungsdruck überrollt zu werden.
Das "1992-Projekt" (Europäischer Binnenmarkt): Wachstum der europäischen Gesetzgebung und des Lobbyismus
1986 wurde die Einheitliche Europäische Akte verabschiedet, mit der die vertraglichen Grundlagen zur Vollendung des europäischen Binnenmarktes bis zum Jahr 1992 geschaffen wurden. Sie trat 1987 in Kraft und leitete eine enorme Ausweitung der europäischen Gesetzgebung ein. In Rahmen der Akte wurde das Mehrheitsverfahren im Europäischen Ministerrat für die Wirtschafts- und Binnenmarktpolitik eingeführt, also die Möglichkeit nationaler Veto-Positionen eingeschränkt; eine große Zahl europäischer Gesetze – direkt geltende Verordnungen und Direktiven, die in nationales Recht umgesetzt werden müssen – regeln seither den gemeinsamen Markt. Wurden bis Mitte der 1980er Jahre jährlich bis zu 500 europäische Gesetze auf den Weg gebracht, so stieg die Zahl im Jahr 1994 auf 2500 an (Fligstein/McNichol 1998, S.76). Mit den nachfolgenden Verträgen von Maastricht (1992), Amsterdam (1997), Nizza (2001) und Lissabon (2007) wurden sukzessive jeweils weitere Politikfelder bzw. Gebiete in Politikfeldern vergemeinschaftet. Mittlerweile gibt es nur noch wenige gesellschaftspolitische Bereiche und Themen, in denen die europäische Politik keine Rolle spielt. Allerdings unterscheidet sich der Anteil europäisch motivierter Gesetze nach Politikfeldern stark und fluktuiert im Zeitverlauf, wie die Auswertung der Politologin Annette Töller zeigt. (Vgl. Tabelle 1) Zusätzlich zu den ohnehin bereits zahlreich agierenden Wirtschaftsinteressen verstärkte sich in diesem Zusammenhang auch das Engagement anderer Interessengruppen, allen voran der umweltpolitischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs).
Der teilweise die nationale Ebene ergänzende, teilweise sie bereits ersetzende europäische Gesetzgebungsprozess wurde somit im Laufe der 1990er Jahre zu einem immer wichtigeren Merkmal des europäischen politischen Systems. Im politischen Prozess verschränkten sich dabei zentralistische und föderale Merkmale. Ein gutes Beispiel dafür ist die Verkehrspolitik: Während die EU-Kommission gegen die Mitgliedsstaaten die alleinige Zuständigkeit für Luftverkehrsabkommen mit den USA durchsetzte, erwirkte sie beim Straßen- und Schienenverkehr zwar die Öffnung der nationalen Märkte, aber es blieb bei der geteilten Zuständigkeit auf nationaler und europäischer Ebene. Wenngleich die EU damit noch lange kein Bundesstaat wurde, weil es nach wie vor Bereiche gibt, in denen die EU lediglich unterstützende oder gar keine Zuständigkeit besitzt, blieb es nicht beim losen Staatenbund. Das deutsche Bundesverfassungsgericht schuf 2009 die Rede vom Staatenverbund für die mit dem Lissabonner Verfassungsvertrag (2007) erreichte Zwischenform. In einem Staatenverbund arbeiten die Mitglieder enger zusammen als in einem Staatenbund, behalten aber ihre Souveränität. Erst mit einem europäischen Bundesstaat würde die nationale Souveränität dieser Interpretation zufolge auf Europa übertragen.
Unabhängig von solchen definitorischen Mühen hat die supranationale EU-Gesetzgebung erhebliche Konsequenzen für die politische Öffentlichkeitsarbeit der Public-Affairs-Abteilungen von Unternehmen und Verbänden, die Öffentlichkeitsarbeit und Lobbying verbinden, aber auch der Gewerkschaftssekretäre, Vertreter von Umweltgruppen und NGOs aus den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft. "Shoot where the ducks are!" – "schießt dort, wo die Enten sind!" lautet das Motto der Lobbyisten. Während bis in die 1980er Jahre die meisten Enten im nationalen politische System zu verorten waren, setzte mit dem Binnenmarktprogramm 1993 ein gewaltiger Flug nach Brüssel ein, der bis heute anhält. Dabei darf "Brüssel" nicht geografisch verengt, also exklusiv lokal gedacht werden. Ein wachsender Teil des Lobbyismus auf nationaler Ebene zielt auf Brüsseler Entscheidungsprozesse, weil eine ganze Reihe von nationalen Regierungen im Ministerrat bei Mehrheitsentscheidungen von einer Position überzeugt werden müssen, wenn sie in Brüssel das Anliegen unterstützen sollen. Im früheren einstimmigen Entscheidungsverfahren reichte aufgrund der Vetomacht eines einzelnen Mitgliedsstaates die Gunst einer einzigen Regierung, wenn es um die Verhinderung einer unliebsamen Entscheidung ging. Die häufig zu lesende Unterscheidung von nationaler und europäischer politischer Interessenvertretung greift vor diesem Hintergrund längst zu kurz. Im Hinblick auf europäische Entscheidungsprozesse ist auch Berlin eine von vielen mehr oder weniger wichtigen Provinzen, die bearbeitet oder umgangen werden müssen, je nach Interessenlage in Europa.
Strukturveränderungen des europäischen Systems der Interessenvertretung
Die Auseinandersetzungen über die europäische Politik schlagen sich nicht zuletzt in einer weitreichenden Veränderung der Landschaft der europäischen Interessengruppen nieder. Weil selbst die großen Mitgliedsländer der EU in vielen Fragen keine Veto-Position mehr besitzen (vgl. Joos 2014 zur Umgehung des Vetos von Mitgliedstaaten durch das Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit) und das Parlament bei der Gesetzgebung immer häufiger eine wichtige Rolle spielt, ändern sich zwangsläufig auch die Strategien der politischen Interessenvertretung in Europa und allgemein der Charakter des Lobbying sowohl in Brüssel als auch in den Hauptstädten der Mitgliedsstaaten. Die Interessengruppen versuchen nun stärker in Brüssel präsent zu sein, das EU-Parlament mit einzubeziehen und die Lobbystrategien auf der nationalen Ebene stärker zu koordinieren, sowohl horizontal (länderübergreifend) als auch vertikal (national/europäisch: Mehrebenenpolitik). Darüber hinaus können weitere beratende und vorbereitende Gremien wie die Expertengruppen der Kommission oder der Ausschuss der Ständigen Vertreter der Regierungen der Mitgliedsstaaten und die für die Umsetzung der Gesetzgebung relevanten Komitologie-Ausschüsse wichtige Ansatzpunkte für Lobbyarbeit bieten (Hustedt et al. 2014). Auch die Arbeit des Europäischen Gerichtshofes spielt aufgrund des Vorrangs der Europäischen Rechtsprechung und der Vielfalt der politischen Themen eine große Rolle für Interessengruppen auf nationaler und europäischer Ebene (Blauberger und Schmidt 2017).
Aus den wachsenden und zunehmend komplexen Anforderungen an die europäischen Interessengruppen in Brüssel resultiert eine starke Professionalisierung (Linder 2014). Im Laufe der 1990er Jahre ist in diesem Zusammenhang eine nur mit den Verhältnissen in Washington vergleichbare Lobbybranche aus spezialisierten Beratungsunternehmen, Rechtsanwaltskanzleien, Medien und Schulungszentren entstanden (zum Vergleich USA/EU siehe Mahoney 2008). Professionelle Lobby-Dienstleister ersetzen heute häufig Verbandsfunktionäre, die aus den Reihen der jeweils betroffenen Branchen rekrutiert werden. Die seit langem dominante Rolle der Wirtschaftslobby in der EU hat mittlerweile auch eine Reihe von Gegenspielern auf den Plan gerufen, z.B. eine europäische demokratische Bewegung mit der Kernforderung der Lobby-Transparenz (Alter EU). Mit dem Dokumentarfilm "Externer Link: The Brussels Business" wurde im Sommer 2012 erstmals die europäische Szene der Interessenpolitik für ein breiteres Publikum aufgearbeitet. Der Film stellt exemplarisch die Geschichte des European Roundtable of Industrialists (ert.eu), in dem die Vorstandsvorsitzenden der europäischen Großkonzerne zusammenarbeiten, und die Geschichte der Brüsseler NGO Corporate Europe Observatory (corporateeurope.org) gegenüber: David gegen Goliath. Ebenso wie die europäische Politik insgesamt ist auch die europaweite Lobbyarbeit im Zuge der Vollendung des europäischen Binnenmarktes in den 1990er Jahren aus dem lange andauernden Schattendasein herausgetreten, erfuhr seither der realen Bedeutung entsprechend größere Aufmerksamkeit. Diese schlug sich nicht zuletzt in der Einführung eines freiwilligen Transparenzregisters des Europäischen Parlamentes und der Europäischen Kommission im Jahr 2011 nieder. Das Europäische Parlament konnte sich dabei gegenüber der Europäischen Kommission bis heute nicht mit der Forderung nach einem verbindlichen Register durchsetzen (vgl. zur Rolle von Lobbygruppen in der Auseinandersetzung Dinan 2010).
Die Angaben im Europäischen Transparenzregister zu Lobbyausgaben der Unternehmen sind nach wie vor unzuverlässig, weil die Einträge von offizieller Seite nicht ausreichend kontrolliert werden. Häufig werden die Ausgaben sehr gering veranschlagt, bisweilen aber tragen Unternehmen auch ihren gesamten Umsatz ein. Unabhängig von der Frage der Präzision vermitteln die aggregierten Angaben über das Wachstum verschiedener Lobby-Lager aber einen interessanten Eindruck von der Entwicklung und Ausdifferenzierung der Brüsseler Lobbyszene. Verantwortlich für die unübersichtliche Gemengelage sind neben der zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft (vgl. Speth 2010) die wachsenden Konflikte zwischen und innerhalb der Lobby-Lager, die zu neuen Verbänden und einem rascheren Wechsel von Koalitionen und Allianzen führen.
Die europäische Verlagerung der Interessenvertretung
Die Strukturen der politischen Interessenvertretung in Europa, also die Arbeit von Unternehmen und Verbänden der privaten Wirtschaft, von Gewerkschaften, NGOs, aber auch von öffentlichen Körperschaften, stehen in einem engen Verhältnis zum institutionellen Aufbau des politischen Systems. Infolge der Verschiebung der politischen Entscheidungsmacht nach Brüssel verlagerten sich auch die Organisationen und die Arbeitsweisen der Lobbyisten. Die Forschung zur Entwicklung der europäischen Interessenvertretung spricht von Ko-Evolution (vgl. Eichener / Voelzkow 1994). Dabei lassen sich verschiedene Dimension unterscheiden. Die Ausweitung der Kompetenzen auf der europäischen Ebene (Stichwort Vertiefung) und das Mitgliederwachstum der EU selbst (Stichwort Erweiterung) führte
erstens zu einem außerordentlichen Wachstum der von europäischer Politik betroffenen Interessengruppen. Diese drängten folgerichtig immer stärker auf eine Beteiligung an den europäischen Entscheidungsprozessen, auch wenn die Zahl der Interessengruppen aus den neuen Mitgliedsländern noch hinter den Interessengruppen der älteren Mitgliedstaaten zurückbleibt.
zweitens zu einer größeren Verbindlichkeit bei der Registrierung der Interessengruppen im freiwilligen Transparenzregister. Der Zugang zum Europäischen Parlament setzt eine Registrierung gemäß den Vorschriften eines Verhaltenskodexes voraus. Bereits ein Verstoß gegen den Kodex kann zum Entzug des Hausausweises einer Person oder der Organisation führen. Die verbindlichere Regelung spiegelt sich im Wachstum der in Brüssel gemeldeten Interessenvertretungsorganisationen wider. Zwischen 2013 und 2017 hat sich die Zahl der im Europäischen Transparenzregister eingetragenen Organisation mehr als verdoppelt auf mehr als 11.000 (siehe Tabelle 2). Die Zahl der Organisationen aus Deutschland stieg im gleichen Zeitraum von 678 auf 1383 (siehe Tabelle 3).
drittens können Verlagerungen und Verschiebungen in der Verbändelandschaft festgestellt werden. Große Firmen einzelner Branchen arbeiten grenzübergreifend zusammen und positionieren sich gegenüber den nationalen Interessen kleiner und mittlerer Unternehmen. Im Zuge von beschleunigten politischen und wirtschaftlichen Transformationsvorgängen (z.B. Energiewende) entwickeln sich hergebrachte Interessen von Unternehmen und Verbänden teils auseinander und neue Hierarchien entstehen, etwa durch Konzernallianzen oder aufgrund der Zentralisierung von Entscheidungskompetenzen auf europäischer Ebene innerhalb von Wirtschaftsverbänden. Neben wirtschaftlichen Interessen artikulieren sich darüber hinaus vermehrt NGOs.
schließlich kann viertens ein Schub der Professionalisierung der Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit hervorgehoben werden, der der wachsenden Komplexität der Aufgaben geschuldet ist. Zahlungskräftige Interessengruppen betrauen zunehmend spezialisierte Beratungsunternehmen, PR-Firmen und Rechtsanwaltskanzleien sowie eine wachsende Zahl von Think Tanks mit Lobbyaufgaben oder kaufen lobbynahe Dienstleistungen ein. Abgesehen von der inhaltlichen Kompetenz verlangt die erfolgreiche Interessenvertretung nach erheblich größerer Prozesskompetenz (Joos 2014).
Der Blick auf die Verteilung der Interessengruppen nach Herkunftsländern zeigt die nach wie vor großen Unterschiede zwischen alten und neuen EU-Mitgliedern. Aus einem bevölkerungsreichen Land wie Polen kommen weniger Interessengruppen als aus sehr viel kleineren Ländern wie Österreich oder Schweden. Im Zuge der Angleichung von EU-Mitgliedern aus Mittel- und Osteuropa an westeuropäische Länder wird erwartet, dass auch das Wachstum der Interessengruppen noch weiter zunehmen wird. (vgl. Tabelle 4). Besonders interessant ist die Zahl der Interessengruppen aus Staaten, die nicht Mitglied der EU sind. Aus einigen Ländern außerhalb der EU sind mehr Interessengruppen in Brüssel aktiv als aus vergleichbaren Mitgliedsstaaten (z.B. liegt die Schweiz vor Österreich).
Das starke Wachstum der Lobbykräfte und die Dominanz der Wirtschaftsthemen trugen zur Skepsis vieler EU Bürger hinsichtlich der Qualität der europäischen Demokratie bei. Nach der Ablehnung des Europäischen Verfassungsvertrages in den beiden EU Gründungsstaaten Frankreich und der Niederlande im Jahr 2005 verstärkte die Europäische Kommission die Möglichkeit zur Bürgerpartizipation, z.B. durch Online-Konsultationen, die Europäische Bürgerinitiative sowie die Finanzierung von europäischen (Partei-)Stiftungen (Hüller 2010, vgl. dazu ausführlicher den Beitrag von Christine Quittkat in diesem Dossier). Die Zahl der im Transparenzregister eingetragenen NGOs übersteigt mittlerweile die Zahl der eingetragenen Unternehmen (vgl. Tabelle 2). Das neu gestaltete Partizipationsverfahren und die wachsende Beteiligung von NGOs insbesondere gegenüber repräsentativen Interessengruppen (Verbände, Gewerkschaften etc.) werden in der Literatur durchaus skeptisch beurteilt (vgl. zu dieser Frage im Einzelnen den Beitrag von Christine Quittkat). Gleichwohl eröffnen die neuen Beteiligungsmöglichkeiten einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Gruppen Zugänge zu den europäischen Institutionen, insbesondere zur EU-Kommission. In quantitativen Untersuchungen stellte sich heraus, dass in vielen Auseinandersetzungen um die Regulierung von Wirtschaftsaktivitäten auch schwächere Interessengruppen wie NGO in Koalition mit EU-Kommissionsbeamten durchaus erfolgreich sind (Dür, Bernhagen, Marschall 2015). Grundsätzlich sind die Einflussmöglichkeiten vieler NGOs aber eher gering, weil sie häufig lokal bzw. national beschränkt arbeiten und daher selten ein echtes Gegengewicht gegen dominante Wirtschaftsinteressen von Großkonzernen und Verbänden darstellen. Den großen Umwelt-NGOs wie Greenpeace oder Friends of the Earth gelingt es zwar häufig, wahrgenommene Missstände zu skandalisieren. Bei der Vorbereitung der Gesetzgebung (Erarbeitung von Positionspapieren und Teilnahme an Stakeholder-Treffen) sind die Umwelt-NGOs den Wirtschaftsverbänden aufgrund mangelnder Ressourcen jedoch nach wie vor unterlegen (Gullberg 2011).
Beraten und verkaufen: Brüsseler Lobby-Dienstleister
Bis Anfang der 1990er Jahre waren nur sehr wenige und kleine Beratungsfirmen in Brüssel aktiv. Im Zuge der Ausweitung der wirtschaftspolitischen Kompetenzen durch die Wirtschafts- und Währungsunion expandierte auch das europäische Beratungs– und Strategiegeschäft. Insbesondere die Tochterunternehmen U.S.-amerikanischer Consulting-Unternehmen wie Burson-Masteller oder Hill & Knowlton, aber auch zahlreiche europäische Unternehmen wie G Plus Ltd. oder EUTOP (vgl. die Kategorie "professional consultancies" bei lobbyfacts.eu) leisteten einen großen Beitrag zur Entwicklung des Lobby-Dienstleistungsspektrum in Europa. Angeboten wird ein breites Spektrum von Leistungen, die früher zu den klassischen Aufgaben der Funktionäre und Beschäftigten von Verbänden zählten. Die Übernahme von Aktivitäten wie Verbandsmanagement, politische Analyse und Beratung, Krisenkommunikation, Kampagnenentwicklung, systematischer Einsatz von Klagen vor europäischen Gerichten und vieles mehr markiert den Übergang in das Zeitalter aggressiver und strategischer Lobbyarbeit. Die Professionalisierung geht einher mit speziellen Lehrgängen und Studiengängen, in denen die Lobbyisten ausgebildet werden.
Im europäischen Transparenzregister sind derzeit (Stand Juni 2017) nicht weniger als 1311 von insgesamt 11.262 Organisationen als Beratungsfirmen, Anwaltskanzleien und selbständige Berater gelistet, wobei der große Anteil von den Beratungsfirmen (765) und den selbständigen Beratern (417) gestellt wird. Damit übersteigt die Zahl kommerzieller Berater z.B. die Zahl der Gewerkschaften und Professionsverbände. Von insgesamt 844 Denkfabriken, Forschungsinstituten und Hochschuleinrichtungen im Transparenzregister sind 542 als Denkfabriken und Forschungsinstitute kategorisiert (vgl. Tabelle 2, zum Anteil der deutschen Einträge vgl. Tabelle 3).
Lobbyregulierung
Welche Einflussmöglichkeiten auf den europäischen Gesetzgebungsprozess gibt es und wie kann ein unverhältnismäßiger Einfluss einzelner Akteure und Interessenvertreter verhindert werden? Zu Beginn der Geschichte der Europäischen Integration bereiteten den Verantwortlichen für die Römischen Verträge (1958) der sechs Gründungsstaaten – Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande – zur Schaffung der Europäischen Gemeinschaften vor allem die großen Mitgliedstaaten selbst Sorgen. Die europäischen politischen Entscheidungsverfahren wurden daraufhin so gestaltet, dass auch die großen Mitgliedstaaten nicht ohne weiteres ihre Interessen durchsetzen konnten. Gesetzesinitiativen können nur von der Europäischen Kommission auf den Weg gebracht werden. Innerhalb der Kommission sollen die interne Abstimmung und das Kollegialitätsprinzip, demzufolge Beschlüsse formal immer von der Kommission als Ganzes getroffen werden, dafür sorgen, dass unterschiedliche Interessen berücksichtigt werden. Das Konsensverfahren im Europäischen Rat begrenzte die Möglichkeiten einzelner Staaten, ihre Interessen gegen andere durchzusetzen. Die Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Rat im Zuge des Binnenmarktprojektes hat die Vetoposition der einzelnen Mitgliedstaaten seit den späten 1980er Jahren allerdings stark eingeschränkt. Gegensätzliche Positionen bedürfen aber bis heute einer sorgfältigen Aushandlung, weil Allianzen wechseln und alle Mitgliedsstaaten auf Zugeständnisse und Unterstützung anderer angewiesen sind, um ihre Anliegen zu fördern. Europäische Politikerinnen und Politiker sowie Beamte sind bestimmten Mandats- und Amtspflichten unterworfen. Bestechlichkeit, Vorteilsnahme oder Untreue sind Straftatbestände. Für Kommissionsmitarbeiter gilt ein Verhaltenskodex, der Interessenkonflikte definiert und verbindliche Regeln zum Wechsel in die Privatwirtschaft nach Ende der Amtszeit festlegt (Karenzzeit). Für ehemalige Kommissionsmitglieder wurde die Karenzzeit 2017 von 18 Monate auf 24 Monate verlängert, für den Präsidenten der Kommission auf 3 Jahre. Die Verschärfung der Regeln stehen im engen Zusammenhang mit dem Wechsel des ehemaligen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso zur Investmentbank Goldman Sachs im Jahr 2018. Zwar hatte Barroso nicht gegen die seinerzeit bestehenden Regeln verstoßen, weil der Wechsel 20 Monate nach Ende seiner Amtszeit erfolgte, aber der Schritt stieß europaweit aufgrund der bedeutenden Rolle der Bank in der Finanzkrise von 2007/8 auf große Kritik. Während der heute geltenden Karenzzeiten müssen ehemalige Kommissionsmitglieder die Kommission über die Aufnahme einer Tätigkeit informieren und bestimmte Tätigkeiten wie das Lobbying bei der Kommission unterliegen Beschränkungen (Externer Link: https://ec.europa.eu/germany/news/20170914neuer-verhaltenskodex_de). Für Europaparlamentsabgeordnete gibt es seit 2011 einen Verhaltenskodex (Externer Link: Code of Conduct), der z.B. mit der Verpflichtung zu Angaben über Nebeneinkünfte auf das Aufdecken von finanziellen Interessen der Abgeordneten und mögliche Interessenkonflikte zielt (Linder 2014, 53-54).
Im Vergleich zu den Veränderungen in den nationalen politischen Systemen der Mitgliedsstaaten haben sich die europäischen Verhandlungs- und Entscheidungsstrukturen in den vergangenen Jahrzehnten außerordentlich rasch verändert. Seit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte haben sich die Anforderungen an Interessengruppen beträchtlich erhöht. Weil viele Informationen in Brüssel zusammenlaufen und weil die einzelnen Mitgliedstaaten die Interessen von Unternehmen oder Verbänden in Brüssel nicht mehr eigenständig wahren können, haben viele Akteure ihre Präsenz und Lobbyarbeit in Brüssel massiv ausgeweitet. Das Monitoring der komplexen europäischen Gesetzgebungsprozesse stellt hohe Anforderungen an Interessenvertreter/-innen. Die Lobbyaktivitäten betreffen mittlerweile neben der Kommission und dem Rat auch das Europäische Parlament, dessen Gewicht im Laufe der meisten Gesetzgebungsprozesse erheblich angewachsen ist. Die Möglichkeiten zur Einflussnahme wiederum sind nicht zuletzt aufgrund von finanziellen Kapazitäten und anderen Ressourcen ungleich verteilt. Angesichts der wachsenden Komplexität europäischer Entscheidungs- und Gesetzgebungsprozesse durch Änderungen von Zuständigkeiten, Verfahren und Aufgaben einzelner EU-Institutionen sowie der Entwicklung der Brüsseler Lobbyszene nahm ein neues Instrument Gestalt an, das auf eine viel größere Transparenz lobbyistischer Aktivitäten in Brüssel zielt.
Der Ausbau der Lobbyregulierung
Das 2008 von der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament ins Leben gerufene freiwillige gemeinsame Transparenz-Register (TR) erfasst nicht nur Verbände und Interessengruppen, die sich auf europäischer Ebene organisieren, sondern auch nationale, internationale und sub-nationale (regionale oder lokale) Interessenvertreter, sowohl private als auch öffentliche Akteure, die in Brüssel Lobbyarbeit betreiben. Der Eintrag in das Transparenz-Register ist freiwillig. Der Eintrag ist allerdings Bedingung für den Erhalt eines Zugangsausweises zum EP wie auch für den Zugang zu manchen Beratungsgremien.
Eintragen sollen sich in das TR alle Verbände und Interessengruppen, die ihre Mitglieder gegenüber politischen Entscheidungsträgern der EU vertreten. Die geforderten Angaben sind weit gefasst: Die Organisationen müssen benennen, welche EU-Initiativen, -Strategien und -Rechtssetzungsvorhaben sie beobachten, welche Projekte, Veranstaltungen und Veröffentlichungen sie im Rahmen ihrer Lobbying-Tätigkeit planen sowie an welchen EU-Strukturen und Plattformen sie beteiligt sind. Ebenso muss eingetragen werden, wie viele Personen der Organisation für Lobbyarbeit zuständig sind, welche Interessenbereiche abgedeckt und welche Mitgliedschaften in weiteren (Dach-)Verbänden existieren. Kernstück des Registers sind die Angaben zu den Finanzen, bei denen Interessenvertreter eine "Schätzung der jährlichen Kosten im Zusammenhang mit den in den Anwendungsbereich des Registers fallenden Tätigkeiten" (guidelines_de.pdf, 15, Hervorhebung im Externer Link: Original). Ebenfalls angegeben werden müssen Zahlungen, die eine Interessengruppe von EU-Organen erhält (guidelines_de.pdf, 16).
Die genannten Summen waren in der Vergangenheit häufig fehlerhaft. Die intensive Beobachtung des TR durch Wissenschaftler/-innen, Organisationen wie Corporate Europe Observatory und LobbyControl, aber auch die vorgesehene regelmäßige Evaluierung des TR haben eine Reihe von Anpassungen und Korrekturen des Transparenzregisters zur Folge gehabt. Seit 2016 müssen Angaben dazu gemacht werden, aus welchen Posten sich die Lobbyausgaben grob zusammensetzen wie etwa Bürokosten (Miete und Nebenkosten), Organisation und Büromaterialen, Personalkosten für Brüsseler Mitarbeiter, etc.
Die Inhalte des Registers lassen sich zumindest annäherungsweise kontrollieren: durch systematische Recherche und Analyse kann ermittelt werden, welche Organisationen Kontakte zu europäischen Entscheidungsträgern unterhalten, ohne im TR eingetragen zu sein. Eine Studie von ALTER-EU zeigte, dass die City of London Corporation, Credit Suisse und die Rating Agentur Standard & Poor Lobbytermine bei der Kommission wahrnahmen, ohne sich zu registrieren (Externer Link: Quelle). In der Allianz Alter-EU zusammengeschlossene NGOs haben eine Reihe von solchen Akteuren aufgedeckt, fehlende und fehlerhafte Einträge im Transparenzregister öffentlich gemacht.
Bei weiterhin bestehenden Mängeln können über das TR mittlerweile Aussagen darüber gemacht werden, wie viele Vertreter spezifischer Interessen (z.B. einer Branche) auf europäischer Ebene Lobbying betreiben. Allerdings erlaubt das TR keine Aussagen darüber, wie viele Interessengruppen tatsächlich in Brüssel und Straßburg aktiv sind oder darüber, wie stark die Verbindungen zwischen unterschiedlichen Interessengruppen und politischen Entscheidungsträgern sind.
Der wichtigste Kritikpunkt ist der im Gegensatz etwa zum Externer Link: U.S.-amerikanischen Lobbyregister freiwillige Charakter des Transparenzregisters. Ein verpflichtendes Lobbyregister scheiterte bislang im Ministerrat, der geschlossen zustimmen muss (Einstimmigkeit). Einige EU-Mitgliedsstaaten, darunter auch Deutschland, verweigern ihre Zustimmung aus "rechtstechnischen Gründen" gegen einen verbindlicheren Ansatz zur Lobbyregulierung. Damit bleibt auch die Möglichkeit zur Sanktionierung von Fehlverhalten der Lobbyakteure beschränkt. Ebenfalls lässt sich der Mangel an Datenqualität unter diesen Umständen kaum beheben.
Fazit
Der rasche Wandel der Europäischen Union hin zu einer einflussreichen Arena politischer Verhandlungen und Entscheidungen hatte die Entwicklung eines umfassenden Systems europäischer Interessenvertretung zur Folge. Die quantitative Lobbyforschung betont auch auf europäischer Ebene das Wechselverhältnis zwischen Interessengruppen und Politik, bei dem Informationen und Expertise, Unterstützung von Bürgerinnen und Bürgern und wirtschaftliche Stärke gegen Zugang zum Gesetzgebungsprozess getauscht werden. Im Zentrum stehen dabei nicht einzelne Interessengruppen, sondern konkurrierende Koalitionen (Klüver 2013). Als spezifisch europäisch kann die formelle und informelle Beteiligung von konkurrierenden Interessen in der korporatistischen Tradition bezeichnet werden. Herausgebildet hat sich ein eigener Typ des europäischen vernetzten Regierens, in dessen Rahmen die wichtigen gesellschaftlichen Interessengruppen auf europäischer Ebene zumindest teilweise integriert werden (Kohler-Koch/Eising 1999). Dabei besteht auch im europäischen Kontext kein Zweifel, dass erhebliche gesellschaftlichen und institutionelle Änderungen erforderlich sind, um schwächere Interessen stärker im europäischen politischen System zu verankern (Drutman / Mahoney 2017).
Das Programm zur Vollendung des europäischen Binnenmarktes in den 1980er Jahren markierte einen Wendepunkt. Zuvor spielte die EU nur für spezialisierte Lobbygruppen eine Rolle. Mittlerweile sind in Brüssel Interessenvertreter nahezu aller Politikbereiche aktiv. Mit dem europäischen Transparenzregister wurde 2011 ein Instrument zur besseren Kontrolle der Lobbyarbeit etabliert, welches die Art, Zusammensetzung und Größenordnung der Interessengruppen in der EU transparenter macht als auf der nationalen Ebene in vielen Mitgliedsstaaten. Allerdings ist das europäische Register im Gegensatz zum U.S.-amerikanischen Lobbyregister freiwillig und nicht strafbewehrt. Die hohe Komplexität der europäischen Gesetzgebung mit ihren informellen und formellen Zugängen und die hohen Anforderungen an die Akteure verlangen Aufmerksamkeit und Wachsamkeit, um Fehlentwicklungen und Machtasymmetrien entgegenzuwirken. Der wachsende Anteil an NGOs im europäischen System der Interessenvertretung alleine etwa wird kaum ausreichen, um die Asymmetrien der Lobbyakteure in Bezug auf Finanzstärke, Macht und Einfluss auszugleichen.