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Einmal Globalisierung und zurück | Globaler Handel | bpb.de

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Einmal Globalisierung und zurück

Henrik Müller

/ 8 Minuten zu lesen

Wie die Weltpolitik die Weltwirtschaft beeinflusst – und warum die Ordnung der Nachkriegsjahrzehnte längst Geschichte ist, erklärt der Dortmunder Ökonom und Wirtschaftsjournalist Henrik Müller.

US-Präsident Joe Biden empfängt Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping am Rande des Gipfeltreffens der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft in San Francisco, November 2023. (© picture-alliance/AP, Doug Mills)

Ökonomen stellen sich die Globalisierung gern als Situation vor, in der staatliche Einflussnahme abwesend ist. Wenn sich die Regierungen in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen zurückhalten, vollzieht sich das Wunder der intensiven grenzüberschreitenden Arbeitsteilung quasi automatisch. Jedes Land spezialisiert sich dann auf seine jeweiligen Stärken. In der Folge steigt die Produktivität, während intensiver Wettbewerb für niedrige Preise, ein breites Angebot und beschleunigte Innovationsprozesse sorgt.

Die Realität ist komplexer. Damit die internationale Arbeitsteilung sich entfalten kann, braucht es einen stabilen politischen Rahmen: eine internationale Ordnung, die Regeln setzt und im Streitfall dafür sorgt, dass sich diese Regeln auch durchsetzen lassen. Ohne einen solchen Rahmen bricht die Globalisierung zusammen. In der Geschichte war das immer wieder zu beobachten – und so ist es bis in die Gegenwart.

Vorgeschichte: die „erste Globalisierung“ und die Weltkriege des 20. Jahrhunderts

Die erste Phase der industriellen Öffnung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert fußte auf der Machtbalance zwischen den europäischen Großmächten, ergänzt um ein Netz von technokratischen Verträgen. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 brach dieses Gleichgewicht zusammen; der Handel implodierte. In den 1920er Jahren blieben die Versuche, die alte Ordnung wiederherzustellen, unvollständig. Das lag nicht zuletzt daran, dass die USA, deren Gewicht in Folge des Ersten Weltkriegs massiv zugenommen hatte, nicht bereit waren, entsprechende Verantwortung zu übernehmen. So war es ausgerechnet Amerika, die größte Wirtschaftsnation, die mit einer Kanonade von Importbeschränkungen, den sogenannten Smoot-Hawley-Zöllen, ab 1930 einen Handelskrieg auslöste, in dessen Folge der internationale Austausch nach und nach zusammenbrach.

Der Zweite Weltkrieg brachte eine Reihe von bedeutenden politischen Innovationen hervor, die eine neue Weltordnung begründeten. Die USA übernahmen nun die Führung, denn dem Washingtoner Establishment war klargeworden, dass es angesichts Amerikas Größe und Bedeutung keine Option war, sich herauszuhalten. Die USA schufen und stützten eine Reihe von internationalen Institutionen, die den wirtschaftlichen Austausch innerhalb des westlichen Teils der Welt befördern sollten, darunter den Interner Link: Internationalen Währungsfonds (IWF) und das Interner Link: Allgemeine Abkommen über Zölle und Handel (GATT): Der IWF managte ein System von festen Wechselkursen, damit der grenzüberschreitende Austausch auf einer stabilen monetären Grundlage ablaufen konnte. Das GATT wiederum sollte Fairness im Handel zwischen den Mitgliedstaaten sicherstellen und ein allmähliches Absenken der Zölle und anderer Interner Link: Handelshemmnisse ermöglichen.

Denn tatsächlich waren die Staaten in den ersten Nachkriegsjahrzehnten noch weitgehend gegeneinander abgeschottet. Der internationale Austausch kam nur ganz allmählich in Gang. Es bedurfte aufwändiger Verhandlungsrunden innerhalb des GATT, um nach und nach die Zölle auf Industrieprodukte herunterzubringen.

Die zweite Globalisierung nimmt Fahrt auf

In den 1980er Jahren findet schließlich ein Paradigmenwechsel statt. Japans rapide exportgetriebene Entwicklung weist anderen ostasiatischen Ländern („Tigerstaaten“) den Weg. In den USA, in Großbritannien und Kontinentaleuropa kommen Regierungen ins Amt, die mehr Internationalität wagen wollen. Die Liberalisierung des Handels wird nun zur wirtschaftspolitischen Priorität, nicht zuletzt in der Europäischen Gemeinschaft (EG), die sich in einen Binnenmarkt ohne Grenzen verwandeln soll. Ab Mitte der 1980er Jahre sind die Auswirkungen dieser allmählichen Öffnung in den Zahlen sichtbar: Der Welthandel wächst schneller als die Weltwirtschaft – die internationale Arbeitsteilung intensiviert sich.

QuellentextGlobalisierung und Finanzmärkte

Das Ende von Bretton Woods markiert so etwas wie den Urknall der finanziellen Globalisierung unseres Zeitalters. Angesichts freier Wechselkurse und des Wegfalls diverser politischer Beschränkungen für Finanzunternehmen und Geldgeschäfte expandierten die Finanzmärkte kräftig. Auch die Politik setzte in vielen westlichen Ländern große Hoffnung auf die Finanzwirtschaft, nachdem der Nachkriegsboom ausgelaufen war und die Erdölkrisen 1973 und 1979/80 vielen zu schaffen machten. Geldgeschäfte galten jetzt als die Zukunftsindustrie schlechthin. Großbritannien ist sicherlich das eklatanteste Beispiel für ein Land, das diesen Weg eingeschlagen hat. Während immer mehr Fabriken und Bergwerke im Mutterland der Industrialisierung schlossen, blühte die City of London mit ihren Finanzgeschäften auf. Eine zentrale Rolle spielte auch die Wall Street. Treiber waren hier altbekannte Akteure wie die großen Investmentbanken und Börsen, aber auch neue wie Hedgefonds. Nun sprach man überhaupt erst von einer Finanzindustrie.

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Ihre Macht wuchs mit den steigenden Mengen an Geld, die an den Finanzmärkten bewegt wurden. Was jährlich an Aktien, Anleihen und Krediten gehandelt wird, übersteigt das Weltsozialprodukt um ein Mehrfaches. Für dieses gewaltige Vermögen gibt es einige Gründe: Zum einen haben die Menschen in den westlichen Industrieländern seit Jahrzehnten in Frieden gelebt, wodurch ihre privaten Vermögen angestiegen sind. Allein das Geldvermögen der privaten Haushalte in Deutschland ist von 1,9 Billionen Euro 1991 auf knapp 7,5 Billionen Euro 2022 gewachsen. Außerdem können auch immer mehr Menschen sparen, vor allem in Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien.

[...]

Entfesselte Finanzmärkte haben aber auch ihren Preis. Unter dem Regelwerk von Bretton Woods mit seiner strengeren Regulierung von Währungen, Banken und Kapitaltransfers blieben die Finanzmärkte stabil. Zwischen 1945 und 1971 gab es weltweit keine einzige nennenswerte Bankenkrise. Dann entschieden sich die Regierungen für freie Wechselkurse und eine umfassende Deregulierung der Finanzmärkte. Allein zwischen 1970 und 2007 wurden 124 Bankenkrisen, 326 Währungskrisen und 64 Staatsverschuldungskrisen auf nationaler Ebene gezählt.

Quelle: Caspar Dohmen, Finanzkrisen und Spekulationsblasen, in: Dossier Finanzwirtschaft, 2024, Interner Link: www.bpb.de/524104.

Diese Entwicklung beschleunigt sich ab 1990. Als sich der Eiserne Vorhang hebt, vergeht die zuvor existierende bipolare internationale Ordnung – mit den USA und der UdSSR als zwei Hegemonialmächten, die ihre jeweilige Sphäre dominieren. Die westlichen Weltwirtschaftsinstitutionen stehen nun im Prinzip allen offen. Das liberale Paradigma drängt weltweit zur Öffnung.

Bereits in den 1980er Jahren hat in diesem Geist eine Öffnung der westlichen Finanzmärkte begonnen. Nun beschleunigt sich diese Entwicklung, die zunehmend auch Schwellen- und Entwicklungsländer erfasst. Die Finanzmärkte wachsen rasch. Darin stecken Chancen, weil ärmere Länder nun zu günstigeren Bedingungen Investitionen finanzieren können. Die Verfügbarkeit von günstigem Kapital und lockere Regulierungen führen dazu, dass auch in wohlhabenden Ländern ein langfristiger Trend zur immer weiter steigenden Gesamtverschuldung einsetzt. Bald werden die Risiken deutlich: Die Globalisierung geht einher mit einer Kette von Finanzkrisen. Immer wieder erleiden Länder mit hoher Auslandsverschuldung einen Vertrauensverlust. In den 1990er Jahren beschränken sich diese Krisen auf Schwellenländer: 1994/95 trifft es Mexiko, 1997 einige asiatische Länder, darunter Südkorea, Thailand und Indonesien, 1998 Russland, 1999 Brasilien. So gravierend die Folgen für die betroffenen Länder sind: Die globale Integration der Realwirtschaft geht in dieser Phase in ungebremstem Tempo weiter.

1993 wird der europäische Binnenmarkt eröffnet, an den sich bald auch die mittelosteuropäischen Beitrittskandidaten annähern, die ab 2004 beitreten. China setzt auf Integration und Export und lässt westliches Kapital und Knowhow ins Land. Auch Indien und Lateinamerika bemühen sich um intensiveren Austausch mit dem Rest der Welt. Entsprechend nimmt ab den 1990er Jahren die Handelsintensität rapide zu. Die Entwicklung setzt sich fast ungebremst bis zur Finanzkrise von 2008 fort.

Vom Ende des Ost-West-Gegensatzes bis zur Finanzkrise – in diesen knapp zwei Jahrzehnten existiert eine US-geführte Ordnung, die den politischen Rahmen für die Globalisierung bildet. Ein weiteres GATT-Abkommen („Uruguay-Runde“) wird in dieser Phase verabschiedet. Nun gelten internationale Regeln nicht mehr nur für Industrieprodukte, sondern auch für Textil- und Agrargüter sowie für Dienstleistungen. Vor allem aber stärkt das Abkommen die internationalen Regeln: Das GATT wird zur Interner Link: Welthandelsorganisation (WTO), die eine gewichtige eigenständige Rolle bekommen soll. Klar ist aber auch: Die WTO kann nur so stark sein, wie ihre Mitgliedstaaten – voran die USA, aber auch die EU, Japan und andere – sie machen.

Nach dem Sieg im Kalten Krieg sind die großen westlichen Volkswirtschaften im Globalisierungsmodus. Angetrieben von der Hoffnung jener Jahre, wonach eine offene liberale Weltordnung im Entstehen begriffen ist, ebnen die US-Regierungen unter Bill Clinton und George W. Bush China den Weg in die WTO. Nicht zuletzt dank Amerikas Fürsprache tritt Peking 2001 bei; Chinas ökonomischer Aufstieg erhält zusätzlichen Schub.

Mit der Finanzkrise von 2008, die in den USA ihren Ausgangspunkt nimmt und eine weltweit spürbare Rezession auslöst, verändert die Globalisierung ihren Charakter – vom Prozess zum Zustand. Die Intensität der internationalen Arbeitsteilung nimmt nicht mehr weiter zu, verharrt aber auf hohem Niveau.

Erosion der Welthandelsordnung

Diese neue Phase geht einher mit einer Verschiebung der geopolitischen Kräfteverhältnisse: In den 2010er Jahren erleiden die USA und die EU lange wirtschaftliche Schwächephasen, die die politische Spaltung befördern. In den USA wird 2016 Donald Trump zum Präsidenten gewählt, der eine dezidiert Interner Link: protektionistische Agenda verfolgt. 2018 beginnt er Handelskonflikte mit China, aber auch mit amerikanischen und europäischen Partnerländern – mit dem Ziel, das US-Handelsdefizit zu senken. In Europa lähmt zunächst die Staatsschuldenkrise der Euro-Südstaaten, später dann Großbritanniens Entscheidung, die EU zu verlassen, die weitere Entwicklung. Der Austritt der zweitgrößten EU-Volkswirtschaft aus dem Binnenmarkt, letztlich zum Jahreswechsel 2020/21 vollzogen, lässt sich als protektionistisches Großprojekt verstehen – darin übrigens den Positionen des Nationalpopulismus auf dem Kontinent ähnlich.

Währenddessen Interner Link: steigt China zur zweiten Weltmacht auf, ökonomisch, aber auch politisch und militärisch. Nach jahrzehntelanger Zurückhaltung wandelt sich Pekings Führung zum selbstbewusst und zunehmend aggressiv auftretenden Akteur. Selbst der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), lange für seinen chinafreundlichen Kurs bekannt, betont nun, China sei ein „strategischer Wettbewerber“.

Die Folgen der Erosion der US-dominierten internationalen Ordnung zeigen sich auch in der WTO selbst. Multilaterale Verhandlungen unter dem Dach der Genfer Organisation werden nicht mehr mit Verve vorangetrieben. Stattdessen intensivieren die großen Wirtschaftsmächte ihre jeweils eigenen handelspolitischen Strategien. Die USA und die EU haben bereits früh begonnen, mit einzelnen Staaten und Wirtschaftsräumen Interner Link: bilaterale Abkommen an der WTO vorbei zu schließen. China treibt ab 2013 sein Projekt einer „neuen Seidenstraße“ („Belt and Road Initiative“) voran, bei dem es darum geht, schwächer entwickelte Länder an ein neues Interner Link: sinozentrisches Handelsnetz anzuschließen.

In diesem geostrategischen Ringen der Großmächte kommt auch das Interner Link: Kerngeschäft der WTO unter die Räder. Der Schiedsgerichtsmechanismus zur Lösung von Handelskonflikten ist inzwischen funktionsunfähig: Die US-Regierungen unter Trump und dessen Nachfolger Joe Biden weigern sich, Richter für die Berufungsinstanz zu benennen. Seit Ende 2019 ist die WTO deshalb nicht mehr in der Lage, Handelskonflikte auf Basis von internationalem Recht zu lösen. Das hat gravierende Auswirkungen. Faktisch gilt nun das Recht des Stärkeren. Große Handelsmächte erlassen Importbeschränkungen – oder reagieren auf eigene Faust mit Gegenmaßnahmen. Das Nachsehen haben kleinere und ärmere Länder.

Schockierende Aussichten

Ab 2020 ereilen eine Reihe von außergewöhnlichen Schocks die Weltwirtschaft. Die Corona-Pandemie führt zu Betriebsschließungen, die die Fragilität der globalen Handelsverflechtungen offenlegen. Lieferengpässe, verursacht zumal in China, wo die kommunistische Führung fast drei Jahre lang eine Strategie der drakonischen Lockdowns betreibt, führen zu unkalkulierbaren Knappheiten in weitverzweigten Produktionsnetzwerken. Unternehmen bemühen sich seither unter dem Schlagwort des „Nearshoring“ (im Gegensatz zu „Offshoring“) darum, ihre Interner Link: Wertschöpfungsketten widerstandsfähiger zu machen, indem sie ihre Abhängigkeit von wenigen, geografisch weit entfernten Lieferanten verringern.

Der Interner Link: russische Angriffskrieg gegen die Ukraine markiert ab 2022 den Beginn einer neuen Ära, in der die Reste des Paradigmas des grenzenlosen Handels abgewickelt werden. Während sich Russland mit China in „grenzenloser Freundschaft“ zu einem neuen Block der Autokratien verbündet, setzt der Westen auf eine allmähliche Entkopplung von China – und insbesondere von Russland. Neben diesen geostrategischen Blöcken gibt es viele Länder, zumal im globalen Süden, die einen Weg zwischen beiden Seiten zu beschreiten versuchen. Dazu gehören wichtige Volkswirtschaften wie Indien, Brasilien und die Golfstaaten.

Die zerklüftete geostrategische Lage wirkt sich längst messbar auf die internationalen Handelsströme aus, wie die UNCTAD, die UN-Unterorganisation für Handel und Entwicklung, vorrechnet. Während sich der Austausch zwischen jenen Ländern intensiviert, die sich geopolitisch nahestehen, geht der blockübergreifende Handel zurück.

Konsequenzen für Europa

Für die EU und insbesondere für ihren größten Mitgliedstaat Deutschland hat die unübersichtliche neue handelspolitische Weltlage erhebliche Konsequenzen. Die Interner Link: deutsche Wirtschaft ist besonders offen – das Außenhandelsvolumen relativ zur Wirtschaftsleistung hat sich gegenüber 1995 verdoppelt. Entsprechend stark hat die Bundesrepublik von der Globalisierung profitiert. Heute wickelt die Bundesrepublik zwar mehr als die Hälfte ihres Außenhandels mit anderen EU-Ländern ab. Doch das größte Partnerland außerhalb des europäischen Heimatmarkts ist China. Auch andere Länder, die sich im neuen Blockkonflikt nicht eindeutig positionieren, darunter die Türkei, Indien und Brasilien, stehen auf der Liste der umsatzstärksten Partnervolkswirtschaften weit oben.

Viel wird deshalb davon abhängen, wie sich die EU weiterentwickelt: ob sie sich stärker integriert, sodass sie als weltpolitischer Machtfaktor wahrgenommen wird – oder ob die inneren Fliehkräfte die Oberhand gewinnen und Europas Einzelteile letztlich zum Spielball der Megamächte werden.

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Henrik Müller leitet Studiengänge für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund.