Als der damalige deutsche Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) im Februar 2019 seinen Entwurf für die „Industriestrategie 2030“ verkündete, wurde er scharf kritisiert. Gleichwohl ist diese Strategie im Grundsatz bis heute leitend für die industriepolitischen Ambitionen Deutschlands.
Altmaier hatte vorgeschlagen, den Industrieanteil an der Bruttowertschöpfung nicht unter 20 Prozent sinken zu lassen. Deutschland hat im internationalen Vergleich Interner Link: mit gut 20 Prozent einen relativ hohen Industrieanteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Diese Stärke der deutschen Industrie gilt vielen als Grund für die relativ gute Wirtschaftsentwicklung. Und so zeigt sich in den aktuellen Debatten als Konsequenz die Sorge um eine Deindustrialisierung. Dabei ist ein bestimmter industrieller Anteil an der Wertschöpfung nicht per se erstrebenswert. Der Strukturwandel kann zu geringeren Anteilen der Industrie führen, wenn der Dienstleistungssektor an Bedeutung gewinnt. Das muss nicht unbedingt mit Wohlstandseinbußen einhergehen. Den Industrieanteil an der Wertschöpfung als Zielgröße der Politik festzulegen, entspringt jedenfalls einer dem marktwirtschaftlichen Denken fremden, planerischen Vorstellung.
Vor allem aber sollte die besagte industriepolitische Strategie Schlüsselbereiche der Industrie und strategisch bedeutsame Technologien identifizieren. Um diese fördern zu können, sollte das Beihilferecht der EU gelockert werden. In der Tat hat die EU inzwischen das Beihilferecht erheblich erweitert und mit den sogenannten Important Projects of Common European Interest (IPCEI) den Weg für Subventionen frei gemacht. Fördern ist dabei ein freundliches Synonym für das Subventionieren, um Vorteile im internationalen Wettbewerb zu erlangen. Dies führt praktisch zu Verzerrungen in der Verwendung knapper Ressourcen.
So konnte sich 2019 niemand vorstellen, dass die Pharmaindustrie nur ein Jahr später zur wichtigsten Branche der Weltwirtschaft werden sollte. Ohne die Erfindung von Impfstoffen gegen das Corona-Virus wäre die Bewältigung der Pandemie nicht so bald möglich gewesen, und die wirtschaftliche Erholung hätte viel länger auf sich warten lassen. Der Staat hatte zwar die mRNA-Technologie in einer frühen Phase durch Forschungsgelder der DFG und anderer Einrichtungen gefördert. Doch ohne das privatwirtschaftliche Engagement der Gebrüder Strüngmann hätte die Firma Biontech nicht bis zum Beginn der Corona-Pandemie 2020 überlebt. Erst in der Stufe der Produktionserweiterung setzte der Staat wieder Subventionen ein.
Batteriezellen und Microchips gelten als Schlüsseltechnologien
In der heutigen Diskussion gelten die Batteriezellen- und die Mikrochip-Produktion als Schlüsseltechnologien. Deutschland und die EU subventionieren Unternehmen aus diesen Bereichen mit enormen Summen. Für die Niederlassung von Intel in Magdeburg sollen mehr als zehn Milliarden Euro an Fördermitteln gezahlt werden. Dies entspricht etwa einer Million Euro je Beschäftigtem, den diese Investition nach sich zieht. Dabei ist unklar, wie bedeutsam Batteriezellen- und Mikrochip-Produktion für die europäische Wirtschaft sind. Erstere wird als wesentlich für die Umstellung der Automobilproduktion auf die Elektromobilität angesehen, letztere für eine Vielzahl von Anwendungen, insbesondere für den Klimaschutz.
Die Wette auf die Elektromobilität ist insoweit verfehlt, als neue Technologien wettbewerbsfähig werden können, die das Erreichen der Klimaneutralität leichter erreichbar machen. Dies gilt umso mehr, weil der Verbrennungsmotor außerhalb von Europa und den Ballungszentren Chinas und der USA weiterhin in erheblichem Umfang für die Mobilität genutzt werden wird. Derzeit werden Mikrochips vor allem in Taiwan produziert.
Aber angesichts der Spannungen mit China erlebt die Mikrochip-Produktion in mehreren Ländern eine Renaissance. Die einseitige, geostrategisch problematische Abhängigkeit von Taiwan wird dadurch beendet. Es ist nicht nötig, die Erweiterung der Mikrochip-Produktion in Deutschland mit solch hohen Summen zu fördern, wenn dies aufgrund der Produktion in mehreren anderen Ländern, etwa den USA, erreichbar ist. Es ist auch kein hinreichender Grund für solche Subventionen, Interner Link: wenn man feststellt, dass andere Staaten dies ebenfalls tun.
Eine immer wieder angedachte Anpassung des Wettbewerbsrechts in der EU und Deutschland, um die Entstehung nationaler Champions zu ermöglichen, hat es bislang zum Glück nicht gegeben. Aus Sicht der Verbraucher spricht letztlich wenig für eine solche Politik. Besonders bemerkenswert am Altmaier’schen Entwurf der Industriepolitik war die Nennung sogenannter deutscher Traditionsunternehmen, die mit staatlicher Hilfe dauerhaft erhalten bleiben sollten. Diese Idee ist ganz offenbar fragwürdig: Was ist ein deutsches Traditionsunternehmen? Die genannten Unternehmen sind Publikumsgesellschaften, deren Anteile auf den Aktienmärkten weltweit gehandelt werden. Mittelständische Unternehmen tauchen nicht auf. Was soll ein Bestandsschutz für bestimmte Unternehmen? Er erhöht nur den Anreiz, höhere Risiken bei Investitionen einzugehen, weil diese dann auf den Staat überwälzt werden können. Dennoch zeigt sich in der klimapolitischen Diskussion um Differenzverträge oder den Industriestrompreis, der der energieintensiven Wirtschaft durch Subventionen die Transformation zur Klimaneutralität erleichtern soll, gerade diese Tendenz, an möglicherweise überholte Teile der deutschen Industrie hohe Dauersubventionen zu leisten.
Subventionen locken Glücksritter an
Diese Skizze des heute dominierenden industriepolitischen Denkens zeigt dessen Elend auf: In planerischer Wissensanmaßung engagiert sich der Staat mit wettbewerbsverzerrenden und teuren Subventionen. Das lockt viele Glücksritter an. Es scheint für einige Unternehmen verlockender, um den Erhalt solcher Subventionen zu buhlen, als sich durch Innovation die Technologieführerschaft zu erkämpfen.
Vielmehr ist eine erfolgreiche zivile Industriepolitik durch Technologieoffenheit gekennzeichnet. Sie erfordert staatliche Förderung im Bereich von Forschung und Entwicklung – und zwar in absteigender Intensität von der Grundlagenforschung über die angewandte Forschung bis zur spezifischen Forschung in Unternehmen, also mit dem Grad der allgemeinen Verwendbarkeit von Forschungsergebnissen.
Der Staat hat durchaus eine Rolle über die reine Forschungsförderung hinaus: Er kann die Rahmenbedingungen so setzen, dass privates Kapital in stärkerem Maße für Innovationen zur Verfügung steht. Entscheidend ist die Technologieoffenheit. Mit dieser Forderung geht es nicht darum, heutige Technologien zu erhalten, sondern offen zu bleiben für Neues, ohne sich im Voraus festzulegen. Insofern muss der Staat nicht selbst die Technologien der Zukunft identifizieren. Das machen die privaten Akteure schon von allein.