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Weniger Globalisierung wagen? Die deutsche Außenwirtschaft im Zeitalter der Geoökonomie

Andreas Baur

/ 9 Minuten zu lesen

Fragile Lieferketten, technologische Abhängigkeiten vom Ausland: Ob in einer geopolitisch angespannten Welt weniger Welthandel der Preis für ökonomische Sicherheit ist, fragt der Ökonom Andreas Baur.

Multimodaler Gütertransport zu Wasser, Straße und Schiene am Rheinhafen in Köln-Niehl. (© picture-alliance, Rupert Oberhäuser)

Wie grundlegend sich die Globalisierung in den vergangenen Jahren verändert hat, wird deutlich, wenn man die aktuelle Handelsstrategie der Europäischen Kommission („Eine offene, nachhaltige und entschlossene Handelspolitik“, veröffentlicht im Jahr 2021) mit ihrem Vorgängerpapier „Handel für alle“ aus dem Jahr 2015 vergleicht. Zentrale Begriffe der aktuellen Handelsstrategie wie „zunehmende Alleingänge“, „Resilienz“ oder „geoökonomische Spannungen“ werden in der Vorgängerversion mit keinem Wort erwähnt. Doch seit 2015 hat eine Reihe von Krisen die Weltwirtschaft fundamental erschüttert – und diese Begriffe ins Zentrum der europäischen Handelspolitik rücken lassen. So waren der EU-Austritt Großbritanniens und die unter US-Präsident Donald Trump begonnenen Handelskonflikte mit China und der EU deutliche Anzeichen dafür, dass die öffentliche Unterstützung für offene Märkte und Freihandel auch in den entwickelten Volkswirtschaften des Westens rapide gesunken ist.

In der Folge haben „zunehmende Alleingänge“ einzelner Länder das multilaterale, regelbasierte Handelssystem immer stärker unter Druck gesetzt. Der Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 mit weltweiten Produktions- und Transportunterbrechungen warf in der Folge grundsätzliche Fragen nach der „Resilienz“, also der Widerstandsfähigkeit globaler Lieferketten auf. Zunehmend wurden Handelsverflechtungen als Ursache für Verwundbarkeit und Störanfälligkeit der eigenen Volkswirtschaft gesehen. Die Wohlstandsgewinne der internationalen Arbeitsteilung traten in den Hintergrund. Und schließlich führte der russische Angriffskrieg auf die Ukraine den europäischen Ländern schmerzhaft vor Augen, wie wirtschaftliche Abhängigkeiten als politisches Druckmittel eingesetzt werden können. „Geoökonomische Spannungen“ sind so zu einem zentralen Thema sowohl für Regierungen als auch für global agierende Unternehmen geworden, wobei aus europäischer Perspektive insbesondere die Wirtschaftsverflechtungen mit der Volksrepublik China immer kritischer beäugt werden.

In der Folge haben „zunehmende Alleingänge“ einzelner Länder das multilaterale, regelbasierte Handelssystem immer stärker unter Druck gesetzt. Der Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 mit weltweiten Produktions- und Transportunterbrechungen warf in der Folge grundsätzliche Fragen nach der „Resilienz“, also der Widerstandsfähigkeit globaler Lieferketten auf. Zunehmend wurden Handelsverflechtungen als Ursache für Verwundbarkeit und Störanfälligkeit der eigenen Volkswirtschaft gesehen. Die Wohlstandsgewinne der internationalen Arbeitsteilung traten in den Hintergrund. Und schließlich führte der russische Angriffskrieg auf die Ukraine den europäischen Ländern schmerzhaft vor Augen, wie wirtschaftliche Abhängigkeiten als politisches Druckmittel eingesetzt werden können. „Geoökonomische Spannungen“ sind so zu einem zentralen Thema sowohl für Regierungen als auch für global agierende Unternehmen geworden, wobei aus europäischer Perspektive insbesondere die Interner Link: Wirtschaftsverflechtungen mit der Volksrepublik China immer kritischer beäugt werden.

Die Folgen dieser Entwicklungen schlagen sich bereits weltweit in der Wirtschafts- und Handelspolitik nieder. Viele Regierungen versuchen, durch staatliche Industriepolitik und protektionistische Handelsbarrieren die heimische Produktion von kritischen oder strategischen Gütern zu schützen. Handelsbeziehungen mit geopolitischen Rivalen sollen im Sinne einer Risikominderung („De-Risking“) eingeschränkt werden, um wirtschaftliche Abhängigkeiten und das damit verbundene Erpressungspotenzial zu verringern. Internationale Organisationen wie der Internationalen Währungsfonds (IWF) oder die Welthandelsorganisation (WTO) warnen in diesem Zusammenhang bereits vor einer Interner Link: Blockbildung der Weltwirtschaft entlang geopolitischer Linien. Eine neue Phase der Globalisierung scheint angebrochen, in der Sicherheitsinteressen und geopolitisches Nullsummendenken die Wirtschaftspolitik dominieren.

Welche Bedeutung haben diese veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die EU und insbesondere für Deutschland, das sich viele Jahre lang stolz mit dem Titel „Exportweltmeister“ schmückte und nach wie vor nach China und den USA die drittgrößte Handelsnation der Welt ist? Und wie können geeignete Politikansätze in einer zunehmend von Protektionismus und geopolitischen Spannungen geprägten Weltwirtschaft aussehen?

Einbindung in globale Wertschöpfungsketten

Dass die deutsche Wirtschaft in hohem Maße in den Welthandel eingebunden ist, zeigt bereits ein Blick auf einige Kernstatistiken. Rund 30 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) hängen direkt oder indirekt von der Nachfrage im Ausland ab. Betrachtet man nur die industrielle Wertschöpfung, liegt dieser Wert sogar bei über 50 Prozent. Es ist also insbesondere die deutsche Industrie, die auf offene Weltmärkte angewiesen ist. Während man bei Weltmärkten schnell an große Volkswirtschaften wie China oder die USA denken mag, ist es aber nach wie vor der europäische Binnenmarkt, der für die deutsche Exportwirtschaft von überragender Bedeutung ist: Allein 20 Prozent der gesamten deutschen Industriewertschöpfung sind von der Nachfrage aus anderen EU-Mitgliedstaaten abhängig. Der entsprechende Anteil der US-amerikanischen Nachfrage liegt dagegen bei deutlich niedrigeren 7 Prozent, der Anteil der chinesischen Nachfrage bei rund 5 Prozent.

Aber es ist nicht nur der Export von Gütern und Dienstleistungen, der die deutsche Einbindung in die Weltwirtschaft prägt. So ist der Bezug von Vorleistungen aus dem Ausland ein zentraler Faktor für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit. Im Durchschnitt bestehen die Exporte der deutschen Industrie zu 28 Prozent aus importierten Vorleistungen aus dem Ausland, was deutlich über den entsprechenden Werten für große Volkswirtschaften wie den USA, China oder Japan liegt. Gleichzeitig sind rund die Hälfte der deutschen Exporte selbst Vorprodukte, die häufig in mehreren Produktionsschritten über verschiedene Standorte und Ländergrenzen hinweg zu Endprodukten weiterverarbeitet werden. Die sich dadurch ergebenden komplexen, länderübergreifenden Wertschöpfungsketten prägen insbesondere seit den 1990er Jahren das Gesicht des Welthandels und lassen die Grenzen zwischen Import- und Exportwirtschaft zunehmend verschwimmen.

Insgesamt zeichnet sich Deutschland damit als eine sehr offene Volkswirtschaft aus, deren Wohlstand eng mit internationalen Wertschöpfungsketten verknüpft ist. Diese hohe Bedeutung der Außenwirtschaft wird aber zunehmend kritisch hinterfragt. Im Fokus stehen dabei insbesondere strategische Abhängigkeiten. Damit sind in der Regel Produkte gemeint, die als Vorleistungen für die heimische Wirtschaft nur schwer zu ersetzen sind oder auf die aus anderen gesundheits-, ernährungs- oder sicherheitspolitischen Gründen nicht verzichtet werden kann. Beispiele dafür können wichtige Rohstoffe wie Seltene Erden, Vorleistungen wie Mikrochips oder Konsumgüter wie Medikamente sein. Werden solche Produkte aus nur einem oder sehr wenigen Herkunftsländern bezogen, können Lieferausfälle große Schäden verursachen. Zudem wächst angesichts zunehmender geoökonomischer Spannungen die Gefahr, dass entsprechende Abhängigkeiten von Handelspartnern ausgenutzt werden, um politische oder wirtschaftliche Zugeständnisse zu erpressen.

Die wirtschaftspolitische Antwort auf solche außenwirtschaftlichen Abhängigkeiten scheint in der politischen Diskussion häufig klar: Die Produktion strategisch wichtiger Güter soll mithilfe staatlicher Industriepolitik und Subventionen im Inland gesichert und so die Abhängigkeit vom Außenhandel reduziert werden. Aber ist in einer Welt wachsender geopolitischer Spannungen „weniger Handel“ zwangsläufig der Preis für ein höheres Maß an Wirtschaftssicherheit?

Gefahr des Subventionswettlaufs

Klar ist, dass die Subventionierung der heimischen Produktion ein sehr teures Vorhaben sein kann. So soll allein die Interner Link: geplante Ansiedlung einer neuen Chip-Fabrik des US-Konzerns Intel bei Magdeburg mit gut 10 Milliarden Euro an Steuergeldern verbunden sein. Teuer ist ein solcher Eingriff aber auch deshalb, weil bewusst auf die mit der internationalen Arbeitsteilung verbundenen Spezialisierungsvorteile verzichtet wird und möglicherweise auch Überkapazitäten auf den Weltmärkten entstehen können, wenn Staaten unkoordiniert die Herstellung gleicher Produkte fördern. Schließlich besteht die Gefahr eines schädlichen Subventionswettlaufs, bei dem Unternehmen Staaten gegeneinander ausspielen können, um möglichst hohe Fördersummen zu erhalten.

Wenn also die Subventionierung der inländischen Produktion von strategisch wichtigen Gütern eine Art Versicherung gegen Lieferausfälle im Ausland und geoökonomische Erpressung darstellen soll, so kann die damit verbundene Versicherungsprämie sehr hoch ausfallen. Diese Versicherungskosten müssen daher immer im Einzelfall gegenüber den Vorteilen verringerter Abhängigkeit abgewogen werden.

Darüber hinaus stellt sich die Frage, bei welchen strategisch wichtigen Gütern oder „Zukunftstechnologien“ die Produktion im Inland überhaupt gesichert werden soll. Häufig scheint „strategisch“ einfach mit „wirtschaftlich wichtig“ gleichgesetzt zu werden, aber ist das ein ausreichendes Kriterium? Grundsätzlich haben die Unternehmen selbst ein großes Interesse an widerstandsfähigen Lieferketten für wichtige Produkte, um kostspielige Lieferausfälle zu vermeiden. Staatliche Eingriffe in Lieferketten sind daher aus ökonomischer Sicht nur dort sinnvoll, wo privatwirtschaftliche Anreize nicht ausreichen, um das gesellschaftlich gewünschte Maß an wirtschaftlicher Sicherheit zu gewährleisten. Ein solches Marktversagen könnte zum Beispiel dann vorliegen, wenn aus gesellschaftlicher Sicht Versorgungsengpässe bei bestimmten Produkten (wie beispielsweise Medikamenten) deutlich schwerer wiegen als aus Sicht des einzelnen Unternehmens und sich somit die öffentliche Risikobewertung von der privatwirtschaftlichen deutlich unterscheidet.

Doch selbst wenn eine Form von Marktversagen vorliegt, bleibt fraglich, inwieweit die Förderung der heimischen Produktion überhaupt zu mehr wirtschaftlicher Sicherheit beitragen kann. In einer Welt komplexer Wertschöpfungsketten ist es selbst bei einzelnen Gütern äußerst schwierig, vom Außenhandel unabhängig zu werden. Mit anderen Worten: Es ist wenig gewonnen, wenn ein strategisch wichtiges Gut zwar im Inland produziert wird, entlang der vorgelagerten Wertschöpfungskette aber weiterhin große Abhängigkeiten von einzelnen Lieferländern für bestimmte Vorprodukte und Rohstoffe bestehen. Würde also beispielsweise die Produktion von Solarpanelen in Deutschland subventioniert, um in diesem Bereich unabhängiger von China zu werden, so würde dies die Abhängigkeit von chinesischen Produzenten nur bedingt verringern, da ein Großteil der für die Produktion notwendigen Vorprodukte und Rohstoffe derzeit ebenfalls aus dem Reich der Mitte stammt.

Wenn es aus Gründen der Wirtschaftssicherheit darum geht, strategische Abhängigkeiten zu reduzieren, ist eine Abkehr vom Außenhandel zugunsten der heimischen Produktion daher ein oft kostspieliger und häufig nicht zielführender Ansatz. Zudem gibt es in vielen Fällen Alternativen, um strategische Abhängigkeiten zu verringern, ohne aber dabei die wirtschaftliche Offenheit einschränken zu müssen: Neben erhöhter Lagerhaltung und verbessertem Recycling liegt der Schlüssel dafür häufig sogar im Außenhandel selbst. Denn um strategische Abhängigkeiten von einzelnen Lieferländern zu reduzieren, bieten sich für die dafür notwendige Diversifizierung in vielen Fällen nicht nur das Inland, sondern eben auch viele andere Handelspartner an. Je breiter die Bezugsquellen von strategisch wichtigen Gütern gestreut sind, desto geringer ist schließlich das Risiko eines kompletten Lieferausfalls oder die Gefahr geoökonomischer Erpressung.

Diversifizierung statt weniger Globalisierung

Die politische Antwort auf eine von zunehmenden geoökonomischen Spannungen geprägten Weltwirtschaft ist daher nicht zwangsläufig ein Weniger an Globalisierung. Im Gegenteil, die Reduzierung strategischer Abhängigkeiten kann in vielen Fällen am besten und kostengünstigsten durch eine bessere Diversifizierung im Rahmen des internationalen Handels erreicht werden. Auch im anbrechenden Zeitalter der Geoökonomie bleibt es daher eine zentrale Aufgabe der deutschen Wirtschaftspolitik, verlässliche und stabile außenwirtschaftliche Rahmenbedingungen für Unternehmen zu schaffen.

Essenziell ist dabei die europäische Ebene: Der gemeinsame Binnenmarkt ist nach wie vor das Rückgrat der deutschen Außenwirtschaft und zugleich wichtiger Stabilitätsanker in geopolitisch unruhigen Zeiten. Darüber hinaus kann die gemeinsame Handelspolitik durch ein möglichst dichtes Netz von Handelsabkommen die Diversifizierung von Lieferketten für europäische Unternehmen erheblich erleichtern und zudem die bilaterale Zusammenarbeit mit Partnerländern stärken. Und schließlich ist ein geschlossenes und koordiniertes europäisches Auftreten die beste Abschreckung gegen wirtschaftliche Erpressungsversuche anderer Länder.

Weitere Inhalte

Andreas Baur ist Doktorand am Zentrum für Außenwirtschaft des Münchner Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo.