Es ist ein ganz neues Phänomen: Kritiker:innen beschweren sich offiziell bei einer Bundesbehörde über Menschenrechtsverstöße durch Unternehmen, und die Behörde überprüft die Firmen im Hinblick auf mögliches Fehlverhalten. So wirft die Entwicklungsorganisation Oxfam den Handelsketten Edeka und Rewe vor, dass Beschäftigte auf Bananenplantagen in Ecuador giftigen Pestiziddämpfen ausgesetzt würden. Außerdem kritisiert die Bürgerrechtsorganisation Europäisches Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) eine angebliche Zwangsarbeit in chinesischen Zulieferfabriken der Autohersteller BMW, Mercedes-Benz und VW.
38 ähnliche Beschwerden sind im vergangenen Jahr beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) eingegangen. Alle berufen sich auf Interner Link: das deutsche Lieferkettengesetz, das Anfang 2023 in Kraft trat. 2024 hat die Interner Link: Europäische Union ein vergleichbares Gesetz beschlossen, das für tausende Firmen in der EU gelten soll.
Welche Absichten verfolgen die europäischen Gesetzgeber mit dieser Rechtsetzung? Und welche Rolle spielt sie in den neuen Auseinandersetzungen zwischen den ökonomischen Machtblöcken der Welt? Am deutschen Lieferkettengesetz lässt sich schon jetzt ablesen, wie die EU-Regulierung in einigen Jahren wirken könnte.
Die Lieferkettenregulierung entspringt dem Wunsch reicher, westlicher, demokratischer Staaten, politische, soziale und ökologische Menschenrechte in der weltweiten Produktion von Waren und Dienstleistungen durchzusetzen. Dies basiert auf der Analyse, dass die Rechte von Beschäftigten der Unternehmen nach dem Interner Link: Zweiten Weltkrieg zwar in Staaten wie Deutschland, Frankreich oder den USA einigermaßen gesichert waren, jedoch seit dem Beginn der neuen Globalisierung ab den 1980er Jahren nicht mehr in den weltweiten Herstellungsketten. Produkte wie Bekleidung, Nahrungsmittel oder Computer wurden zunehmend in Interner Link: Entwicklungs- und Schwellenländern des Südens gefertigt, die dortigen Produzenten und Zulieferfabriken unterlagen aber nicht der Rechtsordnung der Staaten, in denen die Auftraggeber und Verkäufer saßen. Die Arbeitsbedingungen beispielsweise in den Textilfabriken Chinas oder Bangladeschs waren viel schlechter als die entsprechenden Standards etwa in Deutschland – und die Endprodukte entsprechend günstiger.
Der Weg zu einer angemessenen Regulierung, die dieses Gefälle lösen sollte, dauerte jahrzehntelang, und schritt von Forderungen über Empfehlungen bis hin zu gesetzlichen Verpflichtungen voran. Als Bezugspunkt diente die Interner Link: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948, es folgten viele Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die Leitlinien für multinationale Unternehmen der Industrieländer-Organisation OECD und die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte. Schließlich erließen unter anderem Frankreich, Großbritannien, Kanada, die Niederlande, Norwegen und die USA spezielle Lieferkettengesetze.
Regulierungsschub durch Katastrophe von Rana Plaza 2013
Treibende Akteure in den reichen Staaten waren und sind Entwicklungs-, Bürgerrechts- und Umweltorganisationen, kirchliche Hilfswerke, Verbraucherverbände oder Gewerkschaften. Katastrophale Unfälle wie der Interner Link: Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza 2013 in Bangladesch, bei dem über 1.100 Arbeiter:innen starben, verschafften dem Vorhaben zusätzlichen Schub.
Kritik an der Regulierung von Lieferketten äußern unter anderem Unternehmen und ihre Verbände in den Produktionsländern. Vielfach halten sie die aus dem Norden kommende Regulierung für eine unzulässige oder sogar neokoloniale Einmischung. Doch dabei wird teilweise verkannt, dass es um die Umsetzung universeller Rechte für alle Menschen geht, nicht um egoistische Interessen von Industriestaaten. Im Übrigen treten Gewerkschaften der Produktionsländer im globalen Süden im Sinne ihrer Mitglieder selbst für höhere soziale Standards ein.
Auch Vertreter:innen der Wirtschaft in den Industriestaaten, etwa der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), kritisieren die Regulierung. Als Gegenargumente werden formuliert: Die europäischen Firmen seien mit dem weltweiten Schutz der Menschenrechte überfordert, es handele sich um eine zu hohe bürokratische Belastung, die rechtlichen Anforderungen seien ungenau, und die EU-Richtlinie könne zum Rückzug von Unternehmen aus bestimmten Ländern führen. Nicht zuletzt sei die Überwachung der Lieferketten für die Unternehmen unverhältnismäßig teuer.
Die Interner Link: EU-Richtlinie sieht ähnliche Pflichten und Verfahren vor wie das deutsche „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten“. Ab Anfang 2024 gilt es für in Deutschland tätige Firmen mit mindestens 1.000 Beschäftigten, auch ausländische. Die hiesigen Unternehmen müssen unter anderem dafür Sorge tragen, dass ihre weltweiten Zulieferer keine Kinder- und Zwangsarbeit praktizieren, die Arbeitssicherheit, Gesundheit und Koalitionsfreiheit der Beschäftigten gewährleisten, Mindestlöhne zahlen, die Umwelt der Fabriken schützen und keinen Landraub betreiben.
Um das zu erreichen, müssen die in Deutschland tätigen Firmen die menschenrechtlichen Risiken in ihren Lieferketten analysieren, Vorsorge betreiben und Probleme beseitigen, wenn sie auftauchen. Sie sind gehalten, Beschwerdeverfahren einzurichten, damit ausländische Beschäftigte ihre Interessen in Deutschland zu Gehör bringen können. Über all das müssen die Firmen außerdem öffentlich berichten. Zudem kontrolliert das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), ob die Betriebe die Vorschriften einhalten. Tun sie es nicht, sind als letzte Konsequenz Bußgelder und ein Ausschluss von öffentlichen Aufträgen in Deutschland vorgesehen.
EU-Gesetz geht teilweise über deutsche Regelung hinaus
Das Gesetz soll seine Wirkung auf mehreren Ebenen entfalten. Die Firmen müssen selbst handeln, werden behördlich und öffentlich kontrolliert. Bürgerrechtsorganisationen wie das ECCHR können – auch in Kooperation mit geschädigten Arbeiter:innen – Beschwerden einreichen. Und die vorgebrachten Fälle dürften Druck auf weitere Firmen ausüben, die Situation bei ihren eigenen Lieferanten zu überprüfen und zu verbessern.
Eine vergleichbare Wirkung ist von der EU-Richtlinie für Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit (Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDDD) zu erwarten. Am 24. Mai 2024 wurde sie beschlossen. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen sie nun innerhalb von zwei Jahren in nationales Recht übertragen.
Die EU-Regulierung etabliert eine zivilrechtliche Haftung der Firmen: Bei nachgewiesenen Verstößen könnten sie von geschädigten Beschäftigten im Ausland vor europäischen Gerichten nach hiesigem Recht auf Schadensersatz verklagt werden. Diese Regelung geht über das deutsche Lieferkettengesetz hinaus. Anfangs fallen Unternehmen unter die Regelung, die mehr als 5.000 Arbeitnehmer:innen beschäftigten und mehr als 1,5 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaften. Dann sinkt die Obergrenze Jahr für Jahr ab, bis Firmen ab 1.000 Beschäftigten und 450 Millionen Euro Nettoumsatz erfasst sind. Nach Angaben der EU-Kommission soll die Richtlinie schließlich für rund 6.000 europäische Unternehmen und etwa 900 Betriebe aus Drittstaaten gelten, die Geschäfte in entsprechender Größenordnung in Europa betreiben.
Ursprünglich war geplant, die Richtlinie schärfer auszugestalten. Ende 2023 hatten sich EU-Kommission, das Parlament und der Ministerrat der Mitgliedstaaten im sogenannten Interner Link: Trilog zunächst geeinigt, dass die Untergrenze bei Firmen ab 500 Arbeitnehmer:innen und 150 Millionen Euro Jahresumsatz, in Risikobranchen wie Landwirtschaft und Textil sogar bei 250 Arbeiter:innen liegen sollte. Damit hätte die CSDDD für mindestens die dreifache Zahl von Unternehmen gegolten.
Dass es zu diesem größeren Geltungsbereich schließlich nicht kam, war das Ergebnis einer Auseinandersetzung kurz vor dem finalen Beschluss Ende Mai 2024. Die deutsche Regierungspartei FDP zog ihre Zustimmung zur Richtlinie zurück, worauf sich die Bundesregierung beim abschließenden Votum enthalten musste. Weil deshalb im Ministerrat vorübergehend keine Mehrheit mehr für die CSDDD vorhanden war, konnten Kritiker aus der Wirtschaft und mancher Regierung nochmals den Hebel ansetzen. Endergebnis: die abgeschwächte Richtlinie.
Neben der Firmengröße sind einige weitere Entschärfungen enthalten. Beispielsweise wurden Banken, Versicherungen und Finanzinvestoren ausgenommen. Außerdem büßen Vorstandsmitglieder von großen Unternehmen keine Boni mehr ein, wenn sie ihre Klimaschutzpläne nicht umsetzen.
Auswirkungen noch nicht absehbar
Weil die deutsche Regulierung erst seit kurzem und die europäische noch nicht umgesetzt wird, lässt sich bisher nicht sagen, zu welchen konkreten Resultaten sie bei den Unternehmen führen und wie sich die Situation der Beschäftigten der Zulieferfabriken dadurch verändert.
Unklar erscheint momentan auch, welche Konsequenzen die Lieferketten-Regulierung im Rahmen der neuen geopolitischen Situation auslösen kann. Ursprünglich gedacht waren die Lieferkettengesetze zur kooperativen Verrechtlichung und Zivilisierung der Globalisierung. Nun aber sortiert diese sich neu. In Reaktion auf die Lieferunterbrechungen zwischen China und Europa während der Interner Link: Corona-Pandemie, den Interner Link: russischen Angriff auf die Ukraine Anfang 2022 und die gestiegenen Spannungen zwischen China und der Interner Link: NATO erscheint es manchen Politiker:innen und Firmenvorständen sinnvoll, die ökonomische Abhängigkeit von Interner Link: autokratischen Großmächten zu verringern.
Kann die Lieferketten-Regulierung in diesem Sinne als Hebel in der geopolitischen Neusortierung benutzt werden? Die ECCHR-Beschwerde zur Zwangsarbeit in der automobilen Lieferkette mag in diese Richtung deuten. Der Verdacht lautet, dass Zulieferteile für BMW-, Mercedes- und VW-Fahrzeuge auch unter Zwangsarbeit in der chinesischen Provinz Xinjiang hergestellt werden. Ließe sich dieser Zusammenhang durch Recherchen im Rahmen der deutschen und europäischen Lieferketten-Regulierung belegen, müssten die europäischen Autoproduzenten möglicherweise andere Lieferanten suchen, vielleicht außerhalb Chinas. VW veröffentlichte inzwischen eine Untersuchung, der zufolge es keine Hinweise auf Zwangsarbeit in seinem Werk in Xinjiang gebe. Mercedes und BMW äußerten sich nicht konkret, erklärten aber, die Hinweise ernst zu nehmen.
„Das deutsche Lieferkettengesetz und die EU-Richtlinie für Unternehmenssorgfalt bieten keine Handhabe für wirtschaftspolitische Sanktionen“, sagt dazu die Juristin Miriam Saage-Maaß, Direktorin beim ECCHR. Beispielsweise sei eine zu große Abhängigkeit von bestimmten Lieferländern nicht Gegenstand der Regulierungen. „Wenn die Lieferkettenregulierung jedoch dazu führt, dass menschenrechtliche Standards und damit die Produktionskosten steigen, kann sie zu einer regionalen Veränderung der Lieferbeziehungen beitragen“, so Saage-Maaß.
Hinweis der Redaktion: Dieser Beitrag vom 1.2.2024 wurde nach dem Beschluss der Lieferkettenrichtlinie durch das Europäische Parlament im Mai 2024 am 8.7.2024 aktualisiert.