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Die WTO in der Krise | Globaler Handel | bpb.de

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Die WTO in der Krise

Claudia Schmucker

/ 9 Minuten zu lesen

Die Welthandelsorganisation ist nicht tot, aber sie braucht dringend Impulse und Reformen. Dazu hat die neue geopolitische Situation beigetragen, schreibt die Handelsexpertin Claudia Schmucker.

Das Centre William Rappard ist der Sitz der WTO in Genf. (© picture-alliance, KEYSTONE | MARTIAL TREZZINI)

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche internationale Organisationen zur Regulierung des Interner Link: Weltmarktes ins Leben gerufen. Bei der Interner Link: Bretton Woods-Konferenz 1944 wurden die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) gegründet. 1947 wurde das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen GATT (englisch General Agreement on Tariffs and Trade) in Genf von 23 Staaten unterzeichnet. Es sollte ursprünglich die handelspolitischen Grundsätze für eine geplante Internationale Handelsorganisation (ITO, International Trade Organisation) festlegen. Die Satzung der ITO wurde jedoch nie vom US-Kongress ratifiziert, da dieser befürchtete, sie werde die nationale Souveränität des Landes zu stark einschränken. Daraufhin wurden die bereits ausgehandelten Zollzugeständnisse im GATT nur provisorisch festgeschrieben.

Von der Gründung des GATT bis zum Gründungsjahr der Welthandelsorganisation WTO (englisch World Trade Organisation) 1995 gab es acht Liberalisierungsrunden, in denen Interner Link: vor allem Zölle, aber auch nichttarifäre Handelshemmnisse wie technische Vorschriften oder Rechtsnormen abgebaut und neue Regeln für den Warenhandel aufgestellt wurden.

Die letzte und wichtigste GATT-Runde war die Uruguay-Runde (1986-1994), in deren Rahmen die WTO ins Leben gerufen wurde. Am 15. April 1994 unterzeichneten die damals 124 Mitgliedsstaaten in Marrakesch das Abkommen zur Gründung der WTO. Der weltweite Anteil der Warenexporte am BIP ist von 5,5 % im Jahr 1950 auf 17,2 % im Jahr 1998 angestiegen. Dieser Trend wird zu großen Teilen den Liberalisierungen der GATT-Runden zugeschrieben. Heute hat die WTO 164 Mitgliedsstaaten, die rund 98 Prozent des globalen Warenhandels ausmachen. Sie ist das institutionelle Dach für die Abkommen des Warenhandels (GATT), der Dienstleistungen (GATS, General Agreement on Trade in Services) und des Schutzes geistigen Eigentums (TRIPS, Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights).

Das Sekretariat der WTO hat seinen Sitz in Genf. Aber nur die Mitglieder der WTO können Maßnahmen ergreifen, die Auswirkungen auf ihre jeweiligen nationalen Verpflichtungen haben. Ziel der WTO ist es, den internationalen Handel zu fördern und weltweit den Lebensstandard zu erhöhen. Dabei soll die optimale Nutzung der globalen Ressourcen im Einklang mit dem Ziel der nachhaltigen Entwicklung ermöglicht werden. Durch die wirtschaftliche Verflechtung soll auch die Kooperation zwischen den Staaten vertieft werden.

Die Prinzipien und Pfeiler der WTO

Im Zentrum der Welthandelsorganisation stehen drei Grundprinzipien, die einen offenen und nichtdiskriminierenden Welthandel garantieren sollen. Alle WTO-Mitglieder haben sich auf das Prinzip der Meistbegünstigung geeinigt: Es sieht vor, dass alle Handelsvorteile wie zum Beispiel Zollvergünstigungen, die sie einem WTO-Mitgliedstaat zur Verfügung stellen, auch allen anderen Mitgliedstaaten garantieren müssen. Das zweite Prinzip der Inländerbehandlung sieht vor, dass ausländische Waren und deren Anbieter nicht schlechter behandelt werden dürfen als inländische. Zuletzt gilt das Prinzip der Transparenz, bei dem sich alle Mitglieder verpflichten, die nationalen Regelungen zum Außenhandel zu veröffentlichen.

Die WTO wird häufig mit der seit 2001 andauernden und – de facto gescheiterten – Doha-Entwicklungsrunde gleichgesetzt – und somit als wirkungslos eingestuft. Aber die WTO ist nicht tot, fast der gesamte Welthandel findet auf Basis ihrer Regeln statt. Im Fall der EU trifft dies beispielsweise auf die Handelsbeziehungen mit den großen Schwellenländern China, Indien und Brasilien zu, mit denen sie bislang keine Freihandelsabkommen geschlossen hat.

1. Pfeiler: Multilaterale Verhandlungen: Fortschritte (fast) nur auf plurilateraler Ebene möglich

Die Handelsrunden der WTO sind ein wichtiger Pfeiler der Organisation. Allerdings sind bereits über 20 Jahre seit Beginn der Doha-Runde vergangen und die Verhandlungen über einen verbesserten Marktzugang sowie über eine Modernisierung der multilateralen Regeln sind wohl de facto gescheitert. Aufgrund der Vielzahl der verhandelnden Akteure und Interessen, dem Einstimmigkeitsprinzip und der unterschiedlichen Auffassungen über die Entwicklungsziele ist unter den jetzigen Bedingungen kein Fortschritt möglich.

Außerhalb der festgefahrenen Doha-Runde konnten sich die WTO-Mitglieder im Juni 2022 auf der zwölften WTO-Ministerkonferenz (MC12, 12th Ministerial Conference) auf ein multilaterales Abkommen über Fischereisubventionen einigen, das Subventionen verbietet, die zu Überproduktion und Überfischung beitragen. Dies ist ein großer Fortschritt, da es auch das erste WTO-Abkommen ist, das die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDG, Sustainable Development Goals) im Zentrum hat.

Davon abgesehen sind Fortschritte mittlerweile nur noch auf plurilateraler Ebene durch „Koalitionen der Willigen“ möglich. Auf der elften Ministerkonferenz (MC11, 11th Ministerial Conference) im Dezember 2017 in Buenos Aires wurden vier so genannten Joint Statement Initiatives (JSI) ins Leben gerufen. Bei diesen „Initiativen mit einem gemeinsamen Standpunkt“ hat sich eine Gruppe von WTO-Mitgliedern dazu entschlossen, Abkommen über den elektronischen Handel, Investitionserleichterungen (IFA, Investment Facilitation Agreement), innerstaatliche Regulierungen im Dienstleistungshandel, und Micro, Small and Medium-sized Enterprises (MSMEs, sehr kleine, kleine und mittelgroße Unternehmen) zu verhandeln. Im Dezember 2021 verkündeten die Mitglieder den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über Regulierungen im Dienstleistungshandel und im Juli 2023 wurden die Verhandlungen über IFA abgeschlossen. Beide Abkommen stellen einen wichtigen Fortschritt für die Glaubwürdigkeit der WTO dar, auch wenn sie „nur“ auf plurilateraler Ebene erfolgen.

Die JSIs sind offen für alle WTO-Mitgliedsstaaten. Ihre Mitglieder bestehen sowohl aus Industrie- als auch aus Entwicklungs- und Schwellenländern. Die EU ist Teil aller vier Initiativen. Trotz einer großen Beteiligung von WTO-Mitgliedstaaten – inklusive zahlreicher Entwicklungs- und Schwellenländer (China, Brasilien) – sind Indien und Südafrika der Ansicht, dass diese Initiativen grundsätzlich nicht mit WTO-Recht kompatibel sind, da sie einen Konsens von allen Mitgliedstaaten gemäß den Artikeln IX and X des Marrakesch Abkommens benötigen. Diese Sichtweise wird jedoch von der Mehrheit der WTO-Mitglieder – inklusive der EU – abgelehnt. An den JSIs nehmen teilweise über 110 Mitgliedstaaten teil.

2. Pfeiler: Streitschlichtungsverfahren mit einer Blockade auch unter US-Präsident Biden

Die WTO verfügt mit dem Dispute Settlement Body (DSB) als einzige internationale Organisation (theoretisch) über einen effizienten Durchsetzungsmechanismus ihrer Regeln. Im GATT gab es große Schwierigkeiten mit der Lösung von Handelskonflikten, da sämtliche Entscheidungen einstimmig getroffen werden mussten und der angeklagte Staat praktisch ein Vetorecht besaß. In der WTO wurden diese Schwachstellen durch den DSB beseitigt. Es gibt nun ein bindendes zweistufiges Verfahren durch ein Panel sowie ein Berufungsgremium. Die wichtigste Neuerung ist jedoch die automatische Annahme der Panelberichte. Sie können nur einstimmig abgelehnt werden. Daher mussten in der Vergangenheit auch große Mitgliedstaaten wie die USA (Antidumping-Methodik) und China (Exportrestriktionen bei seltenen Erden) durch negative Urteile ihre Handelspolitik ändern.

Derzeit ist das Berufungsgremium der WTO jedoch blockiert, da sich die USA weigern, neue Mitglieder nachzubesetzen. Die Trump-Regierung behauptete im Dezember 2019, das Gremium habe seine Kompetenzen überschritten und neues Recht gesetzt. Die Blockade wurde auch unter US-Präsident Joe Biden nicht aufgehoben. In der Folge blieb der DSB wirkungslos, weil die Mitgliedstaaten nach einem unliebsamen Panelentscheid in Berufung gehen können, die dann jedoch „ins Nichts“ führt. Die EU hat 2020 für die Übergangszeit eine „Mehrparteien-Interimsvereinbarung zur Beilegung von Handelsstreitigkeiten“ (MPIA, Multi-Party Interim Appeal Arbitration Arrangement) ins Leben gerufen. Hierdurch sollen Handelsstreitigkeiten unter den Mitgliedern des MPIA beigelegt werden. Mit der Aufnahme Japans im März 2023 beinhaltet der MPIA 26 Staaten, inklusive Australien, China, und Brasilien. Die USA sind der Vereinbarung nicht beigetreten.

Auf der MC12 einigten sich die WTO-Mitgliedstaaten – inklusive der USA – schließlich darauf, bis 2024 einen vollständig funktionierenden Streitschlichtungsmechanismus einzurichten. Allerdings sind die Verhandlungen weiterhin informell. Daher ist es ungewiss, ob bis zur MC13 (13th Ministerial Conference) im Februar 2024 eine Einigung zustande kommt.

3. Pfeiler: Handelspolitische Überprüfung, Stärkung der Transparenz

Die WTO überprüft zudem regelmäßig die nationalen Handelspolitiken der Mitgliedstaaten. Dieser Trade Policy Review Mechanism dient einerseits dazu, die Handelspolitik der Mitgliedstaaten für alle transparent zu machen und somit den Handel zu erleichtern. Zum anderen soll hierdurch die Einhaltung der multilateralen Regeln überprüft werden. Die Häufigkeit der Überprüfungen richtet sich nach dem Anteil des WTO-Mitglieds am Welthandel. So werden die USA, die EU und Japan alle zwei Jahre überprüft, andere WTO-Mitglieder nur alle vier oder sechs Jahre. Diese Überprüfung hat nach wie vor Bestand und ist ein wichtiger Grundpfeiler für einen fairen Welthandel.

Trotz der bestehenden deutlichen Einschränkungen – also dem Stillstand in den Verhandlungen und dem blockierten Streitschlichtungsmechanismus – ist die Organisation aufgrund der fast weltweit gültigen WTO-Regeln nach wie vor unverzichtbar. So betonte die WTO-Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala im Juli 2020: „If we didn’t have the WTO, we would have to invent it.” („Wenn wir die WTO nicht hätten, müssten wir sie erfinden.“)

Das neue geoökonomische Umfeld verhindert eine Reform

Das handelspolitische Umfeld hat sich seit der Gründung der WTO stark geändert. Mit der steigenden geoökonomischen Rivalität zwischen westlichen Demokratien und autokratischen Regimen wie Russland und China hat sich die Einstellung zu Handelsfragen deutlich geändert. Mittlerweile werden Handelsabhängigkeiten – wie die Deutschlands von China – als Schwäche gesehen, die missbraucht werden kann, um strategische Ziele zu erreichen.

In der Folge kommt es zu einer Umstrukturierung von Lieferketten hin zu befreundeten Staaten (friendshoring). Dabei werden verstärkt Maßnahmen wie Exportkontrollen und Investitionsscreening (also eine Überwachung der Investitionstätigkeit ausländischer Mächte) eingesetzt, um die Verbreitung vor allem von Spitzentechnologien an autokratische Staaten zu verhindern.

Diese zunehmende Fragmentierung (lateinisch: Zersplitterung) in verschiedene Blöcke hat negative Folgen für die WTO: Es fehlt an Vertrauen zwischen den WTO-Mitgliedstaaten, auch darüber, in welche Richtung sich die WTO weiterentwickeln sollte. Die Fragmentierung führt somit zum Stillstand, und dies hat gravierende Folgen für die Glaubwürdigkeit der WTO. Neben dem blockierten Streitschlichtungsmechanismus ist es daher zusätzlich unmöglich, einerseits die multilateralen Handelsregeln zu modernisieren und andererseits bestehenden protektionistischen Tendenzen entgegenzuwirken.

Das Regelwerk der WTO ist immer noch auf dem Stand von 1995. Die einzigen Ausnahmen sind das Abkommen über Handelserleichterungen, das 2017 in Kraft trat, und das Abkommen über Fischereisubventionen, das 2022 verhandelt wurde. Insgesamt haben die WTO-Regeln somit nicht mit den Entwicklungen im Welthandel Schritt gehalten. Es fehlen moderne Handelsregeln in den Bereichen Investitionen, Schutz geistigen Eigentums oder der Wettbewerbspolitik. Gleichzeitig wird es immer wichtiger, auf die besondere Rolle von kleinen und mittleren Unternehmen einzugehen. Auch der elektronische Handel und der Handel mit Energie und Rohstoffen gewinnt an Bedeutung. Immer häufiger werden auch Nachhaltigkeitsthemen wie Arbeits- und Umweltstandards als wesentlich für internationale Handelsbeziehungen gesehen. All dies decken die multilateralen WTO-Regeln in absehbarer Zukunft nicht ab.

Keine Antworten auf handelsverzerrende Maßnahmen wie Subventionen

Die veralteten und teilweise schwachen Regeln führen auch dazu, dass die WTO protektionistischen Tendenzen kaum entgegenwirken kann. Eines der wesentlichen Probleme für einen fairen Welthandel ist der rasante (und teilweise) intransparente Anstieg der globalen Subventionen. Dies betrifft nicht nur China. Auch die Interner Link: USA mit ihrem Inflation Reduction Act und die EU mit ihrem Green Deal Industrial Plan unterstützen Unternehmen jeweils mit Milliardenhilfen.

Transparenz und die Eindämmung von (unfairen) Subventionen sind zwei der zentralen Bereiche, bei denen Fortschritte dringend notwendig sind. Ein Weg nach vorne wären interne Diskussionen über eine Reform des WTO-Abkommens bei Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen. Hier wäre eine Neudefinition von Subventionen in Bezug auf den Klimawandel sinnvoll. Allerdings erschwert das geoökonomische Umfeld einen Reformdiskurs über handelsverzerrende Maßnahmen.

Infolge der stockenden multilateralen Verhandlungen und der veralteten Welthandelsregeln ist die Zahl der Freihandelsabkommen geradezu explodiert. Dies trifft nicht nur auf die EU zu, die zurzeit ein Abkommen mit dem südamerikanischen Handelsbündnis Mercosur anstrebt sowie mit Staaten des ASEAN verhandelt. Auch in Asien entstehen zahlreiche Interner Link: neue megaregionale Abkommen, wie beispielsweise das Abkommen über eine Transpazifische Partnerschaft (CPTPP).

Zusätzlich führt das veraltete Regelwerk der WTO dazu, dass Staaten verstärkt nationale Handelsgesetze einsetzen, um unilateral gegen Handelsbarrieren vorzugehen und so die eigene wirtschaftliche Sicherheit zu erhöhen. Gleichzeitig bleibt der multilaterale Streitschlichtungsmechanismus der WTO weiter blockiert. Die WTO verliert somit weiter an Bedeutung. Die notwendigen Reformen hängen allein vom politischen Willen ihrer Mitglieder ab. Eine wichtige Maßnahme könnte der Vorschlag der EU sein, die WTO wieder stärker als Forum für Austausch und Diskussionen zu nutzen. Auf diese Weise kann auf längere Sicht wieder Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten hergestellt werden, um wichtige Modernisierungen zu ermöglichen. Dabei geht es um grundsätzliche Themen wie „Handel und nationale Sicherheit“ oder die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen (Subventionen und externe Spillover-Effekte). Da die Mitgliedstaaten nicht einer Meinung sind, sind ein Dialog und faktenbasierte Studien wichtig. Nur auf diese Weise können kritische Reformen beispielsweise bei „grünen Subventionen“ oder neue Regeln (etwa bei Handel und Umweltstandards) angestoßen werden.

Weitere Inhalte

Dr. Claudia Schmucker leitet das Zentrum für Geopolitik, Geoökonomie und Technologie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Sie studierte in Bonn, Berlin und an der Yale University und forscht und publiziert zu europäischer und amerikanischer Handelspolitik, internationalen Handelsbeziehungen sowie zur Rolle von informellen Foren wie G7 und G20.