Taicang ist noch immer die deutscheste Stadt Chinas. Es gibt Straßenzüge mit Fachwerkhäusern, wie sie in Rothenburg ob der Tauber stehen könnten. Ein Bäcker mit dem Namen „Brotecke“ verkauft Roggenbrot und Brezeln, beim angrenzenden Wirtshaus „Schindlers Tankstelle“ wird Eisbein mit Sauerkraut serviert. Und jedes Jahr veranstaltet das „German Center Taicang“ ein Oktoberfest mit Weißbier und Brathendl. 500 deutsche Firmen haben sich in der zwei Millionen Einwohner zählenden Stadt rund 50 Kilometer nordwestlich von Shanghai niedergelassen. Rund 1.000 Deutsche arbeiten in und um Taicang. Noch 2020 waren es allerdings drei Mal so viele.
Drei Jahre Pandemie, in denen China seine Grenzen dicht gemacht hatte und in denen Reiseverkehr nur mit mehrwöchiger Quarantäne möglich war, haben bei vielen deutschen Geschäftsleuten Spuren hinterlassen. Viele der einst 3.000 Deutschen, von denen viele in und um Taicang ihre Fabriken und Dependancen betrieben hatten, sind weg. Taicang ist nur ein – wenn auch markantes – Beispiel für eine lange Zeit gern erzählte Erfolgsstory der deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen.
Der Handel boomte. Deutschland und China verschifften in der Zeit vor der Pandemie jeweils Waren im Wert von über 100 Milliarden Euro im Jahr. Kein anderes westliches Industrieland hatte so intensive Geschäftsbeziehungen zur Volksrepublik aufgebaut wie die Bundesrepublik. Fast eine Billion Euro haben deutsche Firmen seit der wirtschaftlichen Öffnung des Riesenreichs zu Beginn der 1980er Jahre investiert. 10.000 Deutsche lebten zeitweise in Peking, 20.000 gar im Großraum Shanghai, wozu auch Taicang gehört. Allein Volkswagen betreibt über 30 Werke in China.
Doch es war nicht nur die Pandemie, die viele deutsche Geschäftsleute von China entfremdet hat. Seit dem Anfang 2023 offiziell verkündeten Ende der Corona-Maßnahmen hat das Riesenreich nämlich nicht wie erwartet eine Comeback-Story hingelegt. Im Gegenteil: Die Stimmung in dem wachstumsverwöhnten Land ist so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht.
Geplatzte Immobilienblase
Und das hat konkrete Gründe: Die Lokalregierungen sind wegen der horrenden Covid-Maßnahmen, die die Zentralregierung befohlen hatte, maßlos überschuldet; allein 2022 mussten sie für Tests und Quarantänezentren umgerechnet rund 230 Milliarden US-Dollar ausgeben. Nicht nur ausländische Investoren bleiben dem Land fern. Auch heimische Unternehmer halten sich zurück. Das spiegelt sich auch auf dem Arbeitsmarkt wider. Die Jugendarbeitslosigkeit lag im August 2023 bei über 20 Prozent – und wird seitdem statistisch nicht mehr erfasst.
Zudem ist eine gigantische Immobilienblase geplatzt. In den Jahren des Booms wurden etwa 80 bis 90 Millionen Wohneinheiten zu viel gebaut, schildert der ehemalige Präsident der EU-Handelskammer in China, Jörg Wuttke. Er lebt seit mehr als 30 Jahren in der Volksrepublik. Die Immobilien stünden jetzt leer. 65 Prozent der Vermögen der privaten Haushalte steckten jedoch in Wohnungen und Häusern, die enorm an Wert verloren haben. „Das haut rein in die Stimmung“, sagt Wuttke. Viele würden sich deshalb beim Konsum zurückhalten.
Bis Chinas Wirtschaft sich von diesem Schock erholt, werden wohl noch Jahre vergehen. Mit einer baldigen Erholung rechnen auch Ökonomen nicht. China drohe ein „verlorenes Wirtschaftsjahrzehnt“, befürchtet Desmond Lachman vom American Enterprise Institute, einem Thinktank in Washington. „Sollte dies tatsächlich der Fall sein, kann die Welt nicht mehr darauf zählen, dass China ihr Hauptmotor des Wirtschaftswachstums sein wird.“
Hinzu kommt, dass die Gesellschaft enorm schnell altert – ein Ergebnis der Einkindpolitik, die die kommunistische Führung 1980 abrupt eingeführt hatte. 35 Jahre lang durften Ehepaare nur ein Kind bekommen, auf ein zweites folgten harte Strafen. Entsprechend abrupt wird sich diese Politik in den anstehenden Jahren auswirken. 13 Prozent der Menschen sind heute bereits über 65 Jahre alt. 2050 werden es über 30 Prozent sein. Und weil heutige junge Ehepaare es gar nicht anders kennen, als nur als Einzelkind aufzuwachsen, also weder Cousinen und Cousins noch Onkel und Tanten haben, wollen sie trotz des Endes der Einkindpolitik im Jahr 2015 gar nicht mehr Kinder in die Welt setzen. Wurden 2014 noch 17 Millionen Kinder im Land geboren, sind es heute 9,5 Millionen. „Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass China noch große Sprünge macht“, sagt China-Kenner Wuttke.
China erzielt Handelsüberschuss gegenüber Deutschland
In den Jahrzehnten des Booms baute China gegenüber dem westlichen Ausland enorme Handelsüberschüsse auf. Vor allem der Handelsüberschuss mit den USA erreichte stetig neue Rekordwerte. Das US-Defizit im Handel mit China belief sich 2022 auf sage und schreibe 382,9 Milliarden US-Dollar – 29 Milliarden oder gut 8 Prozent mehr als im Jahr zuvor.
Die aktuellen wirtschaftlichen Probleme führen jedoch keineswegs dazu, dass Chinas Exportüberschüsse sinken. Im Gegenteil: Weil der heimische Konsum stockt, die vielen Fabriken aber weiter kräftig produzieren und damit gewaltige Überkapazitäten schaffen, werden viele Produkte umso günstiger ans Ausland verkauft. Aus den genannten Gründen kauft China aus dem Ausland hingegen weniger Güter.
Zuletzt haben denn auch Chinas Handelsüberschüsse gegenüber Deutschland neue Rekordwerte erreicht. 2022 wurden Waren im Wert von gut 191 Milliarden Euro aus der Volksrepublik nach Deutschland eingeführt und damit noch mal gut ein Drittel mehr als im Jahr zuvor. Die Deutschen nehmen den Chinesen vor allem Elektronik und Elektrotechnik ab, aber auch Textilien, Maschinen und chemische Produkte. Die Exporte von Waren „Made in Germany“ nach China legten hingegen nur um 3,1 Prozent auf rund 107 Milliarden Euro zu. In der Handelsbilanz mit der Volksrepublik weist Deutschland damit ein Defizit von rund 84 Milliarden Euro aus. Gegenüber der gesamten EU sind es rund 400 Milliarden Euro.
In Deutschland trifft das vor allem den Maschinenbau und die Autoindustrie. Und auch die deutschen Firmen, die in China vor Ort produzieren, erleiden Einbußen. Beim Autoverkauf war Volkswagen lange Zeit Spitzenreiter in China. Fast jedes zweite Auto verkaufte der Konzern aus Wolfsburg zuletzt in der Volksrepublik, bei BMW und Mercedes war es jedes Dritte. Auch da sinken die Zahlen. Das hat auch damit zu tun, dass die chinesische E-Auto-Konkurrenz die deutschen Autobauer abhängt. Hatte VW noch bis 2022 insgesamt die meisten Autos in China verkauft, hat BYD jetzt die Wolfsburger vom Thron gestoßen.
Repressiver nach innen, aggressiver nach außen
Es ist aber nicht nur Chinas Wirtschaftsflaute, die die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen belastet, sondern auch politische Konflikte. Deutschland hatte insbesondere in den Jahren unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vermieden, grundsätzliche Fragen wie etwa Chinas massive Menschenrechtsverletzungen allzu prominent in den Vordergrund zu rücken. Bei ihren fast jährlichen China-Reisen stand stets die Wirtschaft im Vordergrund.
Doch in den vergangenen Jahren unter Staats- und Parteichef Xi Jinping hat Chinas Führung ihr autoritäres Gebaren deutlich verschärft. Sie hat Hongkongs völkerrechtlich garantierten Autonomiestatus quasi aufgehoben, der eigentlich bis 2047 zugesichert war. Dieser sah sehr viel mehr demokratische Mitbestimmung der Bevölkerung vor als auf dem chinesischen Festland. Auch die Drohgebärden gegenüber Taiwan haben massiv zugenommen, zum Beispiel durch häufige Militärmanöver. Und auch im Inneren geht die Führung deutlich repressiver gegenüber Dissidenten und Angehörigen der tibetischen und uigurischen Minderheiten vor. Auch erfolgreiche Tech-Unternehmer wie etwa Jack Ma wurden sanktioniert. Der langjährige Chef und Gründer von Alibaba, einer der größten Handelsplattformen der Welt, hatte es gewagt, die Linie von Xi Jinping zu kritisieren – und wurde daraufhin zum Rücktritt gezwungen. Unter dieser repressiven Stimmung leiden auch die deutschen Unternehmen.
Und dann ist da der Handelskrieg, den die USA unter Donald Trump zwar angezettelt hatten, den sein Nachfolger Joe Biden aber unbeirrt fortsetzt. Die USA bezichtigen China der gezielten Manipulation und des Diebstahls von geistigem Eigentum. Peking hätte über Jahrzehnte hinweg erst Technologie aus dem Westen angelockt, um Wissen abzuzapfen. Mithilfe staatlicher Subventionen hätte China dann in einem nächsten Schritt die heimische Industrie bevorteilt, die dann mit deutlich günstigeren Waren die Weltmärkte überschwemmten. Auf diese Weise hätten chinesische Firmen die westliche Konkurrenz aus vielen Märkten gedrängt. Diese Entwicklung sei bei der Stahlindustrie ebenso zu beobachten gewesen wie bei der Fotovoltaikindustrie. Deutschland, vor 15 Jahren noch führend in dieser Branche, bezieht derzeit über 85 Prozent seiner Solaranlagen aus der Volksrepublik. Mehr als 40 Schlüsseltechnologien hat China definiert, in denen das Land bis 2040 auf diese Weise zur Weltspitze aufsteigen will.
Die USA reagieren inzwischen mit umfassenden Handelssanktionen gegen China und eigenen ehrgeizigen industriepolitischen Programmen. Um die rasante Entwicklung der chinesischen Tech-Industrie aufzuhalten, hat die Biden-Regierung mit dem Chips-Act westlichen Unternehmen aus der Halbleiterindustrie verboten, die Volksrepublik zu beliefern. Und mit dem Inflation Reduction Act (IRA) hat Washington ein eigenes gigantisches Programm aufgelegt, das mit massiven staatlichen Subventionen und Steuererleichterungen Schlüsseltechnologien fördern soll.
Europa spricht von „De-Risking“
Die EU-Länder haben bislang noch keine adäquate Antwort auf das industriepolitische Wettrüsten der beiden Supermächte gefunden. Die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP hat nach anderthalb Jahren intensiver Beratung im Sommer immerhin ihre sogenannte China-Strategie vorgestellt. Im Kern ist sie deckungsgleich mit dem Umgang, den auch die EU-Kommission ihren Mitgliedsstaaten empfiehlt. Sie definiert China politisch als „systemischen Rivalen“ und wirtschaftlich als Wettbewerber. Angesichts der Relevanz der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt und ihrer politischen Bedeutung solle in wichtigen Bereichen wie etwa dem Klimaschutz aber weiterhin die Partnerschaft mit China gesucht werden.
Diese Strategie soll allen Akteuren, seien es Ministerien, Forschungseinrichtungen oder Unternehmen, Orientierung verschaffen und sie vor möglichen Gefahren im Umgang mit China sensibilisieren. Von einer kompletten Entkopplung, wie sie anfangs auch in Deutschland Politiker gefordert hatten, will die Bundesregierung nichts wissen. Stattdessen sprechen Berlin wie auch die EU-Kommission nun von einem De-Risking.
Der rege Austausch hat nämlich bereits in einigen Bereichen zu einer bedrohlichen Abhängigkeit Deutschlands von China geführt. „Problematisch“ sei das bereits bei einigen „kritischen Rohstoffen, auf deren Import wir wegen der Energie- und Verkehrswende angewiesen sind“, sagt der Leiter der Abteilung Weltwirtschaft im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Lukas Menkhoff. Deutschland importiert etwa zwei Drittel der Seltenen Erden aus China. Diese Metalle sind etwa in Akkus, Halbleitern oder Magneten für Elektroautos unverzichtbar. Um nicht erpressbar zu werden, sollen auch sensible Güter wie etwa Arzneimittel nicht mehr einseitig nur aus China bezogen werden.
Was China als weltgrößten Absatzmarkt betrifft, ist es keineswegs so, dass die gesamte deutsche Wirtschaft vom Riesenreich abhängig ist. Am wichtigsten ist für die meisten deutschen Unternehmen der europäische Binnenmarkt. Es gibt aber vier große Konzerne, die bis hin zur Erpressbarkeit in China investiert haben. Die Rede ist von den Big Four: Volkswagen, Mercedes, BMW und BASF. Sie haben ungeachtet aller Warnungen in den vergangenen Jahren ihre Investitionen in China sogar noch verstärkt. Die Investitionen der vier in den vergangenen drei Jahren machten mehr als die Hälfte aller EU-Investitionen in China aus. Diese vier Firmen wollen in China bleiben, sogar ihre Geschäfte dort noch ausweiten. Sie sehen weiter in China ihren größten Wachstumsmarkt. Und sie glauben, wenn sie in China nicht an der Spitze stehen, werden sie auch auf dem Weltmarkt nicht mehr zur Spitze gehören. BASF bezeichnet China daher als „Fitnessclub“.