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Braucht Deutschland ein neues Geschäftsmodell?

Jürgen Matthes

/ 8 Minuten zu lesen

Krisen, neuer Protektionismus, Lieferkettenengpässe und die Dominanz der Geopolitik bedrohen das deutsche Exportmodell. Unternehmen müssen darauf flexibel reagieren, meint der Ökonom Jürgen Matthes.

Deutschland ist als Exportnation gefährdet, wenn die Weltkonjunktur einbricht: Chemiewerk am Rhein in Duisburg (© picture-alliance, Jochen Tack)

Das deutsche Exportmodell basiert auf einer international ausgerichteten Industrie, die ihre Stärken auf dem Weltmarkt ausspielt und dadurch ihre Produktionsbasis festigt. Dieses Geschäftsmodell ist auf offene globale Märkte und auf verlässliche Rahmenbedingungen für den internationalen Handel angewiesen.

Doch sowohl auf der Export- wie auch auf der Importseite kam es in jüngerer Vergangenheit zu gravierenden Tiefschlägen. Dazu zählen mehrere ökonomische Krisen, das Aufkommen eines neuen Protektionismus, Lieferkettenengpässe sowie die zunehmende Dominanz der Geopolitik. Diese Gefahren bedrohen das deutsche Exportmodell und setzen es von mehreren Seiten gleichzeitig unter Druck.

Verschiedene Elemente prägen derzeit das hiesige Geschäftsmodell. Deutschland hat es lange Zeit geschafft, mit einem Industrieanteil von etwas über 20 Prozent der Gesamtwirtschaft eine im Vergleich zu anderen großen Industrieländern hohe Bedeutung des verarbeitenden Gewerbes zu bewahren. In den USA, Frankreich oder Großbritannien liegt der Industrieanteil nur noch bei um die 10 Prozent. Dazu hat auch die große Offenheit der deutschen Volkswirtschaft beigetragen. Exporte und Importe von Waren und Dienstleistungen machen zusammen rund 100 Prozent der Wirtschaftsleistung (Interner Link: Bruttoinlandsprodukt – BIP) aus. Auch hiermit liegt die deutsche Wirtschaft deutlich vor anderen großen Industrieländern. Rund ein Viertel der deutschen Arbeitsplätze hängt direkt oder indirekt über Zulieferstrukturen vom Export ins Ausland ab.

Auch die vielen mittelständischen Weltmarktführer zeigen, worin der große Vorteil der starken Exportorientierung liegt: Diese sogenannten hidden champions stellen oft sehr spezielle Industrieprodukte in kleinen Marktnischen her, häufig schon seit Jahrzehnten. Doch weil sie nicht nur Deutschland, sondern auch Europa und die Welt als Absatzmarkt bedienen, können sie über Größenvorteile in der Produktion ihre Stückkosten senken und so ihre Wettbewerbsfähigkeit sichern.

Deutschland ist in Europa zudem ein bedeutender Knotenpunkt für internationale Handelsströme. Dabei profitieren viele der hiesigen Unternehmen davon, dass sie im Zuge der internationalen Arbeitsteilung viele Vorleistungen kostengünstig aus dem Ausland importieren – das stärkt ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit.

Zahl der Krisen seit der Jahrtausendwende enorm

Die große Handelsoffenheit hat das deutsche Interner Link: Exportmodell erfolgreich gemacht, aber sie macht es auch besonders verwundbar, wenn die Interner Link: Weltkonjunktur einbricht, die Versorgung mit ausländischen Zulieferprodukten stockt oder wenn andere Märkte abgeschottet werden. All dies ist kam in den vergangenen gut zwei Dekaden immer wieder vor und hat sich zuletzt zu einer Art Polykrise zugespitzt.

Die Zahl der Krisen seit der Jahrtausendwende ist enorm: 1999/2000 gab es die sogenannte New-Economy-Krise, 2001 wurde das World Trade Center in New York von Terroristen attackiert und die Weltwirtschaft erlebte einen weiteren Schock, 2008/2009 sowie kurz darauf von 2010 bis 2013 waren in der globalen Finanzmarktkrise und der Euro-Schuldenkrise die Sorgen um Banken und Staatshaushalte groß – und dann folgten 2020/2021 die Corona-Krise und 2022 die russische Invasion der Ukraine und die daraus resultierende Energiekrise. Auf den in der Folge starken Anstieg der Interner Link: Inflation reagierten die Zentralbanken vieler Länder mit kräftigen Interner Link: Zinserhöhungen, was die schwache Entwicklung der Weltwirtschaft weiter abbremst. Überlagert wurden diese Krisen durch problematische politische Entwicklungen bei wichtigen deutschen Handelspartnern wie Russland (bereits seit den Sanktionen wegen der Annexion der Krim ab 2014), der Türkei, dem Vereinigten Königreich, den USA und China, die ökonomisch negativ auf die deutsche Wirtschaft zurückwirkten. All diese Entwicklungen hinterließen ihre Spuren in der Exportbilanz der deutschen Wirtschaft.

In Großbritannien und in den USA stand dahinter vor allem eine zunehmende Interner Link: Kritik an der Globalisierung – genauer eine innenpolitisch motivierte Reaktion auf Wähler, die sich der Globalisierung zu sehr ausgesetzt sahen und eine Rückbesinnung auf das Nationale wollten. In Großbritannien war take back control ein Slogan des Brexit. Denn es ging darum, „die Kontrolle wiederzugewinnen“ gegenüber einer vermeintlich überbordenden Zuwanderung und gegenüber den als zu weitgreifend empfundenen Regulierungsbestrebungen der EU. In den USA hatte sich Donald Trump zum Vertreter der Interner Link: Globalisierungsverlierer im sogenannten rust belt der USA, also in den alten Industrieregionen, gemacht. Die politische Reaktion darauf waren höhere Handels- und Zuwanderungsbarrieren sowie zuletzt auch umfangreiche industriepolitische Subventionen.

China setzt zunehmend auf Autarkie und Abschottung

Aber auch schon vor dem Brexit-Referendum hatte es – beginnend mit der globalen Finanzmarktkrise – eine Zunahme des weltweiten Protektionismus gegeben, verbunden mit einem Erstarken nationalstaatlicher Regulierungs- und Schutzbestrebungen. Zudem setzt China als wichtiger Exportmarkt für die deutsche Wirtschaft zunehmend auf Interner Link: Autarkie und allmähliche Abschottung. In dieser „my country first“-Politik liegt ein doppeltes Problem für das deutsche Exportmodell. Denn Handelsbarrieren erschweren zum einen den Export und zum anderen erhöhen sie den Anreiz, Produktion und Arbeitsplätze in Deutschland abzubauen und in die Zielmärkte zu verlegen – zum Nachteil des hiesigen Standorts.

Ein weiteres Problem sind die Wettbewerbsverzerrungen, die vom chinesischen Staatskapitalismus ausgehen. China subventioniert seine Wirtschaft auf sehr vielen Ebenen entlang der ganzen Wertschöpfungskette: beginnend bei den Produktionsfaktoren über Rohstoffe und Metalle bis hin zu direkten Transfers, Steuererleichterungen und schließlich einer überaus großzügigen Exportfinanzierungsförderung. Donald Trump hat den Zollkonflikt gegen China vor allem auch aus diesen Grund begonnen. Auch der starke Anstieg des Handelsbilanzdefizits der EU und Deutschlands gegenüber China im Jahr 2022 liegt hierin mitbegründet. Da die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) zu viele Lücken aufweisen, besteht die Sorge, dass immer mehr Staaten mit einer ähnlich eigenmächtigen Abschottungspolitik gegenüber China reagieren wie die USA. Damit würde eine Interner Link: Erosion der multilateralen Handelsregeln drohen. Das wäre für die deutsche Wirtschaft eine sehr problematische Entwicklung, da sie auf verlässliche Regeln für den internationalen Handel angewiesen ist.

Seit der Corona-Krise kam es auch zu Interner Link: Problemen auf der Importseite. Denn durch die Lockdowns und die daraus resultierenden Produktionsausfälle und Containerstaus geriet die globale Logistik aus dem Takt. Zudem führten auch Hamsterkäufe und starke Nachfragesteigerungen – etwa nach medizinischen Gütern, Computern und Halbleitern – zu Lieferengpässen, die länger anhielten als ursprünglich erwartet. Als plötzlich unverzichtbare Vorprodukte nicht mehr lieferbar waren, zeigten sich bis dahin unbekannte Schwachstellen in den betrieblichen Lieferketten. Zudem stiegen die Preise für viele der knapp gewordenen Vorleistungsgüter stark, was den starken Anstieg der Inflation mitverursachte. Für die deutsche Wirtschaft, die wie aufgezeigt stark auf importierte Vorleistungen setzt, kam es auch in dieser Hinsicht zu einer doppelten Belastung: Durch ausbleibende Zulieferungen mussten manche Firmen zeitweise die Produktion herunterfahren, Kurzarbeit einführen oder Arbeitnehmer entlassen. Zudem litten die Unternehmen unter den stark gestiegenen Kosten und damit einer verschlechterten Wettbewerbsfähigkeit.

Gefahr neuerlicher Lieferengpässe

Auch wenn sich die akute Problemlage bei den Lieferketten zuletzt entspannt hat, bleibt das Problem im Raum. Denn das Interner Link: Gasembargo Russlands hat auch den Systemwettbewerb mit China und die kritischen Abhängigkeiten der deutschen Wirtschaft in den Fokus gerückt. Vor allem auf der Importseite gibt es viele Produkte, bei denen auf China ein sehr hoher Anteil an der deutschen Einfuhr entfällt, wie etwa wichtige Rohstoffe, chemische Grundstoffe oder elektronische Bauteile.

Im Szenario einer geopolitischen Krise, etwa im Zuge eines chinesischen Angriffs auf Interner Link: Taiwan, wäre die deutsche Wirtschaft hier verwundbar, es drohen im Extremfall Produktionsausfälle in vielen Bereichen. Damit lässt die geopolitische Lage die Gefahr neuerlicher Lieferengpässe chronisch werden.

Die deutsche Wirtschaft braucht vor dem Hintergrund all dieser Entwicklungen kein neues Geschäftsmodell, aber sie muss ihr bestehendes Modell anpassen. Ähnliches haben die deutschen Unternehmen in der Vergangenheit immer wieder erfolgreich geschafft.

Angesichts der vielen kritischen Abhängigkeiten drängt die Politik die Unternehmen zu einem De-Risking (englisch Risikominimierung) von China. Eine Diversifizierung der Lieferbeziehungen – also mehr verschiedene Lieferanten - und eine verstärkte Lagerhaltung sind die bevorzugten unternehmerischen Strategien dazu. Es gibt zudem Tendenzen zum Nearshoring, Friendshoring und Reshoring – also dazu, Vorleistungen stärker aus benachbarten Ländern, befreundeten Staaten oder aus dem eigenen Land zu beziehen, um potenzielle Versorgungsrisiken zu mindern.

Eine weitgehende Renationalisierung der Zulieferstrukturen ist indes nicht ratsam. Stattdessen ist diversifiziertes Friendshoring die beste Absicherungsstrategie gegen Lieferkettenrisiken, also eine breite Streuung der Lieferanten auf mehrere „befreundete“ Länder. Dabei ist die Definition von „Freunden“ weit zu fassen und sollte all jene Länder einbeziehen, die die deutsche Wirtschaft auch bei einem geopolitischen Konflikt mit großer Wahrscheinlichkeit weiter beliefern würden. Nur noch mit lupenreinen Demokratien Handel zu betreiben, wie zuweilen gefordert wird, wäre nach der Interner Link: "Zeitenwende" nicht die richtige Strategie angesichts der aktuellen und der weiteren drohenden geopolitischen Konflikte. Wir dürfen die vielen Interner Link: Schwellenländer nicht China überlassen.

Trend zum De-Risking bei China bislang nur moderat

Für internationalisierte deutsche Firmen dürfte der Verzicht auf Zulieferungen aus China die Kosten erhöhen und ihre Wettbewerbsfähigkeit mindern, falls sie stark auf chinesische Importe setzen. Es verwundert daher nicht, dass der Trend zum De-Risking bei China bislang nur moderat ist, wie ein Blick auf aktuelle Unternehmensumfragen zeigt. Aus geostrategischer Sicht ist jedoch ein zügiger Abbau kritischer Abhängigkeiten nötig, da nicht auszuschließen ist, dass sich der chinesisch-taiwanesische Konflikt in absehbarer Zeit zuspitzen könnte.

Auf der Exportseite ist auch eine Strategie der Diversifizierung angebracht. Hier sollte sich die deutsche Wirtschaft zügig neue Märkte jenseits von China vor allem in dynamisch wachsenden Schwellenländern erschließen. Die Politik muss dies mit bilateralen Freihandelsabkommen (FHA) und damit verbundenen gegenseitigen Zollsenkungen flankieren. Sie kommt hier aber bisher viel zu langsam voran. Das zeigt sich beispielsweise an den Verhandlungen über FHA mit Indonesien oder den Mercosur-Staaten in Südamerika. Sehr hohe Ansprüche der EU vor allem an verbindliche Nachhaltigkeitsstandards in den Partnerländern stoßen dort auf Widerstand und werden als Bevormundung verstanden, was einen zügigen und erfolgreichen Abschluss behindert.

Die neue Dominanz der Geopolitik verändert die Globalisierung, da sie – in Grenzen – eine andere internationale Arbeitsteilung erzwingt. Diese Entwicklung dürfte jedoch nicht zu einer De-Globalisierung und einem vollständigen Decoupling („Entkopplung“) führen. Vielmehr werden sich die Handelsströme im Zuge einer stärkeren Interner Link: Diversifizierung bei Importen und Exporten etwas verlagern. Nur im Fall einer massiven Zuspitzung geopolitischer Konflikte ist eine abgeschottete Blockbildung nicht auszuschließen, und zwar zwischen Autokratien um China und Russland einerseits und westlich geprägten demokratischen Marktwirtschaften andererseits. Bislang zeigen sich bei Handel und Direktinvestitionen dafür nur im Ansatz gewisse Anzeichen. Sollte es im Extremfall doch zu einer weitgehenden geoökonomischen Fragmentierung kommen, würde die handelsoffene deutsche Wirtschaft hart getroffen, aber auch die Weltwirtschaft insgesamt.

Weitere Inhalte

Der Diplom-Ökonom Jürgen Matthes ist Leiter des Clusters Internationale Wirtschaftspolitik, Finanz- und Immobilienmärkte am Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln.