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Die EU und der Freihandel: Schaf unter Wölfen? | Globaler Handel | bpb.de

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Die EU und der Freihandel: Schaf unter Wölfen?

Gabriel J. Felbermayr

/ 7 Minuten zu lesen

Europas Politiker geißeln gerne den "neuen" Protektionismus der USA. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass die EU auf diesem Gebiet keineswegs eine so reine Weste hat, erklärt der Ökonom Gabriel J. Felbermayr.

Säcke mit ungerösteten Kaffeebohnen auf einer Plantage im brasilianischen Uberlandia: Während die EU auf die Einfuhr ungerösteter Kaffeebohnen keine Zölle erhebt, unterliegen geröstete Kaffeebohnen einem Importzoll von sieben bis neun Prozent. (© picture-alliance, imageBROKER)

Protektionismus bezeichnet alle Maßnahmen, mit denen ein Staat versucht, ausländische Anbieter auf dem Inlandsmarkt zu benachteiligen, um einheimischen Anbietern einen wettbewerbsverzerrenden Vorteil gegenüber ausländischen Anbietern zu beschaffen. Dabei werden etwa Importzölle und mengenmäßige Handelsbeschränkungen eingesetzt, aber auch diskriminierende regulatorische Maßnahmen oder der Ausschluss ausländischer Anbieter bei staatlichen Beschaffungsvorgängen. Auch Exportsubventionen sind hier zu nennen. Protektionistische Maßnahmen können auch im Dienstleistungshandel oder im Bereich internationaler Investitionen eingesetzt werden.

(© Privat)

Protektionismus kann aus der isolierten Sicht eines einzelnen Landes aber auch durchaus positiv sein: Wenn etwa ein Zoll die Nachfrage nach einem ausländischen Gut reduziert, sinkt der gleichgewichtige Preis für dieses Gut auf dem Weltmarkt, und das Inland kann dieses günstiger erwerben. Dazu kommen Zolleinnahmen. Allerdings treten auch verzerrende Effekte durch die Reduktion des internationalen Handels auf.

In der volkswirtschaftlichen Theorie ist die Rede vom Optimalzoll, wenn mit ihm Wohlfahrtsgewinne erzeugt werden. Das Konzept geht aber nur dann auf, wenn die Handelspartner nicht ihrerseits Zölle einführen. Dann sinkt auch der Exportpreis des Inlandes, und die vermeintliche Besserstellung durch vorteilhafte Preisverhältnisse im Ausland schwindet. Was bleibt, sind gestörte Produktions- und Konsumstrukturen und damit verbunden eine niedrigere Wohlfahrt im In- und Ausland.

Nichtkooperation endet im "Gefangenendilemma"

Wenn jedes Land versucht, das andere zu übervorteilen, findet sich die Welt in einem nichtkooperativen Gleichgewicht wieder, denn kein Land hat mehr den Anreiz, unilateral von der Nichtkooperation abzuweichen. Die Spieltheorie beschreibt dieses Problem als Gefangenendilemma: Alle Spieler kooperieren nicht und stellen sich damit schlechter. Um dieses Dilemma zu vermeiden, braucht man hinreichend Vertrauen darin, dass der jeweilige Partner wirklich kooperativ ist, wenn man selbst auf Kooperation setzt. Internationale Verhandlungen und Institutionen – allen voran die Welthandelsorganisation (WTO) – verdanken ihre Existenz dem Ziel, nichtkooperative Gleichgewichte zu vermeiden.

US-Präsident Donald Trump hat an vielen Stellen den Wert der internationalen Kooperation infrage gestellt. Im Gegensatz zu den USA erscheint die EU unter den großen handelspolitisch relevanten Staaten und Gruppen auf den ersten Blick als Schaf unter Wölfen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass dieser Eindruck nicht ganz stimmt.

Zunächst zum Schein: Die angewandten Importzölle der EU sind niedrig. Im handelsgewichteten Durchschnitt betragen sie lediglich 1,60 Prozent; die USA kommen auf einen Wert von 1,61 Prozent und China auf 3,52 Prozent. Betrachtet man ungewichtete Durchschnitte, kommt die EU auf 1,92 Prozent, die USA auf 2,79 Prozent und China gar auf 7,76 Prozent.

Die EU hat nach Angaben der WTO mit 64 Partnerländern Freihandelsabkommen abgeschlossen, darunter mit Schwergewichten wie Mexiko, Kanada, Türkei oder Südafrika, sodass circa acht Prozent des Weltbruttosozialprodukts von EU-Freihandelsabkommen erfasst ist. Die USA kommen lediglich auf 20 Abkommen, China auf 24. Die EU hat eine sehr ambitionierte Agenda: Aktuell verhandelt sie mit einer ganzen Reihe von Ländern, die – wenn man die Verhandlungen mit den USA mitzählt – 44 Prozent der Weltnachfrage abdecken.

Regelmäßig geringere Antidumpingzölle als die USA

Auch bei der Verwendung von Strafzöllen zur Ahndung von Dumping ist die EU zurückhaltender. Sie erhebt auch regelmäßig geringere Antidumpingzölle als die USA. Verhaltener sind die Europäer ebenso beim Umgang mit anderen Handelsschutzinstrumenten: zum Beispiel beim angeblichen Einsatz von Subventionen im Exportland oder extrem kurzfristigen Zuwächsen von Importen. Doch der schöne Schein trügt – vor allem mit Blick auf die von der EU erhobenen sogenannten Antidumpingzölle.

Unter "Dumping" fällt, wenn ein Produzent auf seinem Heimatmarkt einen höheren Preis verlangt als auf dem Exportmarkt. Wenn dieser Umstand die wirtschaftlichen Interessen eines Produzenten im Exportmarkt negativ beeinflusst, kann er bei seiner Regierung eine Antidumpinguntersuchung mit dem Ziel anstrengen, Antidumpingzölle einzuführen. Diese sind im WTO-Recht durchaus vorgesehen; dennoch haben sie unter Ökonomen einen schlechten Ruf. Der bloße Umstand, dass Exporteure auf ausländischen Märkten auf niedrigere Preise setzen als auf ihren Heimatmärkten, stellt erstmal keinen Nachteil für das Importland dar. Im Gegenteil: Wenig für Importe bezahlen zu müssen, ist ein Vorteil. Wenn China der EU Geschenke macht, ist es wirklich im gesamtwirtschaftlichen Interesse der Union, diese Geschenke abzulehnen?

Es gibt jedoch jede Menge politökonomische Evidenz dafür, dass die sogenannten Handelsschutzinstrumente aus klassischen protektionistischen Motiven heraus eingesetzt werden. Zum Beispiel nimmt ihr Einsatz sprunghaft zu, wenn im Inland eine Rezession herrscht. Und sie werden vor allem in Sektoren angewendet, in denen relativ wenige Marktteilnehmer über gute Kontakte in die Politik verfügen. Dies ist etwa im Stahl- oder Chemiesektor der Fall. Das Kernproblem bei Antidumpingzöllen ist, dass ihre Erhebung bei einigen wenigen Unternehmen hohe Gewinne ermöglicht beziehungsweise Verluste abwendet, die Kosten aber bei vielen Verbrauchern anfallen.

80 Prozent EU-Zölle auf Fahrräder und E-Bikes

Die EU erhebt tatsächlich Antidumpingzölle auf Stahl- und Chemieprodukte aus China, Russland und Indien von bis zu 48 Prozent, auf Biodiesel aus Argentinien und Brasilien von bis zu 180 Euro pro Tonne, Bioethanol aus den USA (10 Prozent) sowie auf Fahrräder und E-Bikes aus verschiedenen asiatischen und nordafrikanischen Staaten (bis 80 Prozent). Die Liste lässt sich mühelos verlängern.

Insgesamt setzt die EU Antidumpingverfahren immer häufiger wegen des Verdachtes auf verbotene Subventionen ein, wofür das WTO-Recht eigentlich ein anderes Instrument kennt; jenes des Ausgleichszolls. Dieses Instrument wird selten eingesetzt, da der Tatbestand juristisch schwieriger darzustellen ist. Vielleicht will die EU aber auch einfach das Thema "Subventionen" nicht direkt ansprechen, weil sie diese selbst vielfach einsetzt und in diesem Zusammenhang regelmäßig Handelskonflikte vor der WTO austragen muss, beispielsweise mit den USA im Fall von Airbus und Boeing.

Viele Entwicklungsländer sind nach wie vor stark von Landwirtschaft und Rohstoffextraktion geprägt. Zwar haben verschiedene Reformen der Zollpolitik und der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik geholfen, hier Benachteiligungen abzubauen. Es bleiben aber erhebliche Barrieren – allen voran die sogenannte Zolleskalation: Diese liegt vor, wenn der Einfuhrzoll auf Rohstoffe und Vorprodukte niedriger ist als auf verarbeitete Güter. Dies ist besonders im Lebensmittelbereich relevant: So gibt es zum Beispiel in der EU keine Importzölle auf den Import von ungerösteten Kaffeebohnen. Geröstete Bohnen und Kaffeeprodukte unterliegen hingegen einem Importzoll von sieben bis neun Prozent. Dies führt dazu, dass Kaffee nicht in Afrika, Asien oder Südamerika veredelt wird, sondern zu einem erheblichen Teil in Europa und insbesondere in Deutschland.

Würde Kaffee beispielsweise in Vietnam veredelt, hätten die dortigen Produzenten auf dem EU-Markt aufgrund der Zölle einen erheblichen Preisnachteil. Das Resultat: 2016 erzielte ganz Afrika – die Heimat des Kaffees – Kaffeeexporte im Wert von 1,8 Milliarden Euro, während allein Deutschland durch Kaffee-Reexporte einen Exportwert von 2,2 Milliarden Euro erreichte. Die EU kommt auf 34 Prozent der weltweiten Kaffeeexporte, Afrika gerade mal auf sechs Prozent. Ähnlich sieht die Situation bei Kakao, Tabak, Baumwolle oder Metallprodukten aus. Das Resultat ist immer dasselbe: Die Veredelung findet in Europa statt.

Problem der Zolleskalation abgemildert, aber nicht gelöst

Nun lässt sich einwenden, dass die EU gegenüber vielen Entwicklungsländern Präferenzsysteme unterhält, die unter bestimmten Bedingungen zoll- und quotenfreie Lieferungen nach Europa erlauben. Dies gilt ohne Ausnahmen allerdings nur für die wenigsten entwickelten Länder, wozu aber nicht die wichtigen Kaffee- und Kakaoproduzenten wie die Elfenbeinküste, Ghana oder Vietnam gehören.

Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die zwischen der EU und Entwicklungsländern geschlossen werden, verbessern zwar die Situation. Aber bilaterale Freihandelsabkommen, die lediglich bestimmten Partnern Zollfreiheit gewähren, verwässern die Vorteile der Präferenzsysteme. Insgesamt wird das Problem der Zolleskalation nur abgemildert, aber nicht gelöst. Manche Beobachter haben deshalb ihre Zweifel, ob die Freihandelsabkommen der EU wirklich den Protektionismus bekämpfen.

Bilaterale Freihandelsabkommen sind globalen Abkommen im Rahmen der WTO unterlegen, weil sie nur zwischen zwei Partnerländern Barrieren abbauen. Da im internationalen Handel relative Preise bestimmend sind, bedeutet ein Freihandelsabkommen immer auch eine relative Schlechterstellung von Exporteuren aus Drittstaaten. Zwar wird an der absoluten Höhe der Zölle gegenüber diesen Staaten nichts verändert – dies würde gegen die Richtlinien des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) verstoßen –, doch führt der Abschluss eines Freihandelsabkommens zu einer Handelsumlenkung, die die Unternehmen der Vertragsstaaten bevorzugt. Daher ist es gut möglich, dass EU-Freihandelsabkommen Drittländer benachteiligen.

Dennoch: Die hier formulierte Klage über europäischen Protektionismus sollte nicht missverstanden werden: Die EU ist im Vergleich zu den USA unter Donald Trump sowie zu einem China, das sich in den vergangenen Jahren wieder von einer freiheitlichen Wirtschaftsverfassung wegbewegte, ein positives Beispiel. Selbst wenn die EU an der relativ schlechten Verfassung der WTO nicht unschuldig ist, so bringt sie sich weiterhin konstruktiv in die Debatten ein. Die Europäer verfolgen kooperative Ansätze, beispielsweise beim Abbau der globalen Überkapazitäten im Stahlbereich oder bei der Reform der WTO. Und sie passen ihre Handelspolitik der Kritik aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft an.

Trotzdem gibt es auch in Europa Tendenzen, auf die nichtkooperativen chinesischen und amerikanischen Ansätze abschottend zu reagieren. Das wäre eine falsche Politik: Wenn Europa freien Marktzugang im Ausland einfordert, sollte es diesen im Inland auch gewähren. Das Ziel sollte positive Reziprozität sein - und nicht eine Politik, die sich am "Auge um Auge, Zahn um Zahn" des babylonischen Königs Hammurapi orientiert.

Der Beitrag ist eine gekürzte und aktualisierte Fassung des in der APuZ 4-5/2018 erschienenen Textes Interner Link: "Ein Schaf unter Wölfen? Die Europäische Union und der Freihandel".

Weitere Inhalte

Gabriel Felbermayr wird ab März 2019 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW). Der österreichische Ökonom ist derzeit Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) und Leiter des Zentrums für Außenwirtschaft am ifo-Institut in München.