Was ist am US-Außenhandelsdefizit eigentlich so schlimm?
Jan Priewe
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Donald Trump begründet seinen protektionistischen Handelskurs mit dem Minus der USA in der Handelsbilanz mit China und Europa. Das gleiche Problem hatten vor ihm bereits andere US-Präsidenten, analysiert der Berliner Ökonom Jan Priewe.
Im Jahr 2017 hatten die USA das mit Abstand größte Außenhandelsdefizit der Welt. In absoluten Zahlen betrug es 552 Milliarden US-Dollar, das sind 2,85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Ist das ein Problem für die USA? Ja und nein – es kommt auf die ökonomische und politische Bewertung an. Donald Trump bewertet es mit der ihm eigenen Rhetorik als "Überflutung" der US-Märkte mit chinesischen und europäischen Waren - zulasten der Beschäftigung in den USA, insbesondere im mittleren Westen. Die USA würden benachteiligt, vor allem von China und der Europäischen Union (EU) – und hier vor allem von Deutschland.
Ein Handelsbilanzdefizit bedeutet, dass ein Land mehr Güter und Dienstleistungen kauft als es selber produziert. Es ist also mit Beschäftigungseinbußen verbunden. Ein Defizitland muss sich zudem im Ausland verschulden. Deshalb versuchen die meisten Länder der Welt, Außenhandelsdefizite zu vermeiden, vor allem chronische Defizite. Diese haben die USA jedoch bereits seit Anfang der 1980er Jahre. Seither sind sie das größte Nettoschuldnerland der Welt, denn sie haben mehr Verbindlichkeiten gegenüber dem Rest der Welt angehäuft als Forderungen. Welcher Art das Problem des US-Außenhandelsdefizits ist, werden wir genauer unter die Lupe nehmen, nachdem wir uns die Fakten angeschaut haben.
Die Fakten
Im Jahr 2006 war das US-Handelsbilanzdefizit bis dato am größten, es betrug 5,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der USA (Abb. 1). Nach der Finanzkrise 2008/09 schrumpfte es auf etwa 2,5 Prozent. Das bilaterale Defizit der USA mit China machte, wenn man den Angaben des staatlichen US-Bureau of Economic Analysis (BEA) Glauben schenkt, 2017 etwa 335 Milliarden US-Dollar aus (Abb. 2). Das sind 61 Prozent des gesamten US-Defizits. Gegenüber der EU haben die USA ein vergleichsweise geringes Defizit von 104 Milliarden US-Dollar, also 19 Prozent des gesamten US-Defizits. Dabei entfällt der Löwenanteil auf Deutschland mit einem bilateralen Defizit von 61 Milliarden US-Dollar, etwa zwölf Prozent. Wenn die Zahlen des BEA stimmen, kommen beim Handel mit China und der EU zusammen 80 Prozent des gesamten US-Defizits zustande.
Was China betrifft, gibt es an den BEA-Zahlen erhebliche Zweifel. China hat nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) sowie der Weltbank nur noch einen Handelsbilanzüberschuss von insgesamt 209 Milliarden US-Dollar oder 1,7 Prozent des chinesischen BIP (2017). Diese Zahl würde nur dann zum bilateralen Defizit der USA mit China in Höhe von 336 Milliarden Dollar – nach BEA-Statistik – passen, wenn China riesige Defizite gegenüber anderen Ländern hätte – was nicht der Fall ist. Offenbar unterstellt das BEA, dass Chinas Überschüsse wesentlich höher sind als offiziell angegeben. Dagegen spricht, dass China seit etwa 2008 seine Handelspolitik fundamental geändert hat, weg von der extremen Exportorientierung, hin zur Binnennachfrage (Abb. 3) – wenn die offiziellen Zahlen denn stimmen.
Die Probleme mit der Statistik haben verschiedene Ursachen, die besonders bei den bilateralen Salden gravierend sind. Die wohl wichtigste ist, dass der Dienstleistungshandel relativ schwer zu erfassen ist, zum Beispiel beim Tourismus, bei Internetdiensten oder bei Im- und Exporten innerhalb multinationaler Konzerne. Die USA haben beim Handel mit Dienstleistungen einen hohen Überschuss, beim Güterhandel (Warenhandel in der Statistik) ein sehr großes Defizit.
Was die EU angeht, so ist deren Überschuss nach offiziellen Angaben von IWF und Weltbank wesentlich größer als der Chinas, nämlich 553 Milliarden Dollar oder 3,6 Prozent des EU-BIP; bezogen auf die Eurozone ist es sogar ein Überschuss von 4,5 Prozent. Die Fokussierung auf bilaterale Defizite ist aber irreführend, weil etwa Deutschland mit den meisten Ländern der Welt Überschüsse im Handel einfährt, die nun ihrerseits womöglich mit den USA bilaterale Überschüsse haben. Wenn man die indirekten Wirkungen einbezieht, kommt es allein auf die gesamtwirtschaftlichen Überschüsse oder Defizite an. Deutschland ist mit Abstand das Land mit dem höchsten Überschuss auf dem Globus, gemessen in absoluten Zahlen Überschussweltmeister.
Wie schlimm sind die US-Defizite wirklich?
Aus ökonomischer Sicht sind chronische Defizite im Außenhandel eines Landes immer unerwünscht, in vielen Fällen sogar hochproblematisch. Es gibt aber keine einfachen Grenzwerte für Defizite. Nur sehr wenige OECD-Länder haben chronische Defizite. Für die USA sind drei Nachteile vorherrschend.
Erstens leidet die Gesamtbeschäftigung, wenn die Importe die Exporte chronisch übersteigen und keine Form der Kompensation des Nachteils gefunden wird – etwa eine Korrektur des Wechselkurses durch Abwertung. Das Defizitland ist dann gegenüber dem Überschussland fortwährend im Nachteil. Möglicherweise vergleicht sich Präsident Trump mit Überschussländern wie Deutschland, China und Japan, und wünscht sich auch Überschüsse. Auf jeden Fall entsteht der Eindruck, die Überschussländer profitieren mehr von der Handelsglobalisierung als die Defizitländer.
Zweitens hat das Defizitland beim gegebenen Wechselkurs offenbar Probleme mit der Wettbewerbsfähigkeit seiner Exporte. Die USA haben eine tiefe Deindustrialisierung ihrer Wirtschaftsstruktur durchgemacht, weil sie Marktanteile an China, Deutschland und viele andere Länder verloren haben. Dadurch schrumpfte die Beschäftigung in alten Industrieregionen, dort wo Trump einen großen Teil seiner Wählerklientel hat. Es betrifft vor allem Menschen mit niedrigen oder mittleren Qualifikationen und Ältere, die nicht mehr hinreichend anpassungsfähig sind. Die neuen innovativen Arbeitsplätze entstehen oft in ganz anderen Regionen, zum Beispiel in Kalifornien. Dort werden sehr hohe Einkommen erzielt, etwa bei den Internetgiganten im Silicon Valley.
Drittens versuchen Defizitländer meistens, den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit durch höhere Budgetdefizite („Zwillingsdefizite“ – im Staatshaushalt und in der Zahlungsbilanz) oder durch eine höhere Verschuldung von privaten Haushalten oder Unternehmen auszugleichen. Dass die USA in den letzten Jahren ein relativ hohes Wachstum beim BIP und der Beschäftigung erzielen konnten, hat vor allem mit ihrer Fiskalpolitik zu tun: Sie haben die Staatsausgaben erhöht und Steuern gesenkt, also die Verminderung des hohen Schuldenstands hintan gestellt. Beispielsweise hatten die USA in 2017 ein Haushaltsdefizit von 4,0 Prozent, im Jahr 2018 wird es wahrscheinlich über 5 Prozent liegen.
Die florierende Wirtschaft ist Grundlage der immer noch hohen Zustimmungswerte für Trump. Dies kann aber nicht einfach so weitergehen, weil es bei nahezu Vollbeschäftigung zu höherer Inflation und steigenden Zinsen kommt – keine guten Nachrichten für einen Präsidenten, der auch die nächsten Wahlen im Jahr 2020 wieder gewinnen will. Der Kompensation der Nachteile des Handelsdefizits durch kreditfinanzierte private und staatliche Ausgaben sind also Grenzen gesetzt.
Nun kann man sich fragen, warum die USA nicht einfach ihre Währung abwerten oder die Haushaltsdefizite zurückfahren, so dass die Nachfrage nicht mehr größer als die heimische Produktion ist und das Defizit wegschmilzt. Der Grund für die fehlende Abwertungsoption ist ein besonderes Dilemma, in dem sich die USA – anders als andere Länder – befinden. Denn die USA sind das einzige Land, das eine überall anerkannte Währung verwendet, eine Weltwährung, in der auch andere Länder ihre Währungsreserven halten. Der Euro ist dagegen nur eine Regionalwährung. Die wichtigste Währung der Welt zu haben, ist eigentlich ein großes Privileg: denn so können mit der eigenen Währung Handelsbilanzdefizite finanziert werden. Zudem legen viele Länder ihre Währungsreserven in den USA (zu geringen Zinsen) an, ebenso wie Vermögensbesitzer weltweit einen großen Teil ihres Geldkapitals dort investieren. Daher besteht keine ernsthafte Gefahr, dass die USA ihre Auslandsschulden nicht mehr bedienen können, obwohl sie der weltgrößte Nettoschuldner sind. Bei allen Vorteilen für die USA führt diese Konstellation unvermeidlich zu Leistungs- und Handelsbilanzdefiziten. Es gibt nämlich keine echte Abwertungsoption Würde die US-Regierung das Haushaltsdefizit senken, könnte dies eine Rezession mit weltweiten Auswirkungen verursachen. Da die heimische Wirtschaft mithin indirekt unter dem Privileg "Dollar als Weltwährung" leidet, gab es in den USA in den vergangenen 50 Jahren immer wieder Tendenzen zum Handelsprotektionismus, die sich aber meistens nicht durchsetzen konnten.
Andere Optionen jenseits von Abwertung und einer zu starken Kreditexpansion sind schwierig und langwierig. Zu nennen wären hier im Wesentlichen drei wirtschaftspolitische Maßnahmen: Erstens die Reindustrialisierung schwacher Regionen, die Förderung neuer Sektoren, eine Energie- und Verkehrswende, der Infrastrukturausbau sowie Investitionen in Bildung und Ausbildung. Zweitens eine Umverteilung von oben nach unten, die die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen ohne hohe Neuverschuldung von Staat und Privaten stabilisieren würde. Drittens der Appell an die Partnerländer der USA in Europa und Asien, durch Begrenzung ihrer Handelsbilanzüberschüsse zum "Rebalancing" der Weltwirtschaft beizutragen, etwa indem sie die Inlandsnachfrage erhöhen und so mehr importieren – so auch seit langem die Forderung zum Beispiel des Internationalen Währungsfonds. In China hat man das längst verstanden, in der EU noch lange nicht.
Soviel zur ökonomischen Bewertung des US-Handelsbilanzdefizits. Mit den geschilderten Problemen waren und sind alle US-Präsidenten in Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert. Allerdings hat der gegenwärtige Amtsinhaber seine eigene Interpretation der Fakten und seine spezifische politische Reaktion auf die Probleme. Statt Struktur- und Industriepolitik wählt er Protektionismus.
Politische Bewertung des US-Defizits durch die Trump-Administration
Trumps angedrohte oder bereits realisierte Maßnahmen des Protektionismus, einseitig den Handelspartnern oktroyiert, sind brandgefährlich. Kommt es tatsächlich zu einer Spirale von willkürlichen Zöllen, kann die Weltwirtschaft empfindlich darunter leiden, auch die USA selbst. Durch Importzölle der USA werden Importe teurer, und durch die Gegenmaßnahmen Europas und Chinas werden US-Exporte erschwert. Internationale Wertschöpfungsketten, an denen auch US-Unternehmen beteiligt sind, werden möglicherweise zerstört. Drohung und Gegendrohung erzeugen große Unsicherheit – Gift für Investitionen weltweit.
Der entscheidende Punkt ist aber China. Würde China empfindlich getroffen, sackt das Wachstum der Weltwirtschaft ab. Will Trump das? Vermutlich nicht. Vieles spricht aber dafür, dass die US-Regierung den weiteren Aufstieg Chinas zu einer politischen und ökonomischen Weltmacht verhindern möchte. Insbesondere Chinas technologische Ambitionen sind den USA ein Dorn im Auge. "America first" heißt aus dieser Sicht heraus konkret "China second", das gilt ebenso in Bezug auf Europa.
Wenn diese Interpretation zutrifft, geht es jenseits von Handelsdefiziten und -überschüssen in erster Linie um einen globalen politischen Machtkampf. Würde der US-Präsident einen Handelskrieg und infolge dessen eine globale Rezession auslösen, die auch die USA nicht verschonen würde, wäre seine Wiederwahl sicher gefährdet. Wahrscheinlich geht er nicht so weit. Er hofft jedoch darauf, dass China und Europa nachgeben. Eine mehr als riskante Strategie.
Jan Priewe ist Senior Research Fellow am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung. Bis 2014 war er Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin.