Die Ambitionen, die sowohl die USA wie die EU mit TTIP verfolgen, gehen deutlich über ein klassisches Freihandelsabkommen mit einer reinen Liberalisierung des Warenverkehrs hinaus. Wachstumsmotor vieler Volkswirtschaften wie des internationalen Handels ist zunehmend die dynamische Entwicklung der Dienstleistungsmärkte. Ohne ein Kapitel zur Erleichterung des Handels mit Dienstleistungen wäre ein Freihandelsabkommen modernen Typs ökonomisch nicht sinnvoll. Dementsprechend streben beide Seiten mit TTIP auch eine weitreichende Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs an.
Die forcierte Öffnung der Dienstleistungsmärkte für Anbieter aus Drittstaaten begründet allerdings – zumindest in der Theorie – erhebliche Gefahren für tradierte Organisations- und Versorgungsstrukturen jener Dienstleistungen, die von allgemeinem öffentlichem Interesse sind (kurz: Daseinsvorsorge). Diese besonderen Kategorien öffentlicher Dienstleistungen wie Post, Energie- und Wasserversorgung, öffentlicher Nahverkehr, die Gesundheits- und Bildungssysteme sind aufgrund historischer Erfahrungen des Marktversagens häufig in Händen öffentlicher Anbieter monopolisiert oder unterstehen zumindest einem rigiden Regime staatlicher Regulierung. Dadurch soll die diskriminierungsfreie Versorgung in der Fläche zu sozial angemessenen Preisen gewährleistet werden.
Nun hört man von Kritikerinnen und Kritikern der TTIP-Verhandlungen häufig die Befürchtung, das Dienstleistungskapitel des Freihandelsvertrags werde massiv die Strukturen öffentlicher Daseinsvorsorge schädigen. Ähnliche Befürchtungen wurden schon in den 1990er Jahren mit Blick auf das Dienstleistungsabkommen GATS (engl. General Agreement on Trade in Services) der WTO geäußert. Mit Blick auf das GATS erwiesen sich die Schreckensszenarien schon deshalb als unbegründet, weil der Liberalisierungseffekt, der letztlich vom GATS ausging, kaum nennenswert war. Wenn schon die meisten rein kommerziellen Dienstleistungsmärkte kaum Öffnungsimpulse erfuhren, so galt dies in einem System sogenannter Positivlisten erst recht für den Bereich der Dienstleistungen von allgemeinem öffentlichen Interesse, die über die Vermeidung positiver Zugangsverpflichtungen die Sektoren der Daseinsvorsorge effektiv gegen jeglichen Anstoß der Liberalisierung abschotteten.
Konsequenzen aus dem Scheitern des Positivlisten-Ansatzes der WTO
Aus dem praktischen Scheitern des Positivlisten-Ansatzes der WTO haben beide Verhandlungspartner ihre Konsequenzen gezogen. Es besteht wohl Einvernehmen, dass die Systematik des Dienstleistungskapitels in TTIP dem entgegengesetzten Ansatz sogenannter Negativlisten folgen wird. Dieser Ansatz ist nicht ganz neu, er prägt bereits die Dienstleistungskapitel des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA und wurde von der EU und Kanada auch dem – zur Zeit in die Ratifikation gehenden – europäisch-kanadischen Freihandelsabkommen CETA zugrunde gelegt.
Bei den Positivlisten werden bilateral gewährleistete Zugangsrechte zu Dienstleistungsmärkten nur in den Sektoren und unter den Bedingungen gewährt, die in den Verpflichtungslisten von den Vertragspartnern ausdrücklich zugestanden werden. Dagegen arbeitet das System der Negativlisten mit einer grundsätzlichen Vermutung, dass Dienstleistungsmärkte geöffnet werden. Der Zugang zu den Dienstleistungsmärkten der Vertragsparteien wird hier, unter bestimmten allgemeinen Vorsichtsmaßnahmen wie Meistbegünstigung und Inländergleichbehandlung, für alle die Sektoren gewährt, die nicht über spezifische Einträge in den Negativlisten von den Liberalisierungsverpflichtungen ausgenommen sind.
Man verspricht sich von diesem Ansatz eine positive Öffnungsdynamik. Doch steckt der sprichwörtliche Teufel in einem derartigen System im Detail der Negativlisten. Konnte man die Daseinsvorsorge-Sektoren durch Weglassen jeglicher Erwähnung im GATS noch konsequent gegen Marktöffnungen abschotten, wird dies im für TTIP angestrebten System nur um den Preis umfangreicher Ausnahmeklauseln in den Negativlisten möglich sein.
Dem gegenwärtigen Status der Verhandlungen entsprechend haben wir noch keinerlei Vorstellungen davon, wie das Gefüge der Negativlisten am Ende der Verhandlungen einmal aussehen wird. Wir kennen jedoch die Verhandlungsvorschläge der EU, die mittlerweile bis ins Detail öffentlich zugänglich sind, in Grundzügen auch die Verhandlungsposition der USA.
Aussparung aller wichtigen Daseinsvorsorgesektoren erkennbar
Sieht man sich die veröffentlichten Vorschläge der EU für das Dienstleistungskapitel an, einschließlich der vorgeschlagenen Einträge in die unterschiedlichen Kategorien von Verpflichtungslisten, so lässt sich ein sehr sorgsames Aussparen aller wichtigen Daseinsvorsorge-Sektoren erkennen. Ganz explizit sind bestimmte Sektoren öffentlicher Dienstleistungen, etwa im Kulturbereich und bei audiovisuellen Dienstleistungen, aus dem Anwendungsbereich der Dienstleistungsliberalisierung ausgeklammert.
Andere Sektoren der Daseinsvorsorge sind durch sorgfältig formulierte Ausnahmen weitgehend gegen Marktöffnungsforderungen abgeschottet. Natürlich kann sich dies im Laufe der Verhandlungen noch verändern. Doch wird es Aufgabe einer kritischen Zivilgesellschaft sein, die Entwicklung der Verhandlungspositionen genau zu beobachten und im Ernstfall Alarm zu schlagen. Die überaus transparente Veröffentlichungspolitik der EU im Blick auf ihre Verhandlungspapiere und -positionen ermöglicht eine solche konstante Begleitung der Verhandlungen durch kritische Beobachterinnen und Beobachter. Falls die Verhandlungen richtig geführt werden, lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Gestaltung des Dienstleistungskapitels erreichen, die wichtige Wachstumsimpulse für den bilateralen Dienstleistungshandel zwischen der EU und den USA setzt, zugleich aber die heiklen Bereiche der Daseinsvorsorge effektiv aus den Öffnungsverpflichtungen ausspart.
Verfrühte Panikmache ist hier also völlig fehl am Platz – kritische Begleitung der Verhandlungen durch die Öffentlichkeit kann dafür sorgen, dass Gefahren für das europäische System der Daseinsvorsorge umfassend vermieden werden. Man muss sich dafür nur auf die technischen Details der Dienstleistungsverhandlungen einlassen, aber das sollten zunehmend professionalisierte NGOs eigentlich leisten können.
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