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Überschuldung und Privatinsolvenz

Caspar Dohmen

/ 5 Minuten zu lesen

Als überschuldet gelten Menschen, die dauerhaft mehr Geld ausgeben als einnehmen. Das Phänomen der Überschuldung beschränkt sich aber nicht auf Krisenländer und Krisenzeiten.

Im Juni 2023 gab es knapp 14 Prozent mehr Unternehmensinsolvenzen als im Vorjahresmonat. (© picture-alliance)

In der Wirtschaftskrise nach 2007 und 2008 konnten viele Menschen ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen. Besonders heftig traf es die Leute zunächst in den USA und dann in den europäischen Krisenländern wie Griechenland, Portugal oder Spanien. Reihenweise wurden deren Häuser zwangsgeräumt. Das Phänomen der Überschuldung beschränkt sich aber nicht auf Krisenländer und Krisenzeiten. Das zeigt der Blick nach Deutschland: Hier hat die Überschuldung privater Haushalte parallel zum Anstieg der Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung seit Anfang der 1990er-Jahre deutlich zugenommen. Laut dem Schuldneratlas 2022 der Auskunftei Creditreform waren 5,9 Millionen Menschen in Deutschland überschuldet. Als überschuldet gelten Menschen, die dauerhaft mehr Geld ausgeben als einnehmen. Die Überschuldung nahm in der Pandemie ab.

Leben auf Pump

Grundsätzlich macht es einen wesentlichen Unterschied, ob jemand einen Kredit aufnimmt, um ein Haus zu bauen oder seinen Kindern eine Ausbildung zu finanzieren, oder ob er ein schickes Auto oder ein modernes Smartphone auf Pump kauft. Denn die Investitionen in ein Haus oder die Ausbildung der Kinder schaffen in der Regel einen Wert. Anders ist es beim Konsumentenkredit: Das Smartphone oder das Auto sind Gebrauchsgüter und ihr Wert nimmt meistens ab.

Als "Sündenfall" bezeichnete der Soziologe Daniel Bell die Einführung der Ratenzahlung bereits Mitte der Siebzigerjahre in seinem Buch "The Cultural Contradictions of Capitalism". In der Produktion poche man weiter darauf, dass die Menschen alte Werte wie Fleiß und Mäßigung befolgen. In der Welt des Konsums ermuntere man sie, genau das Gegenteil zu tun, schrieb er. Mit dem Pumpkapitalismus sei der Weg zum Konsumwahn und fröhlichen Schuldenmachen vorgezeichnet worden. Zuvor hatten Otto Normalverbraucher meist sparen müssen, bevor sie größere Anschaffungen wie Autos, Waschmaschinen oder Fernseher tätigen konnten. Sparsamkeit galt sogar als eine Tugend. Heute können Verbraucherinnen oft gleich kaufen, was sie begehren – sie zahlen später.

Diverse Banken haben sich auf Verbraucherkredite spezialisiert, manche Konzerne wie VW, Kaufhof oder Daimler haben sogar eigene Banken gegründet, um Verbrauchern die Finanzierung ihrer Produkte zu erleichtern und zusätzlich daran zu verdienen. Mittlerweile gibt es bisweilen Autos auf Kredit zu Null-Prozent-Zinsen und Häuser ohne jedes Eigenkapital trotz prekärer Einkommensverhältnisse. Regelmäßig überziehen auch jüngere Menschen ihr Girokonto oder nutzen den Spielraum ihrer Kreditkarte, um damit ihren Konsum zu finanzieren. Natürlich liegt dies auch an dem sozialen Druck unter Gleichaltrigen, bei Statussymbolen mitzuhalten.

Schulden in Lebenskrisen

Neben übermäßigem Konsum gibt es einige andere wichtige Ursachen dafür, dass Menschen plötzlich überschuldet sind. Immer häufiger geschieht dies, seit die Wohnkosten gerade in den Ballungsräumen stark gestiegen sind. Wenn die Kosten für Miete, Strom oder sonstige Fixkosten steigen, geraten beispielsweise Rentnerinnen und Rentner mit geringen Einkünften oft in finanzielle Bedrängnis. Von den Männern waren in Deutschland 10,56 Prozent überschuldet, von den Frauen 6,48 Prozent, wobei alleinerziehende besonders gefährdet sind. Hier liegt es weniger an übermäßigen Ausgaben als an fehlenden Einnahmen. Geholfen wäre den Betroffenen häufig, wenn es mehr Plätze in Betreuungseinrichtungen für ihre Kinder und flexiblere Arbeitsmöglichkeiten gäbe, die sich mit der Kindererziehung vereinbaren lassen.

Regelmäßig steht am Anfang einer Überschuldung eine plötzliche Änderung der Lebenslage. Wer weiß schon genau, ob er morgen noch seinen Arbeitsplatz hat? Ob er sich scheiden lässt und Unterhalt zahlen muss, ob er plötzlich krank wird und seine Arbeit nicht mehr bewältigen kann? Solche unvorhersehbaren Ereignisse können jeden treffen. Entsprechend geraten auch Menschen in die Bredouille, die eigentlich sehr verantwortungsvoll mit ihren Finanzen umgehen. Bei etwa drei Viertel der überschuldeten Menschen in den Industrieländern standen am Anfang der Misere Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Scheidung. Und viele kommen aus einer gescheiterten, kleinen Selbstständigkeit, sie haben also eine Menge dafür getan, um wirtschaftlich auf die eigenen Beine zu kommen.

Aber Banken fragen gewöhnlich nicht nach Problemursachen, sie pochen auf Rückzahlung. Jetzt rächt sich jeder Kredit – denn die Zinsuhr tickt unerbittlich. So sehr der Zinseszinseffekt den Einzelnen als Anleger freuen mag, als Schuldner raubt er ihm schnell seinen gesamten Handlungsspielraum.

Der Weg durch die Privatinsolvenz

Einmal verschuldet, immer verschuldet – diese Devise galt noch in den Neunzigerjahren für Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Schließlich bleibt der Interner Link: Vollstreckungsbescheid eines Gläubigers 30 Jahre gültig. Nur wenige Betroffene verdienten mit der Zeit so viel Geld, dass sie eine reelle Chance hatten, ihre Schulden vor ihrem Tod zu begleichen. Die Schuldner lebten oft dauerhaft auf Sozialhilfeniveau. Während sich Unternehmen auflösen konnten, blieben Menschen am Leben und ihre Schulden erhalten. Verbraucher mussten ihre Schulden abbezahlen, „um sie loszuwerden“. Für Betroffene bedeutete dies nach Ansicht von Verbraucherschützern psychische Belastungen, Unsicherheit in der Lebensplanung, Scham und eingeschränkte berufliche Perspektiven. Mittlerweile (in Deutschland seit 1999) besteht in den meisten Industrieländern für Privatleute die Möglichkeit der Interner Link: Insolvenz, die für juristische Personen schon lange vorher selbstverständlich war.

Was jetzt?Der lange Weg zur Privatinsolvenz

Betroffenen fällt es oft schwer, diesen Weg einzuschlagen. Wer will sich schon eingestehen, dass er finanziell ruiniert ist? Das ist menschlich verständlich. Oft agieren die Betroffenen lange Zeit nach der Vogel-Strauß-Methode, sprich sie wollen ihre Probleme nicht sehen und ignorieren sie. Rechnungen und Mahnschreiben lassen sie ungeöffnet liegen, wodurch sich ihre finanzielle Lage weiter verschlechtert. Viele plagen Ängste und Scham und sie trauen sich erst nach geraumer Zeit, endlich eine Schuldnerberatung aufzusuchen. Bei einer Verbraucherinsolvenz machen die Berater mit den Betroffenen zunächst einmal reinen Tisch: Sie klären die finanziellen Verhältnisse und versuchen, mit den Gläubigerinnen und Gläubigern eine Einigung zu erreichen. Dabei geht es um einen teilweisen Schuldenerlass und Pläne für die Rückzahlung. Wenn allerdings nur ein einziger Gläubiger ablehnt, dann geht die Sache vor Gericht. Dann bestimmen die Richterinnen und Richter die Konditionen für Gläubiger und Schuldner.

Ist der Weg zur Privatinsolvenz frei, folgt für Betroffene eine dreijährige Durststrecke. In dieser Zeit dürften sie nur bis zur Pfändungsfreigrenze Einkommen beziehen. Bei einem Alleinstehenden ohne Unterhaltspflichten entspricht dies 2022 einem unpfändbaren Grundbetrag von 1.330,16 Euro im Monat, beim Arbeitseinkommen erhöht sich der geschützte Betrag um knapp zehn Euro. Was darüber hinausgeht, wird teilweise gepfändet. Eine Treuhänderin verteilt das gepfändete Geld unter den Gläubigern. In der Praxis gehen allerdings viele Gläubiger leer aus, weil der Lohn vieler Schuldnerinnen unterhalb der Pfändungsfreigrenze liegt. Wenn sich der Schuldner drei Jahre einwandfrei verhalten hat, spricht das Gericht die Restschuldbefreiung aus. Der Betroffene kann jetzt schuldenfrei neu starten.

Schneller Neustart in den USA In den Interner Link: USA gibt es traditionell ein anderes gesellschaftliches Verhältnis zur Überschuldung als in Deutschland. Dahinter steht die feste Überzeugung vieler US-Amerikanerinnen und -Amerikaner, dass unternehmerisch tätige Menschen gefördert werden sollen. Wer Risiken in Kauf nimmt und sich mächtig ins Zeug legt, soll nicht dauerhaft gesellschaftlich abgestraft werden, wenn es schiefgeht. Entsprechend blicken die Vereinigten Staaten auf eine lange Tradition bei einer geregelten Privatinsolvenz zurück: Bereits seit 1898 hat jeder Bürger dort das Recht, die Bankrottgesetze in Anspruch zu nehmen. Ein Insolvenzverfahren dauert heute etwa zwei Monate, womit die Betroffenen wesentlich schneller die Chance für einen Neuanfang erhalten. Tatsächlich scheiterten einige amerikanische Unternehmer krachend, bevor sie mit ihren Ideen dann in einem neuen Anlauf sehr erfolgreich waren. Dazu gehören der Autokönig Henry Ford genauso wie der Ketchuphersteller John Henry Heinz oder der Zirkusbetreiber Phineas Barnum. Allerdings ist unternehmerisches Scheitern schon lange nicht mehr der Hauptgrund für eine persönliche Pleite der Menschen in den USA. Dieser liegt vielmehr in unvorhergesehenen Ausgaben wie beispielsweise dem Jobverlust oder teuren medizinischen Behandlungen.

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Caspar Dohmen ist Wirtschaftsjournalist. Nach seinem Studium der Volkswirtschaft und Politik arbeitete er als Redakteur für den Wiesbadener Kurier, das Handelsblatt und die Süddeutsche Zeitung. Heute schreibt er als freier Wirtschaftsjournalist für die SZ, verfasst Hintergrundberichte für den Deutschlandfunk und die ARD-Sender und arbeitet als Buchautor und Dozent u.a. an den Universitäten Witten-Herdecke und Siegen.