In der ganzen Welt werden die Bruchlinien tiefer. Dies zeigte bereits die Corona-Pandemie, und das wurde in den vergangenen Jahren nochmals deutlicher an der ausbleibenden Bekämpfung der Klimakrise, dem Krieg Russlands gegen die Ukraine und jüngst auch am Terror der Hamas gegen Israel. In der Folge dieser Großkrisen verschärfen sich die politischen und wirtschaftlichen Konflikte zwischen den USA, Europa und China. Der Abstieg des Westens ist in aller Munde, ebenso wie der Aufstieg des globalen Südens und der BRICS. Dies hat mit drei großen und seit längerem wirkenden Tendenzen zu tun: der Verschiebung der wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse, dem technologisch-ökonomischen Wandel und der geopolitischen Blockbildung.
Eine Welt – drei Pole
China, Indien und weitere Schwellenländer steigen auf und werden zu führenden Nationen. Dies zeigt sich auch an deren Wirtschaftswachstum, das deutlich höher als das der bisher führenden Kernregionen USA und Europa ist. Es wird auch an deren gewachsener Interner Link: hard und soft power, an der Fähigkeit zur Bereitstellung strategischer Güter und ihrer teilweisen technologischen Führerschaft, an der chinesischen Währung als Referenzwährung für manche Länder und auch an der Setzung technischer Normen deutlich. Die Steuerungskraft dieser Länder hat sich auch durch die Gründung des BRICS-Clubs (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und dessen Interner Link: Erweiterung zu BRICS-Plus (Iran, Saudi-Arabien, Ägypten, Vereinigte Arabische Emirate (VAE), Ägypten und Äthiopien) erhöht, und nicht zuletzt auch durch die enge Kooperation mit dem sogenannten globalen Süden.
Für viele Länder des globalen Südens erscheint die Kooperation mit dem BRICS-Club sinnvoller, da die meisten Mitgliedsländer höheres Wirtschaftswachstum und Investitionen im globalen Süden als der Westen verzeichnen und viele Länder vom Westen wegen der nicht eintretenden Versprechungen des neoliberalen Modells – verbunden mit dem meist ausbleibendem Entwicklungsschub – sich enttäuscht abwenden. Daher laufen die EU und die Vereinigten Staaten Gefahr, ihre Führungsrolle einzubüßen, und zwar nicht nur technologisch und wirtschaftlich, sondern auch politisch und militärisch. In den USA und der EU werden diese Gefahren debattiert und über Strategien gegen den drohenden Abstieg beraten.
Es wird viel über eine multipolare Welt gesprochen, faktisch handelt es sich jedoch um drei große Machtzentren (USA, EU und China mit den BRICS), die um die ökonomische und politische Vormacht kämpfen. Die oben genannten multiplen Krisen verdeutlichen, wie zerrissen die Weltwirtschaft inzwischen ist und wie wirtschaftliche und politische Machtkonflikte zwischen den drei Kernzentren bei gleichzeitigem Agieren zahlreicher Schwellenländer, die oft eine regionale Gestaltungsmacht ausüben (wie etwa die Türkei, Saudi-Arabien, Äthiopien oder Iran), Gefahr laufen, globale Konflikte hervorzurufen. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine verdeutlicht dies besonders, sind doch hier alle großen Akteure involviert.
Die große Divergenz
Die moderne Globalisierung zeichnet sich durch den rasanten internationalen Austausch von Geld, Waren und Dienstleistungen aus, der durch eine schnelle Informations- und Kommunikationstechnologie ermöglicht wird. Diese neuen Technologien prägen die geografische Aufteilung der einzelnen Produktionsschritte, so zum Beispiel in der Chip- oder Automobilindustrie. Transportrevolutionen reduzieren die räumlichen Trennungen etwa durch die Containerisierung des Seeverkehrs. Firmen können dadurch die internationalen Produktivitäts- und Lohnunterschiede nutzen. Ehemals isolierte und damit auch geschützte Regionen werden in den Weltmarkt integriert, sie sind aber zugleich verschärfter globaler Konkurrenz ausgesetzt.
Die Liberalisierung des Handelsregimes nach Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) leitete die Explosion des Welthandels ein. Vor allem seit den 1970er Jahren wurden die heutigen reichen Nationen noch reicher, in ihnen konzentrierten sich Produktion und Einkommen. Die Niedrigeinkommensländer entwickelten sich langsamer als die fortgeschrittenen Länder. Die Folge war ein historisch beispielloser Unterschied zwischen den Pro-Kopf-Einkommen im globalen Norden und Süden – die große Divergenz der Weltgesellschaft.
Nur wenige Länder waren in den letzten Jahrzehnten in der Lage, diesen Abstand nennenswert zu verringern, so etwa China, Vietnam, Kolumbien, die Türkei, Malaysia und Indien. Doch den meisten Ländern des globalen Südens gelang dies bisher nicht, und das nicht zuletzt auch wegen der technologischen Führerschaft der G20-Länder. In der Globalisierung profitieren die reichen Länder, die globalen Wirtschaftskerne, die US-amerikanischen, europäischen, japanischen, koreanischen und chinesischen multinationalen Konzerne - die "Superstars" der Weltwirtschaft, die ihre Marktmacht nutzen können, während die armen Länder wenig profitieren, weil sie a) Rohstoffexporteure sind und/oder b) weil sie in den globalen Wertschöpfungsketten nur geringe Profite realisieren und c) im technologischen Wettbewerb hintanstehen.
Machtverschiebungen
Die Neuvermessung der Weltwirtschaft manifestiert sich an den großen wirtschaftlichen Abhängigkeiten und an der überragenden Bedeutung großer Handelsblöcke für eine integrierte Weltwirtschaft, wozu die TTIP (Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft) zwischen den USA und der EU, CPTPP (Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership) mit den Mitgliedsländern Australien, Brunei, Chile, Japan, Kanada, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam), NAFTA (USA, Kanada, Mexiko) oder RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership) mit Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, die Philippinen, Singapur, Thailand, Vietnam sowie Australien, China, Japan, Neuseeland und Südkorea gehören. Hier geht es im Wesentlichen um Ausweitung des intra-industriellen Handels.
Handelspolitische Auseinandersetzungen haben zugenommen – vor allem zwischen den drei Großblöcken USA, EU und China. Diese vollziehen sich durch Vergeltungsmaßnahmen, also durch höhere Einfuhrzölle oder andere Einfuhrbeschränkungen. Die gegenwärtigen Handelspraktiken werden gegenseitig als unfair angesehen, sie bergen die Gefahr von Handelskriegen und De-Globalisierung in sich.
Doch die rein wirtschaftliche Betrachtung kann die gegenwärtigen globalen Spannungen nur unzureichend erklären. Bei den Handelsstreitigkeiten zwischen den USA, der EU und China stehen nicht nur Absatzmärkte und Lieferketten im Mittelpunkt, sondern vor allem die globale Technologieführerschaft: also die Fähigkeit, in zentralen Bereichen wie dem Energietransfer, den Halbleitertechnologien und der IT-Software globale Normen und Standards zu setzen, von denen alle Nutzer dieser Technologien abhängig sind.
Die internationalen Beziehungen sind heute mehr denn je zu einer geopolitischen Angelegenheit geworden. Dabei geht es auch um die militärische Vormacht, denn technologische Überlegenheit und die Fähigkeit zur Normsetzung bilden die Grundlage für wirtschaftliche und militärische Stärke. Führende Unternehmen und Nationalstaaten setzen Agenden der „kreativen Zerstörung“ durch Forschung und Innovation ein, um im weltweiten Technologiewettbewerb an der Spitze zu stehen. Volkswirtschaften, die sich in der Defensive befinden, konzentrieren sich angesichts der Machtverschiebungen und des zunehmenden Wettbewerbs verstärkt auf protektionistische Maßnahmen. Viele Länder bleiben dennoch im globalen Wettbewerb marginalisiert, weil sie technologisch und ökonomisch nicht mithalten können. Die entstandene geoökonomische Fragmentierung gefährdet die multilaterale Zusammenarbeit zur Bereitstellung globaler öffentlicher Güter, also etwa den Kampf gegen den Klimawandel, den Schutz der Ozeane und eine stabile weltweite Sicherheitsordnung.
Krisen und Umbrüche
Corona war ein exogener Schock mit globalen Auswirkungen. Die globalen Lieferketten wurden unterbrochen und die globale Arbeitsteilung erwies sich als fragil. Dies wurde noch deutlicher mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, der die globale Lage grundlegend verändert hat. Die Folgen wurden nicht nur sichtbar in der europäischen Nachbarschaft, sondern wirkten auch global. So gerieten zahlreiche Länder, die von Nahrungsmittelimporten aus Russland und der Ukraine abhängig waren, in Versorgungskrisen. Interner Link: Betroffen waren unter anderem zahlreiche Länder auf dem afrikanischen Kontinent, vor allem Ägypten, Algerien und Äthiopien. Der Krieg zog auch Rohstoff- und Energiekrisen nach sich, führte zu Preisexplosionen für Gas und Öl.
Russland versuchte in Reaktion auf die Sanktionen und Abschneidung vom Westen, einerseits die BRICS-Länder auf seine Seite zu ziehen – was teilweise gelang – und zugleich neue Achsen zu schmieden oder zu vertiefen, so etwa mit den autoritären Regimen von Nordkorea, Venezuela und vor allem Iran. Ein besonderes Augenmerk legte Putin auf die Zusammenarbeit mit Indien, das deutlich mehr Energie und Rohstoffe aus Russland bezog. Indien jedoch lässt sich nicht auf eine enge Kooperation ein, sondern verfolgt eine eigene Aufstiegsstrategie und will ebenfalls mit den USA und den europäischen Ländern zusammenzuarbeiten. Durch die wirtschaftliche Verschiebung in Folge des Krieges ist Russland ist nun stärker denn je von China abhängig und ein nachgeordneter Player in der antiwestlichen Allianz – unter der Führung Pekings.
Die multiplen Krisen verdeutlichen, wie sehr die Fundamente der liberalen Nachkriegsordnung der Welt geschwächt worden sind. Doch handelt es sich um eine seit längerem beobachtbare allmähliche Verschiebung der Macht. China und Indien mit dem BRICS-Club nehmen größeren Einfluss. Er geriert sich immer deutlicher als Exponent einer nicht-liberalen Weltordnung, der Unterstützung in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern erfährt, während die Westmächte zögern. In der Abstimmung in den Vereinten Nationen (UN) zur Verletzung der Souveränität der Ukraine durch Russland kam dies deutlich zum Ausdruck. Eine Vielzahl von Ländern stimmte nicht mehr mit dem Westen. Und auch wirtschaftlich versprechen sich immer weniger Länder etwas vom Westen. Doch zugleich kann China die Vereinigten Staaten kaum als Hegemon ablösen, denn China und die BRICS-Plus-Länder verfügen nicht über die erforderliche Bindekraft – dazu fehlen die erforderlichen Ressourcen von hard, soft und smart power. So entsteht eine fragile Ordnung der sich gegenseitig blockierenden drei Kernzentren.
Die Zukunft des liberalen Systems
Angesichts der fragilen Unordnung versuchen die führenden Länder und Blöcke, allen voran die USA, China und die BRICS-Plus-Länder, Japan und Europa, über Nearshoring oder Friendshoring ihre wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Schwachstellen zu verringern. Nearshoring bedeutet die verstärkte Kooperation in geografischer Nähe (zum Beispiel der EU mit Osteuropa oder der USA mit Kanada und Mexiko). Die Politik des Friendshoring verfolgt die Intensivierung der Beziehungen von befreundeten Staaten. Die demokratischen Länder vertiefen ihre Kooperation mit anderen demokratischen Ländern, also etwa der EU mit Australien, Japan und Südkorea. Zugleich intensivieren auch die BRICS-Plus-Länder ihre Verbindungen untereinander, so zum beispielsweise China mit Iran und Saudi-Arabien, oder Indien mit Südafrika.
Um den wirtschaftlichen Protektionismus Chinas einzuhegen und einen Vorsprung gegenüber Europas Transformationsplänen zu erlangen, hat die US-Regierung mit ihrer Industriepolitik und nationalen Sicherheitsstrategien agiert, so mit den Buy American-Bestimmungen des Inflation Reduction Act und dem CHIPS and Science Act, der US-Investitionen in die Halbleiterherstellung in China verbietet. Auf diese Interventionen haben die EU, China und zahlreiche Schwellenländer wiederum mit Gegenmaßnahmen reagiert, um ihre Industrien zu schützen. Solche Maßnahmen verstärken die die Gefahr globaler wirtschaftlicher Abwärtsspiralen. Die verfolgten Strategien vertiefen wirtschaftliche Spaltungen und laufen dem Geist der multilateralen Grundsätze zuwider.
Trotz der globalen Fragmentierung und der Konflikte zwischen den drei Zentren EU, USA und China mit den BRICS könnten sich Möglichkeiten für Entspannung abzeichnen. Die USA und China halten es für nützlicher, die tiefsitzenden Spannungen abzubauen. Das Treffen von Xi Jinping und Joe Biden anlässlich des Gipfels der APEC-Länder (Asia-Pacific Economic Cooperation) im November 2023 in San Francisco verdeutlichte, dass die beiden Präsidenten ein Interesse an wirtschaftlicher Stabilität und der Berechenbarkeit der Beziehungen haben. Während China die Handels- und Investitionsaktivitäten mit den USA ankurbeln will, verfolgt die US-Regierung die Wiederaufnahme der militärischen Kommunikation und Maßnahmen zum Klimawandel. In Arbeit sollen auch Leitplanken beider Regierungen sein, die den Rahmen des Wettstreits und «rote Linien» definieren. Beide Seiten scheinen zu wissen, dass Zusammenarbeit der beiden wichtigsten Länder der Welt unabdingbar ist, um die drängenden globalen Herausforderungen anzugehen und auch um eine Wirtschaftsordnung der gleichberechtigten Beziehungen zu ringen, als sich gegenseitig in eine Spirale von Aufrüstung, Handelskriegen und regionalen Kriegen zu begeben.
Von den drei Machtzentren hängt im Wesentlichen ab, ob weitere Verwerfungen drohen oder ob die gravierenden Probleme der Weltgesellschaft gemeinsam bewältigt werden: die Schaffung einer stabilen globalen Sicherheitsordnung und eines inklusiven Weltwirtschaftssystems sowie der Kampf gegen die Klima-, Armuts- und Beschäftigungskrisen.
Das liberale Modell des Westens steht unter Strom und ist herausgefordert, intern ein auf Inklusion ausgerichtetes Gesellschaftsmodell zu verfolgen und extern die Idee einer regelbasierten Ordnung nicht aufzugeben. Dafür bedarf es allerdings einer neuen Strategie. Die Zukunft des liberalen Systems hängt davon ab, ob es gelingt, drei wesentliche Fragen zu beantworten:
Erstens: Kann der Westen eine fortschrittliche politische Ausrichtung verfolgen und Abschied vom neoliberalen Modell nehmen, das die globale Ungleichheit hervorgebracht hat? Es geht um einen globalen new deal der inklusiv ist und den sozialen Schutz und ökologische Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellt.
Zweitens: Kann der liberale Westen mit seinen Verbündeten die liberale Weltordnung reformieren, damit sie wieder mehr Anziehungskraft entwickeln kann, Ungleichheiten beseitigt und ein verlässliches multilaterales System von gleichberechtigten Staaten entwickelt? Falls dies dem Westen gelingt, könnte die drohende Dominanz des autokratischen Modells unter der Führung des BRICS-Clubs abgewendet werden. Falls nicht, verliert der Westen einen Teil seiner internationalen Gestaltungsmacht.
Drittens: Kann der Westen auf die Länder des globalen Südens zugehen, um mit ihnen gemeinsam die Grundpfeiler für eine neue Weltordnung mit gleichberechtigter Repräsentation zu erarbeiten? Um dies zu erreichen, ist die Handlungsfähigkeit des Westens ebenso gefordert wie die des globalen Südens, um die Fragmentierung der Weltgesellschaft zu reduzieren.
Wenn es dem Westen gelingt, seine Attraktivität und Ausstrahlung zu erneuern und durch die gerade skizzierten Maßnahmen auszuweiten und Kooperationspartner für eine liberale Moderne und eine regelbasierte Weltordnung gewinnen, kann es auch möglich sein, auf neuer Basis mit den Ländern des globalen Südens zusammenzuarbeiten. Voraussetzung dafür ist ein eine westliche Strategie der zivilen Weltgesellschaft. Die gegenwärtige Krise zeigt, wie notwendig es nicht nur ist, die sich globalisierende Ökonomie mit zivilisierenden Regeln einzuhegen und zu mehr Inklusivität beizutragen, sondern auch die Macht autoritärer Staaten einzuhegen und auf demokratisch legitimierbare Ziele einer Weltgesellschaft hin zu kanalisieren. Transnational agierende Netzwerke können Mitgestalter einer zivilen wirtschaftlichen und politischen Weltordnung werden.