Um große Worte waren Europas Mächtige auch diesmal nicht verlegen. So bekräftigte Deutschlands Kanzler Olaf Scholz die – in den letzten Monaten oft getätigte – Forderung nach einem „Marshallplan fürs 21. Jahrhundert“, während Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, von der „Pflicht“ sprach, dafür zu sorgen, dass jene Zukunft Wirklichkeit würde, die die Ukrainer:innen sich wünschten: „Stein für Stein, Haus für Haus, Schule für Schule.“
Geäußert wurden die Voten im Rahmen der zweiten Ukraine Recovery Conference, die nach der der ersten Konferenz im schweizerischen Lugano im Juni 2023 in London stattfand. Es mag paradox anmuten, mitten im Krieg bereits über den Wiederaufbau des Landes zu debattieren; doch schon längst steht eine Vielzahl an Akteur:innen in den Startlöchern – von Investor:innen über internationale Großkonzerne bis zu Staaten und multilateralen Institutionen, alle mit ihrer jeweils eigenen Vision für die Nachkriegsukraine.
Dabei zeichnen sich zwei Grundrichtungen ab: Soll die Entwicklung, die in anderen Staaten der sogenannten postsowjetischen Welt schon längst abgeschlossen ist, nun auch in der Ukraine nachvollzogen und das Land ein neoliberales Vorzeigeland werden? Oder sind soziale und ökologisch nachhaltige Alternativen denkbar, die die kriegsgebeutelte Bevölkerung und deren Bedürfnisse ins Zentrum der Überlegungen stellen?
Ein Traum fürs Kapital?
Der Plan, der dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij vorschwebt, lässt sich auf eine prägnante Formel bringen: Build Back Better.
Flexiblere Arbeitsverträge,
neue Arbeitsgesetze und
großflächige Privatisierungen.
Eine Richtung, die Kyjiw übrigens schon vor Jahren eingeschlagen hatte, als sie neue Bestimmungen für den Arbeitsmarkt ankündigte, die inzwischen im Gesetz verankert sind und unter anderem die Erhöhung der maximalen Arbeitszeit und die Lockerung des Kündigungsschutzes beinhalten.
Dass die Vertreter:innen des Kapitals nur auf ihre Chance warten, ließ sich an den beiden Wiederaufbaukonferenzen in Lugano und London gut beobachten. Bei den vielzähligen Events rund um die Treffen, den großen Panels mit prominenter internationaler Besetzung, waren vom Agrarkonzern Syngenta über globale Techkonzerne und Rohstoffhändler wie Trafigura bis zu Beratungsfirmen wie PWC und McKinsey alle vor Ort, um ihre Begehrlichkeiten vorzubringen.
Der britische Historiker Timothy Garton Ash zeigte sich im Vorfeld der Konferenz in London denn auch besorgt über die „große Zahl von Denkfabriken und Beratern, die sich als Experten für die Ukraine oder den Wiederaufbau (oder beides) ausgeben, aber kaum über historische Erfahrung zu verfügen scheinen“.
Investitionen statt Deregulierung
Entscheidend werden private Akteur:innen sein, wenn es um die Finanzierung des Wiederaufbaus geht. Denn viele der seit der russischen Invasion im Februar 2022 zugesprochenen staatlichen Gelder sind Kredite und müssen entsprechend zurückgezahlt werden. Wie realistisch das ist, bleibt fraglich, betrugen die Auslandsschulden der Ukraine im März 2022 doch schon über achtzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal hat in Lugano wie London verschiedene Finanzierungsquellen für den Wiederaufbau ausgemacht: Neben eingefrorenen und beschlagnahmten russischen Geldern und Zahlungen internationaler Geldgeber:innen sind auch Beiträge aus dem Staatshaushalt der Ukraine vorgesehen. Doch wie die Soziologin Oleksandra Kochan kürzlich bemerkte, wäre ein demokratisch-transparentes Verfahren unter Miteinbezug der gesamten Bevölkerung und der Gemeinden über die Verwendung der Gelder wünschenswert. „Nachhaltige Finanzierung ist ein wichtiger Faktor für einen sozial orientierten Wiederaufbau“,
Klar ist: Es geht nicht nur um die Verteidigung eines demokratisch verfassten Staates gegen ein autoritäres, nationalistisches Regime. Innerhalb des Landes geht es vielmehr auch darum, welche Kräfte sich durchsetzen: die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen oder eine Regierung, die in der Ukraine das perfekte neoliberale Labor sieht.