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Ökonomische Perspektiven des EU-Beitritts der Ukraine | Europäische Wirtschaftspolitik | bpb.de

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Ökonomische Perspektiven des EU-Beitritts der Ukraine

Markus Becker

/ 9 Minuten zu lesen

Der EU-Beitritt der relativ armen Ukraine hätte massive Umverteilungen sowohl in der Kohäsionspolitik als auch bei den Agrarsubventionen zur Folge. Selbst ein Beitritt 2030 gilt als ambitioniert.

Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz am 21. November 2023 in Kiew warnt EU-Ratspräsident Charles Michel vor "schwierigen" Beitrittsverhandlungen mit den EU-Staaten. Er selbst werde jedoch daran arbeiten, dass die Ukraine der EU beitreten kann. (© picture-alliance, Reuters | Valentyn Ogirenko)

Gut eineinhalb Stunden hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hinter verschlossenen Türen mit den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union gesprochen. Bei der anschließenden Pressekonferenz mit EU-Ratspräsident Charles Michel wurde Selenskyj für einen kurzen Moment wieder zu dem Comedian, der er einmal war. Den Beginn der offiziellen Beitrittsverhandlungen wünsche er sich noch für dieses Jahr, sagte Selenskyj. „Dieses Jahr, Charles. Wenn ich dieses Jahr sage, meine ich – dieses Jahr. Also Zwei-Null-Dreiundzwanzig.“ Die anwesenden Journalisten lachten, Michel schien amüsiert – antwortete aber ausweichend. Der Europäische Rat müsse einstimmig über die Mitgliedschaft entscheiden, sagte Michel. »Wir werden unser Bestes tun.“

Die Szene, die sich nach dem Sondergipfel der EU mit der Ukraine am 9. Februar 2023 abspielte, steht beispielhaft für die Spannung zwischen den Wünschen der Ukraine auf der einen und den Realitäten in der EU auf der anderen Seite. Die ukrainische Regierung will angesichts des russischen Angriffskriegs die schnellstmögliche Aufnahme in EU und NATO. Die westlichen Bündnisse agieren jedoch zurückhaltend, denn sie stecken in einem Dilemma: Eine zügige Aufnahme der Ukraine könnte ein großer strategischer und politischer Gewinn sein. Doch die Erfüllung der dafür notwendigen Voraussetzungen – vor allem strukturelle Reformen in der Ukraine und der EU sowie ein Ende des Kriegszustands mit Russland – könnten viele Jahre in Anspruch nehmen. Eine vorschnelle Aufnahme der Ukraine drohte der EU und der NATO dagegen mehr zu schaden als zu nützen.

Den von Selenskyj vehement eingeforderten Zeitplan für einen NATO-Beitritt gab es bis November 2023 nicht. Die EU hat der Ukraine zwar am 23. Juni 2022 den Status eines Bewerberlands zuerkannt – nicht einmal vier Monate, nachdem Kiew den Aufnahmeantrag gestellt hatte. Das aber war vor allem ein symbolischer Schritt, der für die EU mit keinerlei Verpflichtungen einhergeht.

Die Angst, in den Krieg gegen Russland hineingezogen zu werden, spielt vor allem für die Zurückhaltung der NATO eine Rolle, auch wenn der EU-Vertrag von Lissabon eine ähnliche militärische Beistandsklausel enthält wie Artikel 5 des Washingtoner NATO-Vertrags. Für die EU haben andere Erwägungen größeres Gewicht – vor allem die Frage, ob die Ukraine die rechtlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen Beitritt erfüllen kann, und ob die EU institutionell überhaupt in der Lage ist, neue Mitglieder zu integrieren.

Hohe Hürden für EU-Beitritt

Um EU-Mitglied zu werden, muss ein Staat die 1993 formulierten Kopenhagener Kriterien erfüllen:

  • Das politische Kriterium: institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten;

  • das wirtschaftliche Kriterium: eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck im EU-Binnenmarkt standzuhalten;

  • das „Acquis-Kriterium“: die Fähigkeit, die aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen und Ziele zu erfüllen.

Allein Letzteres ist eine enorm anspruchsvolle und komplexe Aufgabe, denn sie bedeutet, dass der Beitrittskandidat alle europarechtlichen Vorschriften übernehmen muss.

Der Besitzstand der EU, besser bekannt als Acquis communautaire, schließt nicht nur das Primärrecht ein, also den EU-Vertrag von Lissabon und den dazugehörigen Vertrag über die Arbeitsweise der EU. Ein Beitrittskandidat muss auch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, die Entschließungen der EU-Organe sowie völkerrechtliche Verträge und Abkommen der EU mit anderen Staaten und Organisationen erfüllen können. Das kann Jahre oder gar Jahrzehnte in Anspruch nehmen, wie frühere Beitrittsverhandlungen gezeigt haben.

Schon deshalb werden Aussagen wie die des ukrainischen Premierministers Denis Schmyhal vom Februar 2023, die Ukraine könne binnen zwei Jahren bereit für den EU-Beitritt sein, in Brüssel als illusorisch betrachtet. Selbst ein Beitritt im Jahr 2030, wie ihn Ratspräsident Charles Michel im August 2023 öffentlich angeregt hat, gilt als äußerst ambitioniert.

Zudem betonte Michel in seiner Rede beim Strategischen Forum im slowenischen Bled, dass die Erweiterung ein „leistungsabhängiges Verfahren“ („merit-based process“) sei und bleiben werde. Das setze nicht nur eine unabhängige Justiz voraus, sondern auch die erfolgreiche Bekämpfung von Korruption und organisiertem Verbrechen sowie die Erfüllung des Acquis.

Ähnlich äußerte sich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zwei Wochen später in ihrer Rede zur Lage der Union. „Ein Beitritt beruht auf Leistung“, sagte von der Leyen. „Und die Kommission wird diesen Grundsatz stets verteidigen.“

Sie kündigte zugleich an, die jährlichen Rechtsstaatlichkeits-Berichte der Kommission künftig für die Beitrittskandidaten zu öffnen, um deren Reformbemühungen zu unterstützen. Das bedeutet allerdings auch, dass an die Kandidaten die gleichen Maßstäbe angelegt werden wie an die Mitglieder der EU.

Für die Ukraine wäre das problematisch. Transparency National hat der Ukraine zuletzt zwar Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung attestiert, führt sie im aktuellen Korruptionswahrnehmungsindex aber nur auf Rang 116. Im europäischen Vergleich liegt nur noch Russland dahinter. Auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) bescheinigte der Ukraine in einer im Juni 2022 veröffentlichten Untersuchung „großen Aufholbedarf“ bei der wirtschaftlichen Transformation und der Bekämpfung der Korruption.

Bedenken gibt es auch in der Berliner Politik. Sie fasste Anton Hofreiter, Vorsitzender des Europaausschusses im Bundestag, Anfang Februar im ARD-"Morgenmagazin" zusammen. Es sei „kaum vorstellbar, ein Land aufzunehmen, in dem Krieg ist“, sagte der Grünen-Politiker. Die Ukraine müsse gewisse Voraussetzungen erfüllen, zum Beispiel im Umgang mit Korruption oder in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit. „Man will ja auch auf gar keinen Fall erleben, dass weitere Beitrittskandidaten sich so entwickeln, wie Ungarn sich entwickelt hat, wo die Rechtsstaatlichkeit und die Meinungsfreiheit zerstört worden ist“, sagte Hofreiter.

Wirtschaftliches Ungleichgewicht

Zweifel existieren auch an der Fähigkeit der Ukraine, die wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen EU-Beitritt zu erfüllen. Schon vor dem Krieg wäre die Ukraine kaum in der Lage gewesen, dem Wettbewerbsdruck im EU-Binnenmarkt standzuhalten, so wie es die Kopenhagener Kriterien erfordern. 2021 war die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung im wirtschaftsschwächsten EU-Mitglied Bulgarien mehr als doppelt so groß und in Deutschland mehr als zehnmal so groß wie in der Ukraine. Der Krieg hat die wirtschaftliche Lage der Ukraine noch einmal drastisch verschlechtert.

Zwar könnte die EU bei einem Beitritt der Ukraine ähnliche Bremsen einbauen wie bei den letzten Beitrittsrunden, als beispielsweise die Arbeitnehmer-Freizügigkeit für die Neumitglieder vorübergehend ausgesetzt war. Doch der Beitritt eines so wirtschaftsschwachen Landes, das 2023 zugleich über fast 37 Millionen Einwohner verfügt (vor Kriegsbeginn hatten noch fast 40 Millionen Menschen in der Ukraine gelebt) und flächenmäßig das größte EU-Land noch vor Frankreich (ohne Überseegebiete) wäre, hätte tiefgreifende Folgen für die Finanzstruktur der EU.

Allein die Kohäsionspolitik, die Unterschiede zwischen ärmeren und reicheren Ländern ausgleichen soll, und die Gemeinsame Agrarpolitik, deren Zahlungen sich vor allem nach der Größe der bewirtschafteten Flächen richten, machen zusammen fast zwei Drittel des Sieben-Jahres-Finanzrahmens der EU aus. Nach jüngsten Berechnungen des Centre for European Policy Studies (CEPS) würde die Ukraine, wäre sie heute Mitglied der EU, netto 18 bis 19 Milliarden Euro pro Jahr aus dem EU-Haushalt erhalten. Zum Vergleich: Polen, derzeit der in absoluten Zahlen größte Nettoempfänger, bekam 2022 netto knapp 12 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt, danach folgten mit weitem Abstand Rumänien (5,6 Mrd.) und Ungarn (4,4 Mrd.).

Zwar kommt Michael Emerson, Autor des CEPS-Papiers, zu dem Schluss, dass ein Beitritt der Ukraine – obwohl mit vielen Unsicherheiten behaftet – für die EU finanziell „verkraftbar“ wäre. Diese Betrachtung konzentriert sich allerdings vor allem auf die Haushaltszahlen und weniger auf politische Faktoren. Wohin Letztere führen können, wurde etwa erkennbar daran, dass Polen, Ungarn und die Slowakei Mitte September 2023 eigene Importbeschränkungen für ukrainisches Getreide einführten – vermutlich illegal, weil die EU-Kommission diese Beschränkungen zuvor aufgehoben hatte. Vor allem in Polen dürfte das daran gelegen haben, dass dort am 15. Oktober Parlamentswahlen stattfanden – und dass Landwirte eine wichtige Wählerklientel der regierenden Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) darstellen.

Getrübte Perspektive für raschen EU-Beitritt

Bedeutende Hürden für einen Beitritt der Ukraine gibt es auch in den EU-Institutionen. Zwar gilt seit dem Vertrag von Lissabon von 2009, dass der Ministerrat – das zentrale Entscheidungsorgan der EU – mit qualifizierter Mehrheit entscheiden kann. Sie ist erreicht bei einer Zustimmung von 55 Prozent der Mitgliedsländer mit zusammen 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung. Doch auf zentralen Politikfeldern wie der Außen-, der Sicherheits- und der Finanzpolitik herrscht nach wie vor der Zwang zur Einstimmigkeit.

Dies führt dazu, dass die EU wichtige Entscheidungen entweder gar nicht treffen kann oder nur zu Minimalkompromissen in der Lage ist. Sollte die EU aber die Ukraine aufnehmen, müsste sie dies wahrscheinlich auch mit den Beitrittskandidaten des Westbalkans tun, denen der Beitritt schon vor 20 Jahren in Aussicht gestellt wurde. Zusammen mit der Ukraine, Albanien, Bosnien und Herzegowina, Moldau, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien hätte die EU dann 34 Mitglieder – und jedes davon hätte auf zentralen Politikfeldern ein Vetorecht.

Dann, so die in Brüssel verbreitete Befürchtung, drohte der EU die Handlungsunfähigkeit, sollte sie sich vorher nicht reformieren. Das aber gilt als schwierig bis unmöglich. Denn über die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips müssten die Mitgliedsländer ebenfalls einstimmig entscheiden. Dass aber jedes Land freiwillig bereit wäre, sein Vetorecht abzugeben, gilt als wenig wahrscheinlich.

Ein solches Vetorecht existiert im Übrigen auch, wenn es um die Aufnahme neuer Mitglieder geht. Schon der Beschluss über den Beginn der Beitrittsverhandlungen muss einstimmig fallen. Damit könnten russlandfreundliche und Ukraine-kritische EU-Länder, allen voran Ungarn, einen Beitritt der Ukraine frühzeitig ausbremsen. Dass Ungarns Regierungschef Viktor Orbán bereit ist, dieses Instrument einzusetzen, hat sich zuletzt in der Frage des NATO-Beitritts Schwedens und Finnlands gezeigt. Den Beitritt Finnlands hat Ungarn lange hinausgezögert, den von Schweden blockiert es im November 2023 noch immer.

Einstweilen aber wäre das nicht einmal notwendig: Solange Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine läuft, gilt ein Beitritt der Ukraine als ausgeschlossen. Unklar ist nicht nur, wann der Krieg endet – sondern auch, wann die EU ihn als beendet ansieht. Wenn ein Friedensvertrag zwischen Kiew und Moskau unterzeichnet ist? Wenn die Ukraine alle besetzten Gebiete zurückerobert hat? Oder genügt es schon, wenn die Waffen eine Zeit lang geschwiegen haben?

Politiker und Diplomaten in der EU wollen auf solche Fragen meist nicht einmal hinter vorgehaltener Hand antworten. Gerne verweisen sie auch darauf, dass nur die Ukraine bestimmen dürfe, wann ihre Kriegsziele erreicht sind.

EU-Ratspräsident Charles Michel hat in seiner Rede in Bled immerhin versucht, tröstende Worte für die Beitrittskandidaten zu finden. Die Beilegung von Konflikten sei zwar für einen EU-Beitritt zwingend notwendig, und sie könne „schmerzvoller sein als Reformen“, sagte Michel. „Aber Ihr befindet Euch auf demselben Weg wie die Gründungsmitglieder unserer Union.“

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Markus Becker war seit August 2002 Politikredakteur bei "Spiegel Online", seit September 2003 Ressortleiter Wissenschaft. Seit Juli 2015 war er Korrespondent in der Redaktionsvertretung Brüssel, seit April 2021 leitet er das Brüsseler Büro des "Spiegel".