Der Ukrainekrieg legte im Jahr 2022 eine Herausforderung offen, die seit langem diskutiert wird: Die bundesdeutsche und europäische Abhängigkeit von russischen Energieimporten. Wie vielen erst jetzt bewusst wurde, hatte Deutschland sich zum größten Abnehmer russischen Erdgases entwickelt. Gut die Hälfte aller Gasimporte stammte bei Kriegsbeginn aus dem autoritär regierten Land. Aber auch EU-weit kamen in den 2010er Jahren rund 40 Prozent der Gas-Importe aus Russland, zudem rund 30 Prozent der Ölimporte und über ein Drittel der Kohleeinfuhren.
Die heutige Situation entstand einerseits aus der sowjetischen Energieversorgung für die sozialistischen Staaten, von denen auch die DDR profitierte. Die sozialistischen Verbündeten in Ostmitteleuropa erhielten lange Öl und Gas unter Weltmarktpreisen.
Die sowjetischen Lieferungen nach Westeuropa gingen der Ostpolitik der 1970er Jahre voraus und ebneten ihr den Weg. Zunächst bezogen vornehmlich neutrale Nachbarstaaten wie Finnland und Schweden russische Ölexporte, dann ab Ende der 1950er Jahre besonders Italien. Da der Sowjetunion das Know-how für den Pipelinebau aus Sibirien fehlte, lieferten ab 1958 vor allem italienische und westdeutsche Unternehmen wie Mannesmann, Ferrostahl, Hoesch und Phoenix-Rheinrohr Großröhren. Diese sollten zunächst die sozialistischen Bruderstaaten mit Energie versorgten, später dann auch Westeuropa. Politische Bedenken gab es in der Bundesrepublik kaum, wohl aber bei der US-Regierung, die 1961 ein Embargo für Großröhren durchsetzte. Allerdings führte Italien derartige Geschäfte fort und erhielt bereits in den 1960er Jahren Öl per Pipeline, ebenso Österreich.
Die Entspannungspolitik und insbesondere die bundesdeutsche Ostpolitik förderten ab Ende der 1960er Jahre diese Energiebeziehungen. Das Gas aus dem Osten galt als boomender Energieträger der Zukunft. Gas erschien umweltfreundlicher, günstiger und länger vorhanden als die weltweiten Ölvorräte. Die wachsende Bedeutung von Menschenrechten bremste die Kooperationen im Energiesektor nicht. Bereits 1970 wurde das erste bundesdeutsche Erdgas-Röhren-Geschäft beschlossen, weitere Verträge folgten. Die "Pipeline-Diplomatie" sollte eine langfristige Zusammenarbeit fördern - und schuf gleichzeitig wechselseitige Abhängigkeiten. Norwegen und Großbritannien bauten hingegen eine eigene Öl- und Gasförderung aus, deren Export in die Bundesrepublik ebenfalls anstieg.
Loslösung von der Abhängigkeit arabischer Lieferungen
Neben der sozialliberalen Bundesregierung setzten insbesondere Österreich und Italien auf einen pragmatischen Energiehandel mit Moskau, um nach den Ölkrisen der Jahre 1973 und 1979 die Abhängigkeit von arabischen Lieferungen zu mindern. Der nun etablierte Begriff der Energiesicherheit umschrieb das Ziel langfristig stabiler Lieferungen und wettbewerblicher Preise, was durch eine Diversifizierung der Importländer erreicht werden sollte. Tatsächlich entstand durch diese Abkehr von den ölfördernden OPEC-Staaten langfristig jedoch eine neue Abhängigkeit.
Die ansteigenden Gaslieferungen überdauerten schwere Krisen wie den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 und das Ende 1981 in Polen verhängte Kriegsrecht. Die US-Regierung kritisierte erneut den Ausbau des deutsch-sowjetischen Gashandels. Sie verlangte Sanktionen gegen Moskau und eine Abkehr von dieser Abhängigkeit, was die Bundesregierung ablehnte. "Wer Handel miteinander treibt, schießt nicht aufeinander", argumentierte Helmut Schmidt. Die Sowjetunion erschien angesichts der vielfältigen Umbrüche als verlässlicher Partner. So sorgte die iranische Revolution 1979 für Ausfälle bei Deutschlands größtem Ölimporteur, wofür das von Muammar al-Gaddafi beherrschte Libyen einsprang.
Gleichzeitig profitierte die Bundesrepublik von den Erdgas-Röhren-Geschäften, die ihre Stahlindustrie belebten. Leidtragende waren dafür zunehmend die Staaten, durch die die Pipelines führten. Schon 1973 gelang die pünktliche Lieferung nach Westeuropa nur, weil Gasreserven aus der Ukraine und Belarus statt aus Sibirien flossen – die beiden damaligen Sowjetrepubliken mussten Verknappungen hinnehmen. Um mehr westliche Devisen einzunehmen, erhöhte die Sowjetunion die Energiepreise für die sozialistischen Bruderstaaten und verknappte sogar vereinbarte Liefermengen. Selbst für die vergleichsweise reiche DDR hatte dies weitreichende Folgen: Sie musste wieder mehr Braunkohle abbauen, was die Umwelt stärker verschmutzte, und die Wirtschafts- und Finanzlage verschlechterte sich. Damit destabilisierte die sowjetische Energiedrosselung sozialistische Bruderstaaten wie die DDR. Die Lebensdauer der Sowjetunion wurde durch ihre Gas- und Ölverkäufe zunächst verlängert, aber der Einbruch der Ölpreise ab 1985 brachte sie zunehmend in ökonomische Bedrängnis.
Deutsche Einheit verfestigte Energiehandel
"Wandel durch Annäherung" war die Devise der sozialliberalen Ostpolitik, die auch der christdemokratische Kanzler Helmut Kohl ab 1982 fortsetzte. Die sowjetischen Gasanteile stiegen auf rund 40 Prozent an. Mit dem Niedergang des Sozialismus schien diese Strategie durchaus erfolgreich. Die deutsche Einheit verfestigte den Energiehandel, da die russischen Lieferungen an Ostdeutschland Teil der gesamtdeutschen Energieversorgung wurden. Auch die anderen postsozialistischen Staaten hielten an Russlands Energieversorgung fest. Parallel galt Gas zunehmend als wachsender Energieträger der Zukunft, während Kohle, Öl und auch Atomkraft in vielen Staaten ökonomisch und ökologisch als problematisch erschienen.
Das einwohnerstarke Deutschland entwickelte sich in absoluten Mengen zum größten Abnehmer russischen Gases, knapp vor der Ukraine. Besonders Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (beide SPD) traten in den 2000er Jahren für einen "Wandel durch Handel", eine "neue Ostpolitik" und einen "Wandel durch Verflechtung" ein. Ihre bilateralen Verhandlungen verliefen im Rahmen der EU-Beziehungen zu Russland, die einen gemeinsamen Energiemarkt anstrebten.