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Wie Europa von russischer Energie abhängig wurde

Frank Bösch

/ 8 Minuten zu lesen

Die Pipeline-Diplomatie sollte einst die langfristige Zusammenarbeit zwischen Westeuropa und der Sowjetunion fördern. Gleichzeitig schuf sie wechselseitige Abhängigkeiten. Wie diese entstanden, analysiert der Potsdamer Historiker Frank Bösch.

Propagandabild der symbolischen Fertigstellung eines der letzten Teilstücke von Urengoj (RUS) nach Uzhgorod (UA) im sowjetischen Abschnitt der eurosibirischen Erdgaspipeline. Im Juli 1983 nahm die Pipeline ihren Betrieb auf. Auf der Erdgasröhre ist zu lesen: "Urengoj - Uschgorod. Vorzeitig fertiggestellt!" (© picture-alliance/dpa, TASS)

Der Ukrainekrieg legte im Jahr 2022 eine Herausforderung offen, die seit langem diskutiert wird: Die bundesdeutsche und europäische Abhängigkeit von russischen Energieimporten. Wie vielen erst jetzt bewusst wurde, hatte Deutschland sich zum größten Abnehmer russischen Erdgases entwickelt. Gut die Hälfte aller Gasimporte stammte bei Kriegsbeginn aus dem autoritär regierten Land. Aber auch EU-weit kamen in den 2010er Jahren rund 40 Prozent der Gas-Importe aus Russland, zudem rund 30 Prozent der Ölimporte und über ein Drittel der Kohleeinfuhren. Diese Abhängigkeit lässt sich nicht allein mit den Gazprom-Geschäften von Ex-Kanzler Gerhard Schröder und seiner Männerfreundschaft mit Russlands Präsident Wladimir Putin erklären. Vielmehr entwickelte sie sich seit über 70 Jahren und wurde durch den Kalten Krieg geprägt.

Die heutige Situation entstand einerseits aus der sowjetischen Energieversorgung für die sozialistischen Staaten, von denen auch die DDR profitierte. Die sozialistischen Verbündeten in Ostmitteleuropa erhielten lange Öl und Gas unter Weltmarktpreisen. Die dafür 1964 fertiggestellte Öl-Pipeline "Druschba" hieß zwar übersetzt "Freundschaft", war aber von Beginn an zugleich ein Machtinstrument Moskaus, das den Zusammenbruch der Sowjetunion überdauerte. Ihr Südstrang reichte über die Ukraine bis nach Ungarn und ins heutige Tschechien, ihr Nordstrang über Polen bis in die DDR. Ihre Rohre führten zu den gewaltigen petrochemischen Anlagen zum Beispiel im ostdeutschen Schwedt. Bis heute prägt dieses Liefersystem die Energiewirtschaft Europas.

Die sowjetischen Lieferungen nach Westeuropa gingen der Ostpolitik der 1970er Jahre voraus und ebneten ihr den Weg. Zunächst bezogen vornehmlich neutrale Nachbarstaaten wie Finnland und Schweden russische Ölexporte, dann ab Ende der 1950er Jahre besonders Italien. Da der Sowjetunion das Know-how für den Pipelinebau aus Sibirien fehlte, lieferten ab 1958 vor allem italienische und westdeutsche Unternehmen wie Mannesmann, Ferrostahl, Hoesch und Phoenix-Rheinrohr Großröhren. Diese sollten zunächst die sozialistischen Bruderstaaten mit Energie versorgten, später dann auch Westeuropa. Politische Bedenken gab es in der Bundesrepublik kaum, wohl aber bei der US-Regierung, die 1961 ein Embargo für Großröhren durchsetzte. Allerdings führte Italien derartige Geschäfte fort und erhielt bereits in den 1960er Jahren Öl per Pipeline, ebenso Österreich. Bereits diese frühen Konflikte zeigen, dass die Pipelines als außenpolitisches Sicherheitsproblem galten, bei dem sich die besorgten USA aber nur begrenzt in Westeuropa durchsetzen konnten.

Die Entspannungspolitik und insbesondere die bundesdeutsche Ostpolitik förderten ab Ende der 1960er Jahre diese Energiebeziehungen. Das Gas aus dem Osten galt als boomender Energieträger der Zukunft. Gas erschien umweltfreundlicher, günstiger und länger vorhanden als die weltweiten Ölvorräte. Die wachsende Bedeutung von Menschenrechten bremste die Kooperationen im Energiesektor nicht. Bereits 1970 wurde das erste bundesdeutsche Erdgas-Röhren-Geschäft beschlossen, weitere Verträge folgten. Die "Pipeline-Diplomatie" sollte eine langfristige Zusammenarbeit fördern - und schuf gleichzeitig wechselseitige Abhängigkeiten. Norwegen und Großbritannien bauten hingegen eine eigene Öl- und Gasförderung aus, deren Export in die Bundesrepublik ebenfalls anstieg.

Loslösung von der Abhängigkeit arabischer Lieferungen


Neben der sozialliberalen Bundesregierung setzten insbesondere Österreich und Italien auf einen pragmatischen Energiehandel mit Moskau, um nach den Ölkrisen der Jahre 1973 und 1979 die Abhängigkeit von arabischen Lieferungen zu mindern. Der nun etablierte Begriff der Energiesicherheit umschrieb das Ziel langfristig stabiler Lieferungen und wettbewerblicher Preise, was durch eine Diversifizierung der Importländer erreicht werden sollte. Tatsächlich entstand durch diese Abkehr von den ölfördernden OPEC-Staaten langfristig jedoch eine neue Abhängigkeit.

Die ansteigenden Gaslieferungen überdauerten schwere Krisen wie den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 und das Ende 1981 in Polen verhängte Kriegsrecht. Die US-Regierung kritisierte erneut den Ausbau des deutsch-sowjetischen Gashandels. Sie verlangte Sanktionen gegen Moskau und eine Abkehr von dieser Abhängigkeit, was die Bundesregierung ablehnte. "Wer Handel miteinander treibt, schießt nicht aufeinander", argumentierte Helmut Schmidt. Die Sowjetunion erschien angesichts der vielfältigen Umbrüche als verlässlicher Partner. So sorgte die iranische Revolution 1979 für Ausfälle bei Deutschlands größtem Ölimporteur, wofür das von Muammar al-Gaddafi beherrschte Libyen einsprang. Im Vergleich zu solchen Staaten galten die sowjetischen Lieferungen als verlässlich und kalkulierbar.

Gleichzeitig profitierte die Bundesrepublik von den Erdgas-Röhren-Geschäften, die ihre Stahlindustrie belebten. Leidtragende waren dafür zunehmend die Staaten, durch die die Pipelines führten. Schon 1973 gelang die pünktliche Lieferung nach Westeuropa nur, weil Gasreserven aus der Ukraine und Belarus statt aus Sibirien flossen – die beiden damaligen Sowjetrepubliken mussten Verknappungen hinnehmen. Um mehr westliche Devisen einzunehmen, erhöhte die Sowjetunion die Energiepreise für die sozialistischen Bruderstaaten und verknappte sogar vereinbarte Liefermengen. Selbst für die vergleichsweise reiche DDR hatte dies weitreichende Folgen: Sie musste wieder mehr Braunkohle abbauen, was die Umwelt stärker verschmutzte, und die Wirtschafts- und Finanzlage verschlechterte sich. Damit destabilisierte die sowjetische Energiedrosselung sozialistische Bruderstaaten wie die DDR. Die Lebensdauer der Sowjetunion wurde durch ihre Gas- und Ölverkäufe zunächst verlängert, aber der Einbruch der Ölpreise ab 1985 brachte sie zunehmend in ökonomische Bedrängnis.

Deutsche Einheit verfestigte Energiehandel


"Wandel durch Annäherung" war die Devise der sozialliberalen Ostpolitik, die auch der christdemokratische Kanzler Helmut Kohl ab 1982 fortsetzte. Die sowjetischen Gasanteile stiegen auf rund 40 Prozent an. Mit dem Niedergang des Sozialismus schien diese Strategie durchaus erfolgreich. Die deutsche Einheit verfestigte den Energiehandel, da die russischen Lieferungen an Ostdeutschland Teil der gesamtdeutschen Energieversorgung wurden. Auch die anderen postsozialistischen Staaten hielten an Russlands Energieversorgung fest. Parallel galt Gas zunehmend als wachsender Energieträger der Zukunft, während Kohle, Öl und auch Atomkraft in vielen Staaten ökonomisch und ökologisch als problematisch erschienen.

Das einwohnerstarke Deutschland entwickelte sich in absoluten Mengen zum größten Abnehmer russischen Gases, knapp vor der Ukraine. Besonders Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (beide SPD) traten in den 2000er Jahren für einen "Wandel durch Handel", eine "neue Ostpolitik" und einen "Wandel durch Verflechtung" ein. Ihre bilateralen Verhandlungen verliefen im Rahmen der EU-Beziehungen zu Russland, die einen gemeinsamen Energiemarkt anstrebten.

Rund 90 Prozent der russischen Gasexporte strömten nun nach Europa. Seit der EU-Osterweiterung bezogen die 27 Staaten rund 40 Prozent ihres Gases aus Russland. Besonders groß war weiterhin die Abhängigkeit ehemals sozialistischer Staaten wie der Ukraine, Ungarn, der Slowakei oder des Baltikums. Polen und Rumänien konnten hingegen weiterhin stärker auf andere und eigene Energieträger zurückgreifen, so dass hier der Gasanteil am Gesamtenergieverbrauch niedriger war.

Energiehandel förderte nicht die Demokratie


Tatsächlich förderte der Energiehandel nicht die Demokratie. Sowohl in Russland als auch in vielen arabischen und afrikanischen Staaten hatte er eher gegenteilige Effekte. Die Einnahmen aus Öl und Gas trugen dazu bei, demokratische Reformen abzublocken und die soziale und ökonomische Kontrolle der Staatsführung zu stärken. Auch in der Sowjetunion sorgten bereits in den 1990ern die Rohstoffexporte für hohe Einnahmen, die staatliche Machtmonopole sicherten und loyale Eliten mit gut dotierten Posten integrierten. Da der Staat die Infrastruktur für den Energiemarkt stellte, war dieser leichter zu kontrollieren als andere Bereiche.

Bereits beim Zusammenbruch des Kommunismus spielte die Sowjetunion ihre Energiemacht in Ostmitteleuropa aus. Litauens Unabhängigkeitserklärung quittierte sie mit gedrosselter Energieversorgung. Estland und die Ukraine schüchterte Russland mit unterbrochenen Lieferungen ein. Der politische und ökonomische Konflikt mit der Ukraine führte seit 2006 zu mehrfachen Drosselungen. Wechselseitige Vorwürfe über verminderte russische Lieferungen oder abgezweigte Mengen folgten. Dies hatte auch Konsequenzen für die Nachbarländer. Fast zwei Wochen blieb im Winter 2009 ganz Ost- und Südosteuropa von russischen Gasexporten abgeschnitten, nachdem das russische Unternehmen Gazprom keine Preiseinigung mit der ukrainischen Seite fand. Die Energieabhängigkeit förderte die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine maßgeblich.
Die Liberalisierung des Gasmarktes in der EU kommerzialisierte die Beziehungen weiter, was Hoffnungen weckte, per Marktwirtschaft die russischen Gaslieferungen weiter zu entpolitisieren.

Diskussionen über Gas-Abhängigkeit von Russland


Inwieweit die Gas-Abhängigkeit von Russland ein Problem für Deutschland und die EU-Staaten sei, wurde nach diesem Konflikt kontrovers diskutiert. Einige Studien beschwichtigten, die EU könne im Konfliktfall leichter die Versorger wechseln als Russland die Abnehmer seines Gases. Die russische Führung könne zudem Gazprom nicht beliebig lenken, weshalb "außenpolitisch motivierte Gaskriege sehr unwahrscheinlich" seien und die europäische Gasabhängigkeit von Russland ein "Scheinproblem". Andere betonten bereits damals eine eher asymmetrische Abhängigkeit zugunsten von Russland, da die EU-Staaten kaum ausreichend Gasvorräte für Krisen speichern könnten. Derartige Kontroversen sorgten dafür, dass einige Staaten Alternativen absicherten. Besonders Polen baute in den 2010er Jahren Terminals für den Import von Flüssiggas aus, zumal die Kosten dafür deutlich sanken.

Als Russland im Jahr 2014 die Krim überfiel, verhängte die EU Sanktionen gegen Russland. Sie betrafen jedoch nicht den Gas-Sektor, wenngleich andere Finanz- und Handelssanktionen diesen beeinträchtigten. Der Bau der Pipeline Nord Stream 2 wurde trotz internationaler Kritik von Deutschland genehmigt. Erneut verlangten neben den Nachbarstaaten Russlands vor allem die USA einen Stopp. Gazprom lieferte weiter und erwies sich als zuverlässiger Partner, aber das Vertrauen sank. Nach 2018 stiegen die Erdgas-Importe nach Deutschland dennoch deutlich an.

Festhalten lässt sich somit, dass historisch gewachsene Pfadabhängigkeiten die hohen russischen Energie-Importe prägten. Von Beginn an galten sie als ein Sicherheitsproblem, auf das besonders die USA verwiesen. Während im Kalten Krieg vieles für einen "Wandel durch Handel" sprach, zeichnete sich spätestens seit den 2000er Jahren ein gegenteiliger Effekt ab, auf den die EU-Staaten aber kaum reagierten. Die 2022 eingeleitete Abkehr von russischen Energie-Importen ist somit ein historischer Einschnitt, der langfristig die Beziehungen zum Regime in Moskau verändern dürfte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Daten 2008-2020 nach Eurostat: Energy, transport and enviroment statistics, 2020 edition, S. 10-17, S. 15. Online unter: Externer Link: https://ec.europa.eu/eurostat/documents/3217494/11478276/KS-DK-20-001-EN-N.pdf (Stand: 11.11.2022)

  2. Zur längeren Vorgeschichte: Jeronim Perović: Rohstoffmacht Russland. Eine globale Energiegeschichte, Wien 2022.

  3. Vgl. Per Högselius: Red Gas. Russia and the Origins of European Energy Dependence, Basingstoke 2013, S. 38-40.

  4. Zu dem Zusammenspiel der Krise auch im Energiebereich: Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019, S. 305-332.

  5. Vgl. Daten und Prognosen in: Wochenbericht DIW Berlin Nr. 17/2009, S. 276. Online unter: Externer Link: https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_02.c.243823.de/09-17.pdf (Stand: 11.11.2022)

  6. Übersicht 2009 in: Roland Götz: Mythen und Fakten. Europas Gasabhängigkeit vom Russland, in: Osteuropa 6-8 (2012), S. 435-458, hier S. 450.

  7. Global vergleichend für 1971-1997: Michael L. Ross: Does Oil Hinder Democracy? In: World Politics 53.3 (2001), S. 325-361.

  8. Jeronim Perović: Farce ums Gas. Russland, die Ukraine und die EU-Energiepolitik, in: Osteuropa 1/2009, S. 19-36.

  9. Aurelie Bros/Tatiana Mitrova/ Kirsten Westphal: German-Russian Gas Relations: A Special Relationship in Troubled Waters, in: SWP Research Paper RP 13, Dec. 2017, S. 6, 19. Online unter: Externer Link: https://www.swp-berlin.org/publications/products/research_papers/2017RP13_wep_EtAl.pdf (Stand: 11.11.2022)

  10. Luis-Martin Krämer: Die Energiesicherheit Europas in Bezug auf Erdgas und die Auswirkungen einer Kartellbildung im Gassektor, Köln 2011, S. 563f.

  11. Roland Götz: Russland als Energieversorger Europas und Deutschlands, in: WeltTrends 16 (Juni 2009), S. 33-43, S. 33; Götz, Mythen, S. 446f., 457f.

  12. Nataliya Esakova: European Energy Security. Analysing the EU-Russia Energy Security Regime in Terms of Interdependence Theory, Wiesbaden 2012, S. 261f.

  13. vgl. zur aktuellen Debatte um russische Gaslieferungen u.a.: Hintergrund aktuell: Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas, bpb.de, 13.04.2022. Online unter: Interner Link: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/507243/deutschlands-abhaengigkeit-von-russischem-gas/ (Stand 11.11.2022)

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Prof. Dr. Frank Bösch ist Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam. Er forscht unter anderem zu bundesdeutschen Beziehungen zu nicht-demokratischen Staaten seit 1949.