Anfang Mai beginnt in Deutschland die Saison für Erdbeeren, und die ersten sind dann auf den Wochenmärkten zu zunächst sehr hohen Preisen zu sehen. Ein geringes Angebot an Erdbeeren trifft auf erdbeersehnsüchtige Deutsche. Großmarkthändler zahlen den wenigen Bauern, die zu diesem Zeitpunkt schon Erdbeeren verkaufen können, sehr hohe Preise in der Gewissheit, die Erdbeeren zu hohen Preisen an Einzelhändler vertreiben zu können. Die Einzelhändler wiederum gehen davon aus, die wenigen Erdbeeren an Erdbeerfreunde mit hoher Zahlungsbereitschaft zu besonders hohen Preisen verkaufen zu können.
Von Anfang Juni bis etwa Mitte Juli reicht die Hauptsaison, in der das Angebot an Erdbeeren Ende Juni seine Höchstwerte erreicht. Gleichzeitig haben viele Erdbeerfans zu diesem Zeitpunkt bereits Erdbeeren gegessen. Da das dritte Vanilleeis mit Erdbeeren nicht mehr so gut schmeckt wie das erste, sinkt die Nachfrage nach Erdbeeren. Um das nun hohe Angebot bei gesunkener Nachfrage noch verkaufen zu können, senken die Händler die Preise so weit, dass auch die preissensiblere Kundschaft zugreift: Dann kaufen etwa auch Kantinen, Mensen und Marmeladenkocher Erdbeeren.
Preise sind in Märkten mit funktionierendem Wettbewerb (wie dem Erdbeermarkt) also das Ergebnis aus in Euro gemessenem Angebot und Nachfrage. Eine besonders gute Ernte kann das Angebot erhöhen und entsprechend die Preise senken. Aber auch die Nachfrage ist enorm wichtig für die Preisbildung. Sie kann aus erdbeerspezifischen Gründen variieren, zum Beispiel infolge einer erfolgreichen Werbekampagne der Anbauer anziehen.
Die in Euro gemessene Nachfrage kann aber auch ansteigen, weil die gesamtwirtschaftliche Nachfrage insgesamt ansteigt. Wenn etwa der Bundestag beschlösse, den Grundfreibetrag bei der Einkommensteuer von aktuell 10.347 auf 20.000 Euro zu verdoppeln, würde jeder Single mit einem Einkommen von über 20.000 Euro etwa 940 Euro netto pro Jahr mehr erhalten. Wie sich eine solche Erhöhung der verfügbaren Einkommen auf die Preise auswirken würde, hinge davon ab, ob das Angebot kurzfristig erhöht werden könne, also ob ausreichend freie Produktionskapazitäten und Arbeitskräfte vorhanden wären, um die zusätzliche Nachfrage bei in etwa gleichen Preisen zu bedienen.
Bei hoher Arbeitslosigkeit oder gesamtwirtschaftlich hohen Inventarbeständen, die mangels Kaufkraft nicht abgesetzt werden können, muss eine Erhöhung der Nachfrage also nicht die Preise erhöhen, kann aber dafür unseren Wohlstand steigern, wenn wir ihn anhand der Waren und Dienstleistungen messen, die wir uns pro Jahr leisten können.
Sollte die Wirtschaft jedoch schon an ihren Kapazitätsgrenzen angelangt sein, führen nachfragestärkende Politikentscheidungen wie die oben beschriebene Steuersenkung zu Preissteigerungen nach Lehrbuch – das Angebot bleibt gleich, die Nachfrage steigt, also steigen die Preise. Im Unterschied zu einem Angebotsschock (zum Beispiel durch eine geringere Erdbeerernte) würden die Preise in diesem Fall durch Geldentwertung steigen: also durch Inflation im eigentlichen Sinne des Wortes.
Inflation ist durch Übernachfrage ausgelöste Geldentwertung
Wenn Geldentwertung droht, ist die Zentralbank gefordert. Zentralbanken legen die Zinsen fest, die Banken für ihr Guthaben bei der Zentralbank erhalten. Auf diese Weise definieren sie die Untergrenze für Zinsen am Interbankenmarkt – den Leitzins. Denn keine Bank würde niedrigere Zinsen für einen Kredit akzeptieren als die Zinsen, die sie von der Zentralbank bekommen könnte. Die Leitzinsen sind wiederum ein Bestandteil der Kreditzinsen, die Banken und andere Investoren bei der Kreditvergabe berechnen. Niedrigere Zinsen führen unter anderem zu günstigeren Investitionskrediten, reduzieren die Leasingraten für Autos bei gleichen Kaufpreisen und führen zu höheren Aktien- und Immobilienvermögen. Sie sorgen also für eine steigende Nachfrage, während steigende Zinsen dämpfend auf die Nachfrage wirken.
Die Geldpolitik sollte also immer dann die Zinsen erhöhen, wenn sie mit einem Nachfrageschub rechnet, der das Angebot übersteigt. Das könnte etwa dann der Fall sein, wenn Gewerkschaften mittels eines Generalstreiks extreme Lohnforderungen durchsetzen, denen keine zusätzliche Produktion gegenübersteht. Auch dann wäre es die Aufgabe der Zentralbank, einem inflationären Nachfrageschock mit Zinserhöhungen entgegenzuwirken.
Was bedeutet das für die aktuelle Situation?
Die Kombination aus pandemiebedingten Lieferengpässen und dem russischen Überfall auf die Ukraine mit den folgenden Gaslieferstopps ist der gravierendste Angebotsschock der Nachkriegsgeschichte. Insbesondere das Abstellen der Gaslieferungen hat zunächst die Großhandelspreise in die Höhe treiben lassen. Die Gas- und Strompreise an der Börse, die sich früher oder später auf die Endkundenpreise auswirken, verhalten sich dabei nicht grundlegend anders als die Erdbeerpreise: Wenn das Angebot plötzlich deutlich absinkt, dann steigt der Preis so lange an, bis Nachfrage wegbleibt. Grund für die steigenden Preise in Europa ist also in erster Linie ein Schock auf der Angebotsseite. Da Energie als Vorleistung in fast alle Waren einfließt, so etwa bei der Produktion bzw. beim Anbau und bei der Ernte sowie beim Transport, führt dieser Schock auch zu Preissteigerungen in Produktsegmenten außerhalb des Energiesektors. Dennoch handelt es sich dabei nicht um eine Geldentwertung, wie sie bei einem Nachfrageschock entstünde, der alle Waren und Dienstleistungen verteuert. Das zeigt sich etwa bei den sehr verhaltenen Preissteigerungen von Dienstleistungen, die im August 2022 "nur" 2,2 Prozent teurer ausfielen als im Vorjahr – gegenüber Preissteigerungen von über 35 Prozent bei Energie und etwa 15 Prozent bei Waren. Nicht unser Geld wurde weniger wert, sondern energieintensive Waren und Dienstleistungen wurden teurer.
Würde die Geldpolitik versuchen, die Nachfrage so weit zu drücken, dass trotz des Angebotsschocks die Preise nicht steigen, ginge das nur durch extreme Zinssteigerungen und die Zerstörung von Arbeitsplätzen und Einkommen. Denn die Energiepreise, um die es vorrangig geht, bilden sich am Weltmarkt und es ist unklar, in welchem Volumen Nachfrage in Europa zerstört werden müsste, um diese ausreichend zu dämpfen. Der spätere Präsident der US-Zentralbank Fed, Ben Bernanke, kam daher mit seinen Co-Autoren bereits 1997 zum Schluss, dass Wirtschaftskrisen nach Energiepreisschocks hauptsächlich durch die extremen Zinserhöhungen der Zentralbanken ausgelöst wurden, die noch mehr Wohlstand vernichteten als die Energiepreisschocks selbst. Statt in Aktionismus zu verfallen und Unternehmen durch hohe Zinsen in die Insolvenz zu schicken, sei nach Angebotsschocks eine geldpolitisch ruhige Hand und eine Konzentration auf die Nachfrage zu empfehlen.
Kritiker halten dem entgegen, dass eine straffe Zinserhöhung jetzt notwendig sei, um die Erwartungen fest verankert zu halten, ein Überspringen der Preisanstiege von Energie auf Dienstleistungen zu verhindern und eine mögliche Preis-Lohn-Spirale im Keim zu ersticken. Hier gilt es, die Daten eng im Auge zu behalten. Bei den Erwartungen sind zwar Anzeichen für eine Entankerung bei Privatpersonen und Firmen zu erkennen. Gleichzeitig sehen die Finanzmärkte die mittelfristige Inflationsrate stabil bei leicht über zwei Prozent und sowohl die Konjunkturerwartungen der Firmen als auch die Lohnentwicklung sind verhalten. Wie Fabio Panetta, Mitglied des EZB-Direktoriums, betont, ergibt es in einer solchen Situation Sinn, die Risiken einer verspäteten Bremsung gegen die "Vernarbungsrisiken" abzuwägen, die aus einer überhasteten Vollbremsung und der daraus folgenden Rezession folgen würden.
Welche Rolle können "Preisdeckel" spielen?
Medizinerinnen und Mediziner wissen, dass konservative Therapieansätze wie Physiotherapie oder eine Ernährungs- und Gewohnheitsumstellung oftmals unbeliebt bei Patientinnen und Patienten sind. Wer dagegen verspricht, mithilfe von Arzneimitteln oder einer Operation ein Problem direkt und ohne Gewohnheitsumstellung aus der Welt zu schaffen, darf häufig mit mehr Zustimmung rechnen.
Aus ähnlichen Gründen sind "Preisdeckel" bei Angebotsschocks auch populär: Den Verbraucherinnen und Verbrauchern wird signalisiert, dass sie ihr Verhalten nicht umstellen müssen. Wenn jedoch Privathaushalte von höheren Preisen verschont werden, wird ihre Nachfrage kaum abnehmen. Die Marktpreise werden also als Reaktion weiter steigen, bis ausreichend Nachfragende aus dem Markt ausscheiden, die den Preis nicht zahlen wollen oder können. Würden also einzelne Mitgliedsstaaten im europäischen Strom- und Gasmarkt Preise deckeln und die Differenz zu den Marktpreisen aus den öffentlichen Haushalten zahlen, würden die Preise so weit steigen, bis einige Mitgliedsstaaten sich die Hilfen nicht mehr leisten könnten. Allgemeine Preisdeckel (wie etwa für den Strompreis in Frankreich) führen nicht zu mehr Angebot, sondern können nur bestimmte Verbraucher auf Kosten anderer Verbraucher bevorteilen.
Anders sieht es aus bei Politikmaßnahmen, die explizit auf eine Reduktion der Nachfrage abzielen. Die Ökonomen Sebastian Dullien und Isabella Weber schlugen etwa einen "Gaspreisdeckel" vor, bei dem ein Grundbedarf staatlich subventioniert wird, den kaum jemand unterschreiten kann. Damit wäre sichergestellt, dass die Endrechnung für Gas zwar geringer ausfällt als ohne Deckel, jede zusätzliche Kilowattstunde aber sehr teuer würde – und sich Einsparungen daher noch stärker lohnen würden als bislang. Das Signal wäre: Wer beim Gassparen mithilft, wird mit niedrigen Preisen belohnt. Wer meint, der Gaspreisanstieg habe mit ihm nichts zu tun, würde kräftig zur Kasse gebeten.
In Anlehnung an Dullien und Webers Vorschlag für einen Gaspreisdeckel hat die Bundesregierung eine Expertenkommission eingesetzt, die neben einer Einmalzahlung in Höhe eines monatlichen Abschlags für Gas und Fernwärme vorschlägt, dass der Preis für 80 Prozent des Vorjahresverbrauchs auf zwölf Cent pro Kilowattstunde reduziert wird. Das entspricht grob einer Verdoppelung des Preises im Vergleich zum Vorkrisenniveau. Die noch höheren Marktpreise sollen nur auf den darüberliegenden Verbrauch angesetzt werden. Ziel des Vorschlags ist also, die Nachfrage nach Gas deutlich zu reduzieren, aber durch eine Subventionierung des Grundbedarfs zu verhindern, dass die Nachfragereduktion alleine durch dann frierende Haushalte mit niedrigen Einkommen passiert.
Klar ist: Preise sinken nur durch Maßnahmen, die zu mehr Angebot oder mehr Nachfrage führen. Da ein größeres Angebot durch ausreichende Anlandekapazitäten für Flüssigerdgas (engl. Liquefied Natural Gas, LNG) in Deutschland frühestens für Ende 2023 zu erwarten ist, muss in der Übergangszeit die Gasnachfrage reduziert und Energie gespart werden.