Ursula von der Leyen sprach von einem "Mann-auf-dem-Mond-Moment", als sie im Dezember 2019 den Green Deal vorstellte. Mit ihren Klimaplänen will die EU-Kommissionspräsidentin tatsächlich Geschichte schreiben: Bis 2050 soll Europa durch den Green Deal als erster Kontinent klimaneutral werden. Bis 2030, so ein weiteres Ziel, soll der Ausstoß von Kohlendioxid gegenüber 1990 schon einmal um 55 Prozent gesenkt werden.
Der Green Deal ist eines der ambitioniertesten Projekte, das die EU je aufgelegt hat. Noch nie gab es einen so weitreichenden Eingriff der Politik in Wirtschaft und Gesellschaft ihrer Mitgliedstaaten. Die EU wolle "die Art, wie wir produzieren und wie wir konsumieren mit unserem Planeten vereinbar machen", sagte von der Leyen bei der Vorstellung. Einer der profiliertesten Klimaforscher Deutschlands, Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, sprach von einem "mutigen Plan, dem konkrete Maßnahmen folgen müssen."
Die Umsetzung ist eine Mammutaufgabe. Nach dem Fahrplan der EU-Kommission müssen über 50 EU-Gesetzgebungsakte neu erlassen oder überarbeitet werden. Dies erfordert die Zustimmung von Mitgliedstaaten und Europäischem Parlament. Die endgültigen Beschlüsse werden von den Kommissionsvorschlägen abweichen. Es ist somit unsicher, ob sie in der Summe klimaschädliche Emissionen wie geplant eindämmen können.
Die politischen Entscheidungsträger bekommen Druck von unterschiedlichen Seiten. Klimaaktivisten beklagen einerseits, dass die Erderwärmung schon viel zu weit fortgeschritten sei. Andererseits befürchten Politikerinnen und Politiker vielerorts ein Wiederaufflammen von Protestbewegungen wie den Gelbwesten in Frankreich, die Anfang 2019 gegen steigende Spritpreise aufbegehrten.
Generalumbau der europäischen Wirtschaft
Der Generalumbau der europäischen Wirtschaft braucht gewaltige Ressourcen. Experten schätzen, dass alleine bis 2030 jedes Jahr rund 300 Milliarden Euro an Investitionen fließen müssen, um klimafreundliche Technologien voranzutreiben. Auf dem Weg zur Klimaneutralität wird es wirtschaftliche Gewinner und Verlierer geben. Die EU will diesen Prozess durch einen milliardenschweren Sozialfonds auffangen, der Mittel umverteilen soll – etwa in Regionen, die bisher vom Kohleabbau leben.
Kann das ehrgeizige Projekt gelingen? Für eine abschließende Antwort ist es zu früh. Das European Environmental Bureau, ein Dachverband von 180 Umweltorganisationen, lobt ausdrücklich, dass der Green Deal eine Vision geschaffen habe. Außerdem hebt er die langfristigen Selbstverpflichtungen positiv hervor. Die Corona-Pandemie und Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine zeigen gleichzeitig, dass Europa nicht unabhängig vom Rest der Welt agiert und das Projekt immer wieder anpassen muss.
Kernstück der europäischen Klimawende ist das Fit-for-55-Klimapaket, das die EU-Kommission – für europäische Verhältnisse enorm schnell – im Juli 2021 vorgelegt hat. Mitgliedstaaten und Europäisches Parlament gehen bei einem Großteil der Dossiers nun in die Kompromissverhandlungen.
Der für Klimaschutz zuständige Vize-Präsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, hofft, dass die Gespräche zum Klimapaket rechtzeitig zur UN-Klimakonferenz in Ägypten im November 2022 abgeschlossen werden können. Das ist optimistisch, die Verhandlungen dürften sich eher bis ins Jahr 2023 hinziehen. Die tschechische EU-Ratspräsidentschaft des zweiten Halbjahrs 2022 hat das Thema Klima zudem nicht auf ihre Prioritätenliste gesetzt – anders als Frankreich, das die Klimaschutz-Dossiers im ersten Halbjahr 2022 energisch vorangetrieben hatte.
Zentrales Element des Pakets ist die Reform und Ausweitung des Emissionshandels. Dieser schafft einen Preis für CO2, weil Verschmutzer Emissionsrechte erwerben müssen. Indem er fossile Brennstoffe verteuert, soll der Emissionshandel einen Anreiz schaffen, auf nachhaltige Energien umzusteigen. Nach dem Willen der EU-Mitgliedsstaaten soll der Emissionshandel künftig 75 statt bisher 40 Prozent der Emissionen des Kontinents abdecken, weil auch Gebäude und der Verkehr mit einbezogen werden.
Emissionshandel als Instrument gegen den Klimawandel
Für viele Ökonominnen und Ökonomen ist der Emissionshandel das wirksamste Instrument gegen den Klimawandel, weil es den Markt ihrer Auffassung nach nicht verzerrt, sondern den Schaden bepreist, der durch die Emission entsteht. "Wir müssen alle Sektoren in das Preissystem einbeziehen, das zeigt die Wirtschaftsforschung sehr klar", sagt Klimaexperte Edenhofer. Das Europa-Parlament scheute sich jedoch, Verbraucherinnen und Verbrauchern Mehrkosten für schmutzige Energieträger aufzuerlegen - und hat zunächst gegen die Ausweitung des Emissionshandels gestimmt. Die Mehrheit der Abgeordneten wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass sich Heizen und Autofahren noch mehr verteuern. Mitgliedstaaten und Europäisches Parlament dürften sich schwertun, hier einen Kompromiss zu finden. Wenn der Emissionshandel nicht ausgeweitet wird, geraten allerdings die Klimaziele deutlich ins Wanken.
Die EU-Kommission setzt beim Fit-for-55-Paket jedoch nicht nur auf das marktwirtschaftliche Instrument des Emissionshandels, sondern auch auf Intervention. So wurde das Jahr 2035 als Auslaufdatum für neue Autos mit Verbrennungsmotoren vorgeschlagen, dem EU-Mitgliedsstaaten und Europäisches Parlament bereits zustimmten. Allerdings: Die Umweltbewegung Fridays for Future hatte das Ende neuer Verbrenner bereits für 2025 gefordert, die Deutsche Umwelthilfe nannte 2030.
Beim Ausbau der erneuerbaren Energien vertraut der Green Deal ebenfalls nicht allein dem Markt, sondern schreibt feste Ziele vor, die derzeit noch in der Abstimmung sind. Das Europäische Parlament dürfte dem Votum des Industrie-Ausschusses folgen, der für 2030 für einen Anteil von 45 Prozent am Verbrauch entschieden hatte. Die EU-Kommission hatte nur 40 Prozent geplant. Die Mitgliedstaaten haben sich bislang auf keinen Wert geeinigt.
Zielgrößen für die Steigerung der Energieeffizienz sind ebenfalls in Arbeit. Auch beim Ausbau der Ladesäulen für Elektroautos arbeitet die EU-Kommission mit spezifischen Vorgaben für jeden Mitgliedsstaat. Ähnlich bei der Aufforstung, bei der es auch Zielmarken geben wird.
Weil der Green Deal dem Klimaschutz oberste Priorität einräumt, soll auch das Kartellrecht angepasst werden. Subventionen in klimafreundliche Projekte, etwa in grünen Wasserstoff, sollen so erleichtert werden. Erst im Juli 2022 hat die EU-Kommission 5,4 Milliarden Euro Subventionen für Wasserstoffprojekte in Europa durchgewunken. Wahrscheinlich wird auch die Kooperation unter Unternehmen in dem Sektor erleichtert. Bisher wurden Firmen schnell der Kartellabsprache verdächtigt, wenn sie sich zu stark abstimmten.
Unternehmen fürchten Wettbewerbsnachteile durch Energiekosten
Kommissionschefin von der Leyen sieht im Green Deal ein Instrument für mehr Wettbewerbsfähigkeit. Ihr Kalkül: Wenn sich Europa als erster Kontinent konsequent auf Nachhaltigkeit einstellt, sind Europas Unternehmen bei Innovationen ganz vorne dabei. Viele Unternehmen fürchten jedoch Wettbewerbsnachteile durch steigende Energiekosten. Ein Grenzausgleichssystem, im EU-Jargon als CBAM (engl.: Carbon Border Adjustment Mechanism) bekannt, soll deshalb dafür sorgen, dass energieintensive Güter wie Zement, Düngemittel, Aluminium, Stahl und Eisen aus Drittländern ohne Emissionshandel mit einem Aufschlag versehen werden. Das soll die billigeren Produktionskosten an anderen Standorten wettmachen.
Ein Problem bleibt: Güter, die in der EU produziert werden, wo Unternehmen für Emissionen zahlen müssen, sind im Export teurer als die der ausländischen Konkurrenz. Die Bundesregierung macht sich deshalb stark für einen weltweiten Klimaclub, in dem die Vorgaben des Pariser Klimaabkommens umgesetzt werden. Die wirtschaftsstarken G7-Staaten wollen einen solchen Zusammenschluss von Ländern vorantreiben. Noch ist nicht abzusehen, wie sich China positionieren wird. Das Land macht Europa aber in der Industrieproduktion mehr und mehr Konkurrenz.
Europas internationale Glaubwürdigkeit beim Thema Klimaschutz leidet sichtlich unter dem Beschluss, Atomkraft und Gas als nachhaltig einzustufen. Anlass war die Taxonomie, also der Versuch, Wirtschaftsaktivitäten als nachhaltig zu klassifizieren. Diese Kategorisierung, die ursprünglich aus der Tierwelt stammt, soll den Finanzmärkten Orientierung bieten, fiel jedoch einem politischen Deal zum Opfer.
Noch vor der Bundestagswahl 2021 hatten sich die Regierungen Frankreichs und Deutschland geeinigt, sowohl Atomkraft als auch Gas als nachhaltige Energien einzustufen. Die neue Bundesregierung teilte diese Sichtweise nicht, konnte sich aber in Brüssel nicht durchsetzen. Im Europäischen Parlament gab es viel Kritik, aber keine Mehrheit gegen das Vorhaben.
Auch beim Corona-Hilfspaket über 750 Milliarden Euro, das die EU-Mitgliedsstaaten geschnürt haben, stellt sich die Frage, wie grün die Investitionen wirklich sein werden. Mitgliedsstaaten müssen 37 Prozent der Hilfen für Klimaschutz ausgeben. Ob das Geld sinnvoll ausgegeben wird, muss sich noch erweisen. Ein Blick in die Pläne der Mitgliedsstaaten zeigt jedoch, dass Hauptstädte den Begriff "Klimaschutz" durchaus weit interpretieren.
Komplexer Kampf fürs Klima
Nicht alles am Green Deal ist stringent. Die umstrittene Gemeinsame Agrarpolitik hat die EU-Kommission nicht in das Projekt integriert. Umweltschützer kritisieren dies. Elf Prozent der Treibhausgasemissionen Europas stammen aus der Landwirtschaft. Ganz offensichtlich hat sich die Politik aber nicht getraut, sich mit der mächtigen Landwirtschaftslobby anzulegen.
Ob Europa bis 2050 klimaneutral sein kann, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie unterschiedliche Politiken ineinandergreifen. Schon jetzt gibt es Zielkonflikte, die zeigen, wie komplex der Kampf für das Klima ist. So hatte die EU-Kommission im Mai 2022 vorgeschlagen, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen und ihnen Priorität einzuräumen. Umweltorganisationen kritisieren jedoch, dass es falsch wäre, Umweltprüfungen deswegen zurückzufahren und die Bürgerinnen und Bürger bei der Planung weniger einzubeziehen.
Auch der Ausbau der E-Mobilität birgt Probleme. Nach den Regularien der Chemikalienpolitik sollen Lithiumsalze, die für die Herstellung von Batterien benötigt werden, künftig als toxisch eingestuft werden. Das würde aber die Produktion von E-Autos erschweren. Autos aus der EU könnten möglicherweise auch kein Öko-Label bekommen.
Bei einem Plan wie dem Green Deal, der sich über 30 Jahre erstreckt, lassen sich die Begleitumstände nicht vorhersehen. Prägnantes Beispiel: Russlands Krieg gegen die Ukraine. Einerseits erhöht er den Druck, aus dem Energieträger Gas auszusteigen, weil Russland die Lieferungen nach Europa als Mittel im Konflikt nach Ansicht westlicher Beobachter instrumentalisiert. Die Befürworter der erneuerbaren Energien argumentieren, dass Deutschland sich nie so stark in die Abhängigkeit Russlands begeben hätte, wenn alternative Energien wie Wind und Solar früher ausgebaut worden wären.
Kurzfristig dürfte der Konflikt allerdings dazu führen, dass die Emissionen steigen, weil klimafreundliche Alternativen zum Gas noch nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Um Gas zu sparen, hat die Bundesregierung im Sommer 2022 beschlossen, für eine Übergangszeit verstärkt mit Kohle und Öl betriebene Kraftwerke einzusetzen, die im Reservebetrieb waren. Es soll auch längere Laufzeiten für Atomkraftwerke geben, die eigentlich zum Jahresende 2022 stillgelegt werden sollten. Bis zum Frühling 2023 sollen zwei AKW in den sogenannten Reservebetrieb gehen, also nur Strom liefern, wenn es die Versorgungslage notwendig macht. Das Nachbarland Belgien hat wegen der Energiekrise bereits Laufzeitverlängerungen beschlossen.