Er ist schmerzhaft für die Briten und schmerzhaft für Europa. Dennoch birgt der Brexit neue Reformperspektiven für die EU, findet der Berliner Politologe Nicolai von Ondarza.
Sich tagtäglich mit dem Brexit zu beschäftigen, kann deprimierend sein. Anders als bei allen bisherigen europäischen Verhandlungen geht es diesmal nämlich nicht darum, ein Mehr an Zusammenarbeit zu schaffen. Stattdessen verliert die Europäische Union das erste Mal in ihrer Geschichte ein Mitglied, noch dazu eines seiner Größten. Dass sich die britische Bevölkerung – wenn auch denkbar knapp – für den Austritt entschieden hat, ist daher für die europäische Integration ein herber Rückschlag.
Neben dem hohen symbolischen Verlust verliert die EU 16 Prozent ihrer Wirtschaftskraft, einen ihrer größten Nettozahler sowie ein Land, welches international mit einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, den engen Verbindungen zu den USA sowie seinen militärischen wie diplomatischen Ressourcen zentral ist für das Gewicht der Union nach außen. Zwar hat das Vereinigte Königreich durch seine Nichtbeteiligung am Euro wie am Schengener Abkommen nie zum Kern der EU gehört. Kulturell und gesellschaftlich gehört London aber ebenso wie Manchester, Liverpool oder Schottland zum Herzen Europas. Aus Sicht der meisten EU-Staaten sind die Brexit-Verhandlungen daher eine Lose-Lose-Situation, in der das Hauptziel die Schadensbegrenzung ist.
Und doch – für die EU kann der Brexit auch zum heilsamen Warnschuss werden, wenn die richtigen Schlüsse gezogen werden. Zunächst zeigen die schwierigen Austrittsverhandlungen den Wert der EU auf, und wie selbstverständlich ihre Errungenschaften im Alltag der Europäerinnen und Europäer mittlerweile geworden sind. So werden die Rechte von EU-Bürgerinnen und -Bürgern erstmals unmittelbar erfahrbar, seitdem über drei Millionen Europäer in Großbritannien sowie 1,2 Millionen Briten im Rest der EU um diese Rechte fürchten.
Staatliche Schuldenstandquote im Vereinigten Königreich 2000-2016 (Grafik zum Download)
Großbritannien will die Vorteile der EU-Mitgliedschaft behalten
Das drohende Chaos bei einem „No-Deal“-Szenario, also einem Austritt ohne Vertrag, unterstreicht, wie eng verwoben die europäischen Volkswirtschaften durch gemeinsame Liefer- und Produktionsketten, Anerkennung von Berufsabschlüssen oder gemeinsame Regeln für den Luftverkehr und vieles mehr sind. Vom Wirtschaftsmotor in Europa ist Großbritannien schon vor dem vollzogenen Brexit zum Schlusslicht zurückgefallen – so verzeichnete es 2017/18 das niedrigste Wirtschaftswachstum in der EU, noch hinter den bisherigen Sorgenkindern der Eurozone. Nicht zuletzt erinnert die erneut fragile politische Situation in Nordirland an die Bedeutung der EU als Friedensprojekt.
Hinzu kommt das politische Chaos in London seit dem Austrittsvotum. Seit dem Beginn der Verhandlungen mit Brüssel wird die tiefe Spaltung zwischen der regierenden Konservativen Partei und der britischen Gesellschaft immer deutlicher. Während die Wirtschaft auf Klarheit wartet, widersprechen sich die Aussagen der Ministerinnen und Minister immer wieder. Nach verpatzten Neuwahlen ist zudem die Autorität von Premierministerin Theresa May passé. Gleichzeitig stemmt sich die schottische Regierung weiter gegen einen harten Brexit.
Zwar will die britische Regierung die Vorteile der EU-Mitgliedschaft behalten – insbesondere den ungehinderten Zugang zum Binnenmarkt, aber auch die Kooperation in der inneren und äußeren Sicherheit – ohne aber die Verpflichtungen zu übernehmen. Im Konflikt zwischen hartem Brexit (auch Verzicht auf die Vorteile) und weichem Brexit (Akzeptanz der Verpflichtungen für die Vorteile) ist das 22-köpfige britische Kabinett tief gespalten. Im Gegensatz dazu sind die 27 übrigen Mitgliedstaaten der EU klar vereint. Ihr Standpunkt: Zugang zu den Vorteilen der EU kann es nur bei der Übernahme von Verpflichtungen geben.
Der britische EU-Austritt öffnet zudem neue Perspektiven für die EU in Bereichen, in denen Großbritannien bisher gebremst hat. Mit seiner – zwar lange konstruktiven – aber meist skeptischen Haltung gegenüber der EU stand Großbritannien in vielen Politikbereichen weiteren Integrationsschritten ablehnend gegenüber. Bei der Erhöhung des EU-Budgets, der Reform der Eurozone oder bei weiteren Transfers von Souveränität in der Steuerpolitik wird der britische Austritt wenig an innereuropäischen Blockaden ändern.
Briten bei Sicherheits- und Verteidigungspolitik lange der einzige Bremser
Es gibt jedoch einen Bereich, auf den das nicht zutrifft: So war London in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU lange der einzige Bremser, dessen Veto zentrale Fortschritte verhindert hat. In den 18 Monaten seit dem Brexit-Votum hat die EU hier schon mehr erreicht als in den letzten zehn Jahren, insbesondere durch Aufbau eigener Führungskapazitäten und der Begründung der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“.
Statt eines Domino-Effekts von Austritten haben die negativen Erfahrungen mit dem Brexit auch zu einem Anstieg der Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft im Rest Europas geführt. Zuletzt ist die Stimmung gegenüber der EU auf den höchsten Stand seit Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise gestiegen. In Frankreich und Deutschland stieg die Zustimmung zur EU seit dem Brexit-Votum in Umfragen um 18 Prozent, in den Niederlanden um 15, in Spanien um 13 Prozent. Vor allem aber haben auch EU-kritische Parteien nach ersten Wahlniederlagen wieder Abstand von einer Fundamentalopposition zur EU genommen. So hat etwa der Front National die Forderungen nach dem Euro-Austritt nach der Niederlage von Marine Le Pen aufgegeben. Die österreichische FPÖ will kein eigenes EU-Referendum mehr.
Umso wichtiger ist es, dass die Reaktionen der europäischen Bürgerinnen und Bürger auf den Brexit-Prozess richtig interpretiert werden. Der leichte Anstieg der Zustimmung zur EU ist kein Blanko-Scheck für einen massiven Ausbau der Kompetenzen der Union. Vielmehr sollte er als Anerkennung gewertet werden, dass das bisher Erreichte in der EU seinen Wert hat und die EU eben in den Bereichen gestärkt werden sollte, in denen sie einen direkten Mehrwert für die Bevölkerung bringt. Der französische Präsident Macron hat diese Debatte um die Erneuerung der EU angestoßen. Wenn die Erfahrungen des Brexits helfen, langjährige Blockaden in der EU aufzuheben, kann er von einem schmerzhaften zu einem langfristig stärkenden Prozess in der EU werden.
Nicolai von Ondarza ist Europawissenschaftler und Mitarbeiter der Forschungsgruppe EU-Integration der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Dr. Nicolai von Ondarza ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Schwerpunkte des Politikwissenschaftlers sind unter anderem die Themen Großbritannien, EU-Institutionen und Grundsatzfragen europäischer Integration.
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