Es steht nicht gut um "Bella Italia": Bürokratie und Korruption, egozentrische Politiker, schlechte Schulen, hohe Steuern, extreme Schulden. Doch das Land, sagt der Auslandskorrespondent Hans-Jürgen Schlamp, kann durchaus wieder auf die Beine kommen – wenn es endlich aufwacht.
Auch wenn Italiens Wirtschaft im Sommer 2017 nicht ganz so stark zulegen konnte wie erwartet, geht es mit dem Land schon seit mehreren Quartalen aufwärts: die Industrieumsätze wachsen, ebenso die Umsätze im Tourismus und sogar die im Einzelhandel. Die Regierung bejubelt sich und plant schon den Einzug von Großinvestoren, die nach dem Brexit Großbritannien verlassen und sich und ihre Milliarden in Italien niederlassen sollen. Selbst der Internationale Währungsfonds (IWF) korrigierte seine Wachstumsprognose von 0,8 auf 1,3 Prozent. Alles prima also in der drittgrößten Volkswirtschaft der Eurozone? Nein, sagt IWF-Direktor Carlo Cottarreli, Italien sei weiter "Risiken ausgesetzt". Und das ist noch nett formuliert.
Tatsächlich hat Italien damit nämlich nicht einmal sein wirtschaftliches Niveau von 2007 erreicht. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – die Summe aller Güter und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft – betrug damals 2,2 Billionen Dollar. Nach zehn Krisenjahren erreicht es 2017 gerade einmal 1,8 Billionen Dollar. Weil der Rest der Welt derweil nicht stillstand, sank Italiens Anteil an der Weltproduktion, dem globalen BIP, von 2,6 auf 1,8 Prozent. Nach heutigem Maßstab wäre es damit nicht mehr im Kreis der G7-Länder vertreten. Es ist nur noch die achtgrößte Wirtschaftsnation, überholt von Indien.
Die abstrakten Zahlen haben konkrete Auswirkungen auf die Menschen. Vor 2007 waren etwa sechs Prozent der Italienerinnen und Italiener in der Arbeitslosenstatistik, zehn Jahre später sind es über elf Prozent. Unter den jungen Menschen liegt deren Anteil bei über 30 Prozent. Eine Katastrophe für eine ganze Generation. Als die Modekette Primark für eine neue Niederlassung in Florenz 380 Jobs offerierte, meldeten sich 7.000 Bewerberinnen und Bewerber. 6.620 von ihnen mussten wieder einmal die Hoffnung auf Arbeit begraben. Solche Beispiele gibt es in großer Zahl.
Das einzige, das in Italien konsequent wächst, ist die Verschuldung: von 1.605 Milliarden Euro im Jahr 2007 auf rund 2.260 Milliarden Euro zehn Jahre später. Das sind 654 Milliarden mehr Schulden, mithin 65 Milliarden in jedem Jahr. Unvorstellbare Summen.
Staatliche Schuldenstandquote in Italien 1999-2015
Italien krankt an einer alles erwürgenden Bürokratie
Die Verursacher des Debakels sind seit langem bekannt. Italien krankt an einer alles erwürgenden Bürokratie, einer an der Allgemeinheit total desinteressierten politischen Kaste, an Bankiers und Industriellen, die sich die Taschen vollstopfen, während ihre Unternehmen pleitegehen, an Korruption und Vetternwirtschaft derjenigen, die an den Tränken sitzen.
Die Infrastruktur ist vielerorts miserabel, die Justiz funktioniert nicht, die Behörden überschütten das Land mit Genehmigungsformularen und immer neuen Regeln, die jede Investition zum Glücksspiel machen. Ganz im Süden kommt der Einfluss der Mafia dazu. Die will überall abkassieren, da hält man sich als Investor lieber fern. Kein Wunder, dass in der World-Economic-Forum-Rangliste der weltweiten Wettbewerbsfähigkeit 2016/2017 Italien auf Platz 44 liegt – hinter Russland, Panama, Indonesien und Malta.
Der nächste Horror: Die Steuern. Ein mittelgroßes Unternehmen muss eine Abgabenlast von rund 65 Prozent schultern – Europas Durchschnitt liegt bei etwa 40 Prozent. Gegen die extremen Steuern wehren sich die Bürgerinnen und Bürger mit extremer Steuerhinterziehung: Etwa 111 Milliarden Euro gingen der Staatskasse im Jahr 2014 – dem Jahr der letzten Berechnung – verloren. Das ist Europarekord.
Der Eifer, die hinterzogenen Steuern einzutreiben, ist dagegen nur schwach ausgeprägt. Was ihr findet, könnt ihr behalten, hat die Regierung in Rom den Kommunen gesagt, die kein Geld für die schlechten Schulen und Straßen haben. Aber mehr als lächerliche 13 Millionen Euro brachten die rund 8.000 Gemeinden nicht zusammen. Wie auch? Schließlich sind die Steuersünder Freunde, Verwandte, einflussreiche Bürgerinnen und Bürger.
Die Kommunen und Provinzen könnten sich auch Geld aus Brüssel holen. 73 Milliarden Euro bietet die Europäische Union für die Periode 2014 bis 2020 zur Mitfinanzierung wirtschaftlicher oder sozialer Projekte in Italien an. Aber Politiker und Bürokraten schaffen es nicht, das Geld ordnungsgemäß abzurufen. Bis 2017 waren gerade einmal 880 Millionen Euro geflossen, wenig mehr als ein Prozent. In den Süden kam gar nichts. Die Verantwortlichen zucken mit den Schultern, keiner ist verantwortlich. Selbstkritik ist selten.
Ein Risiko für Europa und den Euro
Wenn sich die Verantwortlichen nicht aufraffen, den Staatsapparat zu reformieren – Justiz, Verwaltung, staatliche Unternehmen – wird Italien weiter ein Krisenland bleiben und ein Risiko für Europa und den Euro sein. Ein weit größeres als es Griechenland je sein könnte.
Schon wenn die Europäische Zentralbank (EZB) den Kontinent demnächst nicht mehr mit Billigst-Geld überflutet, weil die ökonomische Situation Europas das nicht mehr rechtfertigt, wird Italien dramatisch mehr Geld für die Zinsen seines Schuldenbergs aufbringen müssen. Haben also jene recht gehabt, die auf dem Weg zur Eurozone die Italienerinnen und Italiener ausschließen wollten? Jene wie Ulrich Cartellieri, damals Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, der das Südland 1997 eine "tickende Zeitbombe" nannte? Nicht unbedingt.
Denn wenn die Politik die Reformen hinbekommt, über die sich theoretisch eigentlich alle im Lande einig sind, könnte Italien bald wieder ein Wirtschaftsmotor in Europa sein. Ob es gelingt, muss sich noch zeigen. Doch Gründe für Zuversicht gibt es.
Da ist zum Beispiel der hochproduktive Norden des Landes. Dort erwirtschaftete allein die Lombardei, die Region rund um Mailand, 2016 ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 359 Milliarden Euro. Das ist mehr als das BIP von Österreich. In dieser Region geht es seit Jahren aufwärts. Das Niveau vor der Finanzkrise 2007/2008 ist nicht nur erreicht, sondern längst wieder überschritten.
So viele kreative Bewohner wie fast nirgendwo sonst in Europa
So könnte es überall sein, nicht nur im Norden. Denn das Land hat so viele kreative Bewohner wie kaum ein anderes in Europa – Künstlerinnen und Künstler, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Technikerinnen und Techniker. Viele sind zwar – entnervt von der Bürokratie – ins Ausland abgewandert. Doch andere, die trotz der Probleme blieben, haben Firmen gegründet, die Weltspitze sind. Etwa im Modesektor, von Armani und Cavalli bis Moschino, Prada und Tod´s. Oder sie haben sich einen Namen als Winzer gemacht, deren Produkte rund um den Globus gefragt sind. Selbst im Tourismus, wo es jahrelang nach der Devise ging, "teuer und schlecht, aber Italien ist schön und das reicht", gibt es frische Ideen und Angebote. Schon wächst der Umsatz der Branche wieder kräftig.
Dass der Neustart gelingen kann, zeigt eindrucksvoll die Fabbrica Italiana Automobili Torino, bekannter als Akronym Fiat. Der Autobauer aus Turin war lange das Musterbeispiel für die italienische Krankheit. Dauerzoff zwischen Vorstand und Belegschaft, schlechtes Klima, schlechte Produkte. Auch nach dem Zukauf von Chrysler – der Konzern heißt deshalb heute Fiat Chrysler Automobiles (FCA), hat seinen rechtlichen Sitz aus steuerlichen Gründen in Amsterdam und seine Zentrale in London – ging es zunächst weiter bergab. Für viele schien die Frage der Pleite oder des Verkaufs der maroden Firma nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Die Wende kam in letzter Minute, mit neuen Strukturen im Betrieb und neuen Modellen für den Markt. Der Umsatz stieg von 84 Milliarden Euro im Jahre 2012 auf 111 Milliarden in 2016.
Vielleicht geht es überall in Italien nicht anders als bei Fiat, nämlich immer und alles in letzter Minute. Ob bei einer Weltausstellung oder bei einem Rock-Konzert, der Ablauf ist immer gleich: man hängt dramatisch hinterm Zeitplan her, "Das schaffen die nie", denken die Nicht-Italiener, doch in letzter Minute geben alle Beteiligten Gas und schaffen es dann doch. Meistens. Es gehört wahrscheinlich zur Mentalität des Landes. Dort wohnt ein Volk der letzten Minute.
Hans-Jürgen Schlamp war unter anderem Spiegel-Büroleiter in Brüssel, seit 1998 arbeitet er für das Nachrichtenmagazin als Korrespondent in Italien. Schlamp hat auch Krimis mit Italien-Thematik verfasst.
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