Nur wenn alle Länder erkennen, dass sie nicht einfach den deutschen Weg hoher Leistungsbilanzüberschüsse nachahmen können, kann die EU erfolgreich sein, mahnt der Ökonom Heiner Flassbeck. Deshalb hält er die Reformen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für eine riskante Strategie.
Für manche Beobachter ist Frankreich ein Land, das seit langem wegen vielfältiger Probleme ökonomisch abgehängt ist. Doch dieses Bild ist vollkommen falsch. Frankreichs Problem heißt Deutschland. Nur weil Deutschland zu Beginn der Währungsunion eine Politik des Lohndumpings betrieben hat, die klar gegen die Funktionsbedingungen des Euro verstieß, geriet Frankreich in die Defensive. Es hat sich selbst jedoch vorbildhaft an die Vorgaben der Währungsunion angepasst.
Emmanuel Macron versucht nun, in Frankreich Reformen durchzusetzen, die helfen, die Wettbewerbslücke zu Deutschland zu schließen. Das ist eine riskante Strategie, weil dabei die französische Binnennachfrage einzubrechen und eine Deflation in der Eurozone droht. Griechenland und die anderen Krisenländer im Süden haben gezeigt, dass man auf diese Weise die Wirtschaft destabilisiert und nicht voranbringt. Macron müsste darauf dringen, dass Deutschland alles tut, um die Lücke von seiner Seite aus zu schließen, weil nur das die Gefahr einer Deflation bannt.
Der französische Präsident glaubt aber offenbar, man könne eine Institution wie die in Schwierigkeiten geratene Währungsunion ungeachtet der Art der Schwierigkeiten dadurch retten, dass man ihr neue Aufgaben gibt. Statt einer klaren Analyse dessen, was in Europa und insbesondere in der Eurozone falsch gelaufen ist, präsentierte er eine ganze Palette neuer Vorschläge.
Unter anderem will er einen eigenen Eurozonen-Finanzminister und eine europäische Finanzpolitik, die für mehr öffentliche Investitionen sorgt. Um das machen zu können, müsste Macron allerdings die anderen Europäerinnen und Europäer davon überzeugen, dass es in Europa keine Staatsschuldenkrise gibt, sondern eine ganz neue Konstellation von Sparen und Investieren, die eine aktive Rolle des Staates und hohe öffentliche Schulden unumgänglich macht.
Staatliche Schuldenstandquote in Frankreich 1999-2015 (Grafik zum Download)
Deutscher Weg hoher Leistungsbilanzüberschüsse ist kein Vorbild
Eine neue europäische Finanzpolitik kann nur erfolgreich sein, wenn alle Länder erkennen, dass sie nicht einfach den deutschen Weg hoher Leistungsbilanzüberschüsse nachmachen können, um ihre Probleme zu lösen. Das liegt daran, dass Europa insgesamt eine relativ geschlossene Volkswirtschaft ist, die nicht darauf hoffen kann, dass der Rest der Welt ohne Gegenmaßnahme, also vor allem ohne Abwertung der eigenen Währung, eine europäische Strategie akzeptiert, die darauf hinausläuft, die europäische Wettbewerbsfähigkeit zulasten der anderen immer weiter zu erhöhen.
Ist das aber so, muss man nur noch zur Kenntnis nehmen, dass es in der Eurozone insgesamt schon zwei große Gruppen von Sparern gibt, nämlich die privaten Haushalte und die privaten Unternehmen. Und dann gelangt man zu geradezu revolutionären Schlussfolgerungen: Wenn es den Ausweg steigender Leistungsbilanzüberschüsse nicht gibt, muss sich der Staat permanent höher verschulden, um ein Gegengewicht zu den sparenden Sektoren zu schaffen. Will der Staat das partout nicht, muss er dafür sorgen, dass die Unternehmen wie in früheren Zeiten Schulden machen.
Dazu müsste er ihnen Gewinne wegsteuern, denn offensichtlich haben sie zu hohe Gewinne, wenn sie nicht genügend Investitionsprojekte umsetzen. Da höhere Unternehmenssteuern aber in der Mehrzahl der europäischen Länder ein politisches Tabu sind, bleibt logischerweise nur die Möglichkeit, dass die Staaten selbst die Schulden machen, die jede Volkswirtschaft braucht, um wegen hoher Ersparnisse nicht zusammenzubrechen. Aber auch das verstößt gegen ein weit verbreitetes Tabu, das in Deutschland sogar mit der sogenannten Schuldenbremse in der Verfassung verankert wurde.
Diese einfache Überlegung zeigt in aller Klarheit, woran Europa leidet: nicht an einem Mangel an neuen institutionellen Vorschlägen, sondern an einer Revision der alten Ideen, die zwar in den Verträgen verankert sind, sich aber an Realität und Logik stoßen – und deswegen dringend korrigiert werden müssen.
Frankreich darf nicht davor zurückschrecken, alte Theorien in Frage zu stellen
Doch zu einer solchen Korrektur sind Politikerinnen und Politiker im Allgemeinen nicht bereit, weil sie die Theorie, die hinter solchen Verträgen steht, nicht in Frage stellen können oder wollen. In Deutschland ist man weder bereit, die Schuldenbremse zu diskutieren noch die Frage, ob ein Land der Währungsgemeinschaft riesige Leistungsbilanzüberschüsse haben darf. Darüber hinaus wird keine absehbare Koalition in Deutschland dazu bereit sein, die theoretische Basis des Maastricht-Vertrages oder des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu überprüfen, obwohl genau das die in der Krise eingetretenen Ereignisse fordern würden.
Wenn Frankreich Europa fundamental erneuern will, darf es nicht davor zurückschrecken, neue ökonomische Erkenntnisse zu bemühen und die alten Theorien in Frage zu stellen. Vorschläge für neue Institutionen zu machen, bevor die zentralen Schwachstellen der Eurozone behoben sind, führt keinen Schritt weiter.
Der Punkt, um den es geht, ist leicht zu verstehen: Man kann ein komplexes Gebilde wie die Währungsunion nur steuern, wenn alle Mitglieder und vor allem die Entscheidungsgremien die gleichen Vorstellungen von den relevanten ökonomischen Zusammenhängen haben. Ist das nicht der Fall und sind die Vorstellungen der Mehrheit auch noch von der Wirklichkeit oder von der Theorie überholt, kann man die Währungsunion nicht erfolgreich reformieren. Das heißt auch, dass es auf die Persönlichkeit von Politikerinnen und Politkern oder ihre politische Herkunft nur am Rande ankommt. Entscheidend sind ihre Kenntnis der ökonomischen Theorie und ihr Mut, sich mit dem ökonomischen Mainstream auseinanderzusetzen. Auf diesem Feld hat Frankreich bisher nichts geboten.
Prof. Dr. Heiner Flassbeck ist Wirtschaftswissenschaftler. Er war von 1998 bis 1999 Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen und von Januar 2003 bis Ende 2012 Chef-Volkswirt bei der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD) in Genf. Er lebt in Frankreich.
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