Ist das südeuropäische Land das nächste Griechenland? Nein. Der deutsche Blick auf Italien ist kritisch. Angesichts hoher Schulden und geringem Wachstum verwundert das nicht. Viele Stärken des Landes werden dabei aber ausgeblendet, meint Tobias Bayer, Italien-Korrespondent der Tageszeitung Die Welt.
Welches Land kommt Ihnen bei den folgenden Stichworten in den Sinn? "Der Wackelkandidat in der Eurozone". "Das nächste Griechenland." "Wenn nicht jetzt, dann nie." Es ist gut möglich, dass Sie spontan an Italien denken. Italien ist des Deutschen liebstes Urlaubsland. Mit der besten Küche. Doch wenn es um die wirtschaftlichen Aussichten geht, verdüstern sich die Mienen. Das Wachstum? "Null." Die Schulden? "Riesig." Die Bürokratie? "Ein Graus." Die Arbeitskosten? "Zu hoch." Die Korruption? "Grassiert." Die Regierung Matteo Renzi? "Die allerletzte Chance."
Die Meinung in Deutschland zu Italien ist festgefahren - und meist negativ. Gerechtfertigt ist das harsche Urteil allerdings nur teilweise. Was viele übersehen: Italien steht wirtschaftlich gesehen wesentlich solider da als gemeinhin angenommen wird.
Nehmen wir die Staatsschulden. Richtig ist, dass Italien nach Griechenland relativ gesehen die zweithöchsten Verbindlichkeiten in der Euro-Zone aufweist. Laut der Banca d'Italia beliefen sie sich Ende Juni 2015 auf über 2200 Milliarden Euro, was deutlich mehr als 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht. Keine Frage: eine hohe Summe. Ist sie aber zu hoch?
Ein Besuch im Römer Finanzministerium hilft weiter. Das Ministerium residiert in einem Prachtbau an der Via XX Settembre. Die Dame, auf die es ankommt, heißt Maria Cannata. Sie ist Direktorin für die Schuldenverwaltung, also Italiens oberste Kassenwartin. Links in ihrem Büro hängen in einer Vitrine alte Staatsanleihen. Rechts hinten liegt ein dickes Buch aus, in dem in Kalligrafie festgehalten ist, zu welchen Konditionen sich Italien Geld geliehen hat. Mitten im Raum stehen zwei Bildschirme, auf denen Cannata verfolgt, wie sich die Staatsanleihekurse entwickeln.
Die Italiener sind Italiens wichtigste Gläubiger
Frau Cannata hat harte Zeiten hinter sich. Im Sommer und Herbst 2011 hatten Investoren Italiens Zahlungsfähigkeit angezweifelt, die geforderten Renditen waren in die Höhe geschossen. Im November 2011 hatte die Regierung von Silvio Berlusconi einem Technokraten-Kabinett um den Wirtschaftsprofessor Mario Monti weichen müssen. Die Mathematikerin Cannata hatte sich im Auge des Orkans befunden. "2011 war unglaublich anstrengend", sagt sie.
Staatliche Schuldenstandquote in Italien 1999-2015
Heute kann sich Cannata entspannt zurücklehnen. Sie hat hat momentan nämlich keinerlei Probleme, genügend Geld für Italien zu akzeptablen Zinsen aufzutreiben. Das ist nicht allein der ultralockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank zu verdanken, sondern auch Verdienst Italiens. Erstens wird der Großteil der Staatsschulden von den Italienerinnen und Italienern selbst gehalten. Ausländische Investoren kommen nur für rund ein Drittel auf - vergleichsweise wenig. Zweitens ist es Italien gelungen, die durchschnittliche Frist seiner Verbindlichkeiten zu strecken. Und drittens halten sich Cannata und ihre Kollegen strikt an einen öffentlichen Terminkalender, um Anleihen zu platzieren. Der Kapitalmarkt ist also immer bestens informiert, was Italien vorhat. Böse Überraschungen? Fehlanzeige.
Nehmen wir den Haushalt. Deutschland pocht in Europa auf Ausgabendisziplin und präsentiert sich als Musterschüler. Wenigen ist bewusst, dass Italien durchaus auch auf das Staatssäckel achtet. Eine wichtige Kennziffer: der Primärüberschuss, die Differenz zwischen Staatseinnahmen und Staatsausgaben ohne Zinsausgaben.
Man mag es kaum glauben: Italien schneidet besser ab als Deutschland. Im Zeitraum von 20 Jahren wies Italien 19-mal einen Primärüberschuss aus, während das Deutschland nur 13-mal gelang. 2013 erreichte Italien ein Plus von zwei Prozent, während die EU-Länder insgesamt im Schnitt ein Defizit von 0,5 Prozent auftürmten.
Breitbandinternet ist in vielen Gegenden noch ein Wunschtraum
Nehmen wir das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit. Seit Jahren stagniert Italien. Das Land hat zweifelsohne an Konkurrenzfähigkeit eingebüßt. Die Steuer- und Abgabenlast ist hoch, öffentliche Verwaltung und Justiz langsam, Breitbandinternet in vielen Gegenden noch ein Wunschtraum. Die Malaise wird regelmäßig von internationalen Studien eingefangen. Im Doing-Business-Report der Weltbank, der misst, wie leicht es Länder ihren Firmen machen, wird Italien auf dem 56. Rang von 189 Staaten geführt – hinter Armenien, Ruanda oder Rumänien.
Dennoch ist Italien nach Deutschland – und vor Frankreich – die wichtigste Industrienation der Eurozone. Es ist eines der fünf Länder weltweit, dessen verarbeitendes Gewerbe einen Exportüberschuss von über 100 Milliarden Dollar erzielt. Italienische Mittelständler sind stark im Maschinenbau, bei der Metallverarbeitung, in der Feinmechanik. Die Industrie ballt sich im Norden, in den Regionen Emilia-Romagna, der Lombardei, Piemont und Venetien. Auf die Lombardei entfallen laut der HypoVereinsbank-Mutter Unicredit 22 Prozent des italienischen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Also 345 Milliarden Euro, etwa so viel wie auf den Osten Deutschlands.
Bergamo und Brescia sind die zwei stärksten Industriecluster Europas
Die lombardischen Provinzen Bergamo und Brescia sind mit einer Wertschöpfung von jeweils rund zehn Milliarden Euro die zwei stärksten Industriecluster Europas. Man trifft dort auf Fabriken, wo man sie nicht erwartet. Der Iseosee liegt zwischen Comer See und Gardasee. Am südwestlichen Rand des Sees, am Fuße der Weinreben von Franciacorta, in den Gemeinden Paratico, Sarnico und Villongo ist die Gummibranche zu Hause. Rund 200 Betriebe stellen hier auf einer Fläche von etwa 80 Quadratkilometern Dichtungen aus Kautschuk her, die in Automotoren, Schiffsantrieben, Luftfiltern und Ölraffinerien eingebaut werden. Geschätzter Gesamtumsatz: über eine Milliarde Euro, Tendenz steigend.
Italien hat viele Probleme. Die Herausforderungen sind groß. Doch griechische Verhältnisse herrschen nicht. Warum also nicht mal eine Schlagzeile wie "Die Gummikönige vom Iseosee" wagen? Wenn Sie die lesen sollten, denken Sie bitte in Zukunft an Italien.
Tobias Bayer, Jahrgang 1978, schreibt als freier Autor für die Tageszeitungen "Welt" und die "Neue Zürcher Zeitung" sowie das Finanzmagazin "Euro". Seine Themen sind Italien, die Schweiz und der internationale Kapitalmarkt. Er führt auf Externer Link: www.germalia.de einen Blog.
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