Welche Krise? Ein gutes halbes Jahrzehnt nach Ausbruch der Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise in vielen Ländern der Eurozone hat sich die Perspektive für den deutschen Beobachter fundamental geändert: Musste das Land in der Mitte Europas 2008 und 2009 noch selbst Konjunkturprogramme schnüren, um nicht in den Strudel der internationalen Finanzkrise zu geraten, steht Deutschland heute ökonomisch so gut da wie selten zuvor. Während aber die deutsche Wirtschaft boomt, verdunkelt sich der politische und ökonomische Horizont auf europäischer wie globaler Ebene zusehends.
Viele gravierende Probleme der Eurozone – etwa die hohe Arbeitslosigkeit in Südeuropa, insbesondere unter Jugendlichen, aber auch die anhaltend niedrige Inflation – sind nicht nur ungelöst, sie scheinen sich sogar verfestigt zu haben. Die Zeit überschuldeter Staatshaushalte und einbrechender Ökonomien scheint in den meisten Euro-Krisenländern vorerst gebannt. Zudem ist mit Ausnahme Griechenlands vielerorts Wachstum zu verzeichnen – wenn auch von einem äußerst schwachen Niveau aus. Das ökonomische Auseinanderdriften innerhalb von EU und Währungszone hat sich indes keineswegs verlangsamt, die Konvergenz – eines der großen Ziele der Gründungsväter des Euro – scheint weiter entfernt denn je. Es dürfte noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis die in weiten Teilen des Währungsgebiets dramatischen Auswirkungen der ökonomischen Flaute effektiv eingedämmt worden sind.
Gleichzeitig muss sich Europa als politischer und ökonomischer Raum vielen Herausforderungen stellen: Flüchtlingsbewegungen, neue Nationalismen in einigen Mitgliedsländern, die Bedrohung durch islamistischen Terror und die im Krimkonflikt aufgebrochenen geopolitischen Unwägbarkeiten in den Beziehungen zu Russland stellen Einheit und Wohlstand Europas verstärkt in Frage. Auf der Erfolgsseite ist zu verbuchen, dass der „Grexit“, der Rauswurf Griechenlands aus der Eurozone, im Sommer 2015 vorerst vermieden wurde. Einige Ökonomen werten dies als Signal an die Märkte, dass sich die Währungsgemeinschaft nicht auseinanderdividieren lässt. Andere meinen hingegen, der Verbleib des Landes in der Eurozone werde die Gemeinschaftswährung auf Dauer von innen weiter schwächen.
Auch die mittel- und langfristigen Konsequenzen der groß angelegten Stützungsprogramme der EZB sind derzeit nicht absehbar. Genauso wenig, was es für den Zusammenhalt der Staatengemeinschaft bedeuten könnte, wenn Großbritannien 2017 per Volksabstimmung für den „Brexit“ votiert. Aus diesen Gründen ist das Thema „Europa in der Krise“ nicht nur weiterhin aktuell, es wird auch immer wieder neu und kontrovers diskutiert. In der Staatsschulden-, Wirtschafts- und Bankenkrise des Euroraums vermischen sich ökonomisches und politisches Handeln auf einmalige Weise. Die zentralen Akteure – Regierungen, Parlamente, Zentralbanken, die EU-Kommission, der
Schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme oder strikte Austerität?
Eine Währung, aber divergierende Finanz- und Steuerpolitiken, überschuldete Gemeinwesen und krisenhafte ökonomische sowie soziale Entwicklungen in mehreren Ländern der Eurozone, Europa als Austragungsort globaler Friktionen – das ist ein in dieser Form nie dagewesenes Szenario. Es gibt keine Blaupause, nach der man handeln könnte. Die Akteure bewegen sich bei der Bewältigung der vielen Teilaspekte der Krise auf unbekanntem Terrain. Das ist eine der Ursachen für den immer wieder aufflammenden fundamentalen Dissens zwischen – mindestens – zwei sich widerstreitenden wirtschaftstheoretischen Lagern. Ein Dissens, der auch häufig die obersten Gerichte von EU und Mitgliedsstaaten beschäftigte. Auch wenn die Realität viel komplexer ist, lautet dabei kurz gesagt eine der Kernfragen: Sparen oder Investieren?
Vereinfacht streiten Politik, Ökonomie und publizierte Meinung in dieser Debatte in zwei Lagern: Die eine Seite plädiert für schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme der öffentlichen Hand, um Investitionen anzukurbeln und so Arbeitsplätze und bessere Lebensbedingungen zu schaffen. Die andere hält strikte
Im Kern geht es dabei immer wieder um die Kontroverse zwischen postkeynesianischer Ausgabenpolitik auf der einen sowie strikter neoklassischer Aus- und Aufgabenbegrenzung auf der anderen Seite. Das sind die Pole, um die fachliche wie öffentliche Debatten in der Euro-Krise im Grunde kreisen. Der damit einhergehende Dissens über stärker regulatorische Eingriffe einerseits und Laissez-Faire der Märkte andererseits strahlt auch in aktuelle Diskussionen hinein, etwa in die zur Bildung einer europäischen Bankenunion.
Anknüpfen an Diskussionen und Kontroversen zwischen den Denkschulen
Genau an die sich zwischen den Denkschulen öffnenden Diskussionen und Kontroversen knüpfen die vorliegenden Debatten zum Thema "Europäische Schuldenkrise" an. Der ungelöste Disput soll in diesem Online-Dossier anhand von 17 Fragen zum Thema paradigmatisch erläutert werden.
Die Debatten ergänzen grundlegende Statistiken der Eurozonen-Länder wie die Entwicklung von Bruttoinlandsprodukt, Arbeitslosigkeit, Lohnentwicklung oder Staatsschulden. Über deren Interpretation streiten sich jeweils zwei ausgewiesene Expertinnen und Experten aus den sich über Kreuz liegenden Lagern. Ähnlich diskursiv sind die Videointerviews konzeptioniert: Sechs Fachleute aus den verschiedenen Denkschulen stellen sich hier vor der Kamera sechs grundlegenden Fragen zur Eurokrise.
Die Beiträge in der Manier eines Pro und Contra sollen dabei nie rein wissenschaftlicher Schlagabtausch sein, sondern auch interessierten Laien Einblick in die Kontroverse um die Euro-Krise verschaffen. Weiteres Grundlagenwissen vermitteln eine Zeitleiste, ein Quiz sowie ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen.