Die Grafik mit der Entwicklung der relativen Lohnstückkosten in ausgewählten Ländern zeigt eines der Hauptprobleme, mit denen die Eurozone derzeit zu kämpfen hat. Es ist deutlich zu erkennen, dass in den Jahren 2000 bis 2009 die Indizes systematisch auseinanderdriften. Länder wie Griechenland, aber auch – nicht in der Grafik – Spanien und Irland erlebten in dieser Zeit einen starken ökonomischen Boom, getrieben von hohem Konsum und einer Blasenbildung im Immobiliensektor. Dies führte zu starken Steigerungen bei Preisen und Löhnen, die die Arbeitskosten im Vergleich zu anderen Ländern der Eurozone, vor allem Deutschland, ansteigen ließen.
In Italien, Frankreich und Belgien lief es etwas anders. Die vergleichsweise Verteuerung der Lohnstückkosten resultierte hier nicht aus einem wirtschaftlichen Aufschwung, sondern aus der Verringerung des Produktivitätswachstums sowie der Unfähigkeit dieser Staaten, in Folge auch die Löhne zu senken. Dementsprechend überflügelten die Lohnsteigerungen in diesen Ländern die Produktivitätszuwächse. Als Folge stiegen die Lohnstückkosten im Vergleich zu anderen Staaten an – vor allem im Vergleich zum ökonomisch potentesten Eurozonenstaat Deutschland. Hier passierte genau das Gegenteil: Die Lohnzuwächse waren jahrelang geringer als die Produktionssteigerungen. Deshalb sanken die Lohnstückkosten in Deutschland im Vergleich zu allen anderen Ländern der Eurozone.
"Seit dem Crash im Jahr 2010 haben die Länder mit dem größten Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, also Griechenland, Spanien und Irland, einen Prozess schmerzhafter Reformen erleiden müssen."
Lohnstückkosten in der Eurozone (bpb) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de
Lohnstückkosten in der Eurozone (bpb) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de
Unterschiedliche Lohnstückkosten sind wichtige Indikatoren für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes. Ohne Zweifel waren die unterschiedlichen Bewegungen bei der Höhe der Lohnstückkosten die wichtigsten Faktoren, die zwischen 2000 und 2009 von außen auf die Wettbewerbsfähigkeit einwirkten. Länder mit sinkender Wettbewerbsfähigkeit hatten gleichzeitig zunehmend mit steigenden Leistungsbilanzdefiziten zu kämpfen. Die Schuldenstände explodierten vielerorts förmlich, vor allem in den Peripherieländern Griechenland, Spanien, Irland und Portugal. Deutschland dagegen sammelte mit seiner stark gesteigerten Wettbewerbsfähigkeit stetig steigende Leistungsbilanzüberschüsse an – und wurde zum größten Gläubiger der Eurozone. Als offensichtlich wurde, dass die Schuldenstände der Defizitländer nicht nachhaltig sind, brach das System zusammen.
Seit dem Crash im Jahr 2010 haben die Länder mit dem größten Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, also Griechenland, Spanien und Irland, einen Prozess schmerzhafter Reformen erleiden müssen. Zu dem Prozess innerer Abwertungen gehörten unter anderem harte Lohneinschnitte. Es zeigte sich, dass darunter vor allem der öffentliche Dienst zu leiden hatte, nicht so stark betroffen war im Vergleich dazu die Privatwirtschaft.
"Während also der Wettbewerbseffekt der Reformen relativ gering war, haben die Kürzungen in den öffentlichen Haushalten vor allem zu einem starken Abfall des Konsums geführt. Eine direkte Folge daraus: tiefgreifende Rezessionen."
Die sinkenden Lohnstückkosten haben in Griechenland seit 2010 kaum zu einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit geführt als vielmehr vor allem zu sinkenden Löhnen und Gehältern im öffentlichen Dienst. Ähnliches war in Spanien und Irland zu beobachten. Während also der Wettbewerbseffekt der Reformen relativ gering war, haben die Kürzungen in den öffentlichen Haushalten vor allem zu einem starken Abfall des Konsums geführt. Eine direkte Folge daraus: tiefgreifende Rezessionen.
Der Kontrast zu den anderen Ländern in der Grafik ist frappierend. Weder in Frankreich noch in Italien, Belgien und auch in Deutschland gab es seit 2010 bedeutende Anpassungen bei den Lohnstückkosten. Als Ergebnis sind die Leistungsbilanzen auf einem vergleichbaren Niveau geblieben.
"Für Frankreich, Italien und Belgien bedeutet das, dass die Inflation sinken muss, während Konsum und Löhne in Deutschland anziehen sollten."
All das verheißt wenig Gutes für die Zukunft der Eurozone. Auf der einen Seite gibt es im Währungsraum die Peripheriestaaten mit harten Einschnitten und daraus folgenden tiefen Rezessionen und hoher Arbeitslosigkeit, während die Wettbewerbsfähigkeit hier gleichzeitig nur wenig zugenommen hat. Auf der anderen Seite haben auch die großen Eurozonenländer Frankreich, Italien und Deutschland einige Reformen unternommen – oder stehen kurz davor, es zu tun.
Für Frankreich, Italien und Belgien bedeutet das, dass die Inflation sinken muss, während Konsum und Löhne in Deutschland anziehen sollten. Dennoch gibt es immer noch starke Widerstände gegen solche unkomfortabel erscheinenden Anpassungen. Letztlich sind derartige Reformen in einer Währungsunion unumgänglich. Ohne sie wird die Eurozone früher oder später wieder in eine Krise taumeln. Fraglich, ob sie ein derartige Unwucht ein weiteres Mal aushält.
Manfred J. M. Neumann (© Rainer Hotz)
Manfred J. M. Neumann (© Rainer Hotz)