Rudolf Hickel zufolge hat die Rettungspolitik der Troika den ökonomischen Absturz Griechenlands forciert und ist gescheitert. Athen brauche Luft zum Atmen und unmittelbare Wirtschaftshilfen. Von der EU fordert der Ökonom einen Schuldenentlastungsfonds – nicht allein für Griechenland, sondern für alle Krisenländer.
Die immer wieder verbreiteten Erfolgsmeldungen zur ökonomischen Entwicklung Griechenlands sind ärgerlich. Sie erwecken den Eindruck, die finanziellen Hilfen der Geberländer könnten eingestellt werden, Griechenland schaffe es aus eigener Kraft. Diese Schlussfolgerungen sind unverantwortlich. Das durch die Geberländer aufoktroyierte Tauschgeschäft – Hilfen zum öffentlichen Schuldenmanagement gegen rigorosen Abbau staatlicher Ausgaben – ist nicht aufgegangen. Das "Comeback" Griechenlands auf den Kapitalmärkten, sinkende Handelsbilanzdefizite sowie die leichten Etatüberschüsse im Jahr 2013 (ohne Zinsen und Tilgungen) sind keine Zeichen eines sich abzeichnenden Endes der schweren Systemkrise. Die Wirtschaft ist derart tief abgestürzt, dass der darauf bezogene Schuldenstand auf extremer Höhe verweilt. Die durch die Troika, die EU, den Interner Link: Internationalen Währungsfonds sowie die Interner Link: Europäische Zentralbank zu verantwortende "Rettungspolitik" hat den ökonomischen Absturz forciert; sie ist gescheitert.
"Der Anteil der Staatsverschuldung an der gesamtwirtschaftlichen Produktion steigt absehbar auch in den kommenden Jahren."
Im Zentrum dieser Politik stand bisher das Ziel, die Staatsverschuldung Griechenlands gemessen am Interner Link: Bruttoinlandsprodukt (BIP) durch massive Kürzungen bei den öffentlichen Aufgaben, eine Erhöhung vor allem von Verbrauchssteuern sowie die Privatisierung öffentlicher Unternehmen und die Senkung der Arbeitseinkommen zurückzuführen. Die Staatsausgaben bezogen auf das BIP sind zwar gesunken. Die Folge waren jedoch Steuerausfälle und steigende Krisenkosten.
Deshalb steigt der Anteil der Staatsverschuldung an der gesamtwirtschaftlichen Produktion, absehbar auch in den kommenden Jahren. Trotz der Finanzhilfen ist die Staatsverschuldung in Relation zum BIP von bereits hohen 107,3 Prozent im Jahr 2006 bis 2013 auf 179,5 Prozent gestiegen. Im vergangenen Jahr stieg die auch die absolute Neuverschuldung erneut um fast sieben Milliarden Euro. Die von den Geberinstitutionen eingesetzte Troika-Kontrollgruppe weist darauf hin, dass auch 2020 mit einer Schuldenstandquote von 124 Prozent zu rechnen ist – mehr als doppelt so viel wie im Maastricht-Vertrag erlaubt.
"Von totaler Perspektivlosigkeit betroffen sind die Jugendlichen: über die Hälfte hat keinen Job."
Der Grund für diese fatale Entwicklung ist schlicht: Zwischen der von der Interner Link: Troika verordneten Schrumpfpolitik und der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gibt es eine negative Rückkoppelung. Die Wirtschaft ist wegen des Rückgangs der Nachfrage infolge von zunehmender Armut abgestürzt. In Griechenland schrumpft das wirtschaftliche Wachstum seit 2008 kontinuierlich, 2011 waren es gar über sieben Prozent Minus. 2013 war es immer noch ein Rückgang von mehr als vier Prozent. Wenn das Bruttoinlandsprodukt schneller sinkt als die Neuverschuldung reduziert wird, muss die Staatsschuldenquote steigen.
Staatliche Schuldenstandquote in Griechenland 1999-2015
Auch die scheinbar positive Entwicklung des Handelsbilanzdefizits ist kein Zeichen einer erfolgreichen Rettung, sondern Folge der ökonomischen Dauerkrise. Bei chronisch niedrigen Exporten sinken infolge rückläufiger Binnennachfrage auch die Importe. Diese makroökonomischen Kennziffern signalisieren katastrophale Belastungen: Durch den Sozialabbau hat sich die Armut tief in der Mittelschicht ausgebreitet, wegen der reduzierten Löhne ist der Konsum geschrumpft. Die Arbeitslosenquote ist seit 2008 kontinuierlich angestiegen, den Höchststand von 27 Prozent erreichte sie im September 2013. Von totaler Perspektivlosigkeit betroffen sind die Jugendlichen: über die Hälfte hat keinen Job.
"Ein Drachmen-Griechenland bliebe auf lange Sicht eine Elendsökonomie innerhalb der EU."
Griechenland muss gerettet werden. Dazu ist ein radikaler Kurswechsel erforderlich. Die Forderung, Griechenland aus dem Euro-Währungssystem auszusteuern, würde ökonomisch, sozial und fiskalisch allerdings zu einer sich verfestigenden Perspektivlosigkeit führen. Denn: Bei einem strukturell schwachen Exportsektor bringen die Preisvorteile einer stark abgewerteten Drachme im internationalen Wettbewerb keine Lösung. Der Exportsektor muss erst gestärkt werden. Der hohe Anteil an importierten Gütern und Dienstleistungen würde zum Inflationsimport führen und weitere Realeinkommensverluste erzeugen. Der einzige Vorteil durch den verbilligten Export von Tourismusdienstleistungen fällt da kaum ins Gewicht. Ein Drachmen-Griechenland bliebe auf lange Sicht eine Elendsökonomie innerhalb der EU.
Da weitere Schuldenschnitte wegen des hohen Anteils öffentlicher Kreditgeber nicht sinnvoll sind, sollte die EU einen Schuldenentlastungsfonds auflegen – nicht allein für Griechenland, sondern für alle Krisenländer. Dieser Fonds sollte einen Großteil der griechischen Staatsschulden übernehmen und abwickeln. Die Finanzierung der Zinslasten sollte eine EU-weite Vermögensabgabe übernehmen. Darüber hinaus müssten zur Stabilisierung der gesamten Währungszone Interner Link: Eurobonds eingeführt werden, Staatsanleihen, für die alle Länder gemeinschaftlich haften. Auf der Basis einzuhaltender Regeln würde die öffentliche Kreditaufnahme dann zu einer Gemeinschaftsaufgabe des Euroraums erhoben.
"Das Land braucht Luft zum Atmen – und unmittelbare Wirtschaftshilfen."
Zunächst muss Griechenland jedoch von dem von der Troika verordneten Schrumpfkurs befreit werden. Das Land braucht Luft zum Atmen – und unmittelbare Wirtschaftshilfen. Aus der Finanzierung des Schuldendienstes über den Rettungsfonds ist bislang kein Euro in den Aufbau der Wirtschaftsstruktur geflossen. Das sollte ein umfassender "Marshall-Plan" erreichen, der sich auf die Stärkung der Wachstumskräfte konzentriert. Die Förderung vorhandenen technologisch-innovativen Potenzials ist dabei wichtig. Der Marshall-Plan sollte vor allem die öffentliche Infrastruktur sowie die mittelständischen Unternehmensstrukturen stärken und ausbauen.
Allmählich kapieren auch die hartnäckigen Protagonisten der bisherigen Interner Link: Austeritätspolitik, dass diese krisenverschärfend gewirkt hat – und verlangen "mehr Zeit beim Schuldenabbau durch Reformen". Aber: Nicht die verabsolutierte Zielmarke "Abbau öffentlicher Schulden", sondern die wirtschaftliche, soziale und ökologische Politik des Aufbaus muss den Ausgangspunkt bilden. Damit lassen sich mittelfristig über sinkende Krisenkosten und wachsende Steuereinnahmen auch Staatsschulden abbauen – und vermeiden. Die Solidarität der Euro-Länder ist eine wichtige Grundlage. Griechenland muss jedoch selbst als Eigenbeitrag dringend Reformen im öffentlichen Sektor beispielsweise durch konsequenteren Steuereinzug und die Bekämpfung der Korruption durchsetzen. Nur das Zusammenspiel von solidarischer Hilfe einerseits und der Reformbereitschaft in Griechenland andererseits lässt eine positive Zukunft des Landes auch zugunsten des gesamten Eurosystems realistisch scheinen.
Prof. Dr. Rudolf Hickel, Jahrgang 1942, war Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Bremen und von 2001 bis 2009 Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft. Im März 2014 veröffentlichte er mit Johann-Günther König und Klaus Kellner "Euro stabilisieren – EU demokratisieren".
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