Die Spanier haben es mit einem Gemisch aus Improvisationsfähigkeit, Fatalismus und großer Zähigkeit immer wieder vermocht, schwere Krisen zu überstehen, sagt der Schriftsteller Paul Ingendaay. Historisch gesehen wirke die gegenwärtige Krise daher wie eine Rückkehr zum Normalzustand. Spanien stünde nicht Abgrund, sondern nur da, wo es immer stand.
Es wäre albern, die Krisensymptome Spaniens zu beschönigen. Doch die fundamentalen Zweifel an der Wirtschaftskraft des Landes, die heute bestehen, durfte man auch schon in den sogenannten "guten Jahren" hegen. Wer sich mit offenen Augen im Land umschaut, um ein Bild von der sozialen Wirklichkeit zu gewinnen, wird über Interner Link: Bruttoinlandsprodukt und Wirtschaftsleistung Spaniens heute skeptisch urteilen. Strukturell waren aber schon um 2004, dem Höhepunkt des Immobilienbooms, dieselben Defizite zu beobachten wie heute. Wenn Spanien damals mit unzureichenden Strukturen in der "Champions League" der europäischen Wirtschaftsmächte mitspielen konnte, wie es Kollege Michael Psotta formuliert, dann wäre es vielleicht an der Zeit, einen Schritt von den Bilanzen zurückzutreten und zu fragen, welche soziologischen und kulturellen Eigenheiten diese Wirtschaft dominieren.
Jeder, der das ländliche Spanien bereist, ist erstaunt über die Einfachheit, in der die Menschen dort leben. Feste Gewohnheiten, ritualisierte Essenszeiten nach uneuropäischem Stundenplan und intensive soziale Aktivität prägen die spanischen Gemeinden. Die Fiesta des Ortspatrons stellt meist den Höhepunkt des Jahres dar und legt oft tagelang die Geschäfte lahm. Offenbar beruht das Gefühl für Sicherheit weniger auf materiellen als auf Gemeinschaftswerten. Der karg lebende Rentner in Aragonien oder der Extremadura, der sich vormittags mit seinen Altersgenossen an den Sitzbänken der Plaza trifft, dürfte ein erfüllteres Leben führen als sein wohlhabender, aber nörgeliger deutscher Altersgenosse. Diese lokale Verwurzelung, die Vereinsamung entgegenwirkt und welche die Spanier mit dem liebevollen Begriff patria chica (kleines Vaterland) umschreiben, steht zugleich Arbeitsmobilität und Karrierestreben im Weg.
"Wer in seinem Dorf hocken bleibt und sich der Dynamik des modernen Arbeitslebens mit seinen vom Aufstiegshunger diktierten Wechseln verweigert, bleibt meistens arm."
Wir haben es also mit einem dialektischen Phänomen zu tun: Was im Gesellschaftlich-Lebenspraktischen segensreich wirkt – eine Nestwärme, die ebenso auf dem Dorf wie in den traditionellen Vierteln der Großstädte anzutreffen ist –, bringt im selben Zug eine Tendenz zu Unbeweglichkeit, Provinzialismus und vorauseilender Selbstbescheidung hervor. Mit leicht errechenbaren Folgen für die Wirtschaftskraft des Landes. Denn wer in seinem Dorf hocken bleibt und sich der Dynamik des modernen Arbeitslebens mit seinen vom Aufstiegshunger diktierten Wechseln verweigert, bleibt meistens arm.
Staatliche Schuldenstandquote in Spanien 1999-2015
Nun hat aber auch dieser Umstand seine Dialektik. Die erwähnten Sozialtugenden, zu denen ebenfalls die Großzügigkeit gehört, haben Spanien schon früh zu einem idealen Gastgeberland gemacht. Deutsche, britische oder skandinavische Reiseberichte aus dem neunzehnten Jahrhundert erzählen bereits von einem einerseits stolzen und individualistischen, andererseits lässigen Land, das den Genüssen des sozialen Miteinanders (Essen, Trinken, Feiern) einen wichtigen Platz im Leben einräumt. Es ist deshalb bezeichnend, dass der Tourismus – selbst mit den ideologischen Hemmnissen der Franco-Diktatur – zum dominierenden Wirtschaftszweig werden konnte, der rund ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts einspielt und obendrein von der Rezession nicht so stark betroffen war. Soziologisch lässt sich auch der Immobilienboom über soziale Tugenden erklären. Wer sich auf Pump ein Eigenheim zulegte, statt zu mieten, gab zu erkennen, dass er verwurzelt leben wollte, nicht mobil. Und wer als Bauunternehmer Ferienhaussiedlungen gigantischen Ausmaßes in die Landschaft setzte, spekulierte auf ausländische Nachfrage und den Wert Spaniens als Tourismusziel.
Auch Korruption und Autoritätshörigkeit spielen in diesem Sozialcharakter eine Rolle. Spanische Politiker treten oft als Granden auf, die streng personalistisch Vergünstigungen zu vergeben haben. Mit demokratischem Machtverständnis ist es da nicht weit her. Die Regierungschefs der 17 Comunidades wirken eher wie Stammeshäuptlinge als wie legitimationsbedürftige Vertreter ihrer autonomen Regionen. Ganz wie im Familienverband, der durch Blutsbande funktioniert, wird Politik zum Vehikel für Gefälligkeiten. Das lähmt das Gefühl, jeder könne durch eigenes Bemühen vorankommen, und verhindert die Entstehung einer merit society, einer leistungsorientierten Gesellschaft.
"Historisch gesehen wirkt die gegenwärtige 'Krise' deshalb eher wie die Rückkehr zum Normalzustand."
So kritikwürdig dieses traditionalistische Politikverständnis ist, so sehr haben es die Spanierinnen und Spanier immer wieder vermocht, darunter hinwegzuschlüpfen und private Gegenwelten zu errichten. Durchwurschteln und Überleben war schon immer ihre Sache. Da sie ihrem Staat seit jeher nicht viel zutrauen, rechnen sie nicht damit, von ihm bei ihrer wirtschaftlichen Aktivtät unterstützt zu werden. Die Folge ist ein typisch hispanisches Gemisch aus Improvisationsfähigkeit, sturem Fatalismus und großer Zähigkeit. Historisch gesehen wirkt die gegenwärtige "Krise" deshalb eher wie die Rückkehr zum Normalzustand. Spanien war seit über vierhundert Jahren kein reiches Land mehr, und schon Philipp II. (1527-1598) hatte seinen Staat dramatisch überschuldet. Von einer Bürgergesellschaft, in der alle am Wohlstand partizipieren, konnte ohnehin nie die Rede sein.
Was sagt das über unser Bild von Spanien? Allenfalls, dass der europäische Blick wie ein Teleskop wirkt, das nur einen kleinen Ausschnitt zeigt. In Europa sorgt man sich um die hohe spanische Arbeitslosigkeit. In Spanien weiß jeder, dass die Schattenwirtschaft einen Teil der Menschen auffängt. Es ist zwar nicht gut, dass 35-jährige aus Not wieder zu ihren Eltern ziehen. Doch man darf auch einmal fragen, wie viele Deutsche dazu fähig wären. Spanien am Abgrund? Nein, nur da, wo es immer stand. Eine reformierbare Gesellschaft, gewiss, aber erstaunlich intakt und, wenn nicht alles täuscht, ziemlich im Einklang mit sich selbst.
Paul Ingendaay, Jahrgang 1961 in Köln, lebt als Schriftsteller und Journalist in Madrid. Von ihm erschien unter anderem "Die Nacht von Madrid" und "Gebrauchsanweisung für Spanien".
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