Für Martin Alioth waren Dauer und Ausmaß der irischen Sparpolitik beispiellos. Doch das unmittelbare Ziel wurde aus Sicht des Journalisten mit den Ausgabenkürzungen und Abgabenerhöhungen erreicht: Ausländische Direktinvestitionen fließen wieder nach Irland und die Kapitalmärkte leihen dem Land Geld zu moderaten Zinsen.
2007, im letzten Jahr des "keltischen Tigers" und den damit assoziierten hohen Wachstumsraten, lag Irlands Arbeitslosenquote bei 4,6 Prozent - nahe dem Rekordtief, fast Vollbeschäftigung. Fünf Jahre später kletterte die Arbeitslosigkeit auf über 15 Prozent. Besonders hart traf es die Beschäftigten der Baubranche. Ihre Zahl war vorübergehend um 60 Prozent abgesackt. Erst in jüngster Zeit ist hier wieder eine Erholung auf niedrigem Niveau erkennbar. Die Arbeitslosigkeit ist inzwischen wieder insgesamt auf 11 Prozent der Erwerbsfähigen gefallen.
Das Ausmaß der Wirtschafts- und Finanzkrise in Irland hatte die Bandbreite herkömmlicher Konjunkturschwankungen gesprengt. Entsprechend radikal musste die Remedur ausfallen. Denn Irland ist, wie kaum ein anderes europäisches Land, auf das Wohlwollen von internationalen Investoren und Kapitalmärkten angewiesen. Der Grund dafür liegt in der Offenheit der irischen Volkswirtschaft, oder anders gesagt, in ihrer Abhängigkeit vom Außenhandel.
Irlands Externer Link: Exporte sind höher als die gesamte Wirtschaftsleistung (BIP) des Landes. Der so genannte Außenbeitrag, also der Netto-Überschuss der Ausfuhren, ist in absoluten Zahlen der dritthöchste in der EU, nach Deutschland und den Niederlanden. Durch die gesamte Krise hindurch blieb der Außenbeitrag positiv und stabilisierte so die überaus wacklige Wirtschaft. Diese strukturellen Gegebenheiten gelten nicht für andere Euro-Sorgenkinder wie Portugal oder Griechenland.
"Es lag somit im existenziellen Interesse des Landes, die Ungleichgewichte im Staatshaushalt radikal zu beseitigen."
Zwischen 80 und 90 Prozent der Exporte werden von Firmen in ausländischem Besitz hergestellt, also von multinationalen Unternehmen, die überwiegend aus den USA kommen, etwa die Europa-Ableger von Technologiekonzernen wie Apple, Facebook und Google oder Allergan, dem Hersteller des Anti-Faltenmittels Botox. Ihre künftigen Investitionsentscheidungen – ebenso wie das Verhalten neuer Anleger – werden maßgeblich von Irlands Stabilität und Glaubwürdigkeit als Werk- und Vertriebszentrum bestimmt. Es lag somit im existenziellen Interesse des Landes, die Ungleichgewichte im Staatshaushalt radikal zu beseitigen. Nicht zuletzt deshalb, weil die Kapitalmärkte in Form höherer Rendite-Forderungen zeigten, dass ihre Geduld mit dem finanzpolitischen Kurs der Regierung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Brian Cowen (2008-2011) erschöpft war.
Noch 2006 wies der irische Staat einen Überschuss von drei Prozent des BIP auf. Dieser Saldo verwandelte sich bis 2009 in einen Fehlbetrag in Höhe von fast 12 Prozent. Dabei berücksichtigt diese Ziffer nicht einmal die ersten Kapitalspritzen für die irischen Banken. Die beängstigende Geschwindigkeit, mit der sich die Kluft öffnete, ist nicht direkt auf Schlendrian und Prasserei in den "guten Zeiten" zurückzuführen, sondern vielmehr auf den Opportunismus auch vorangegangener irischer Regierungen. Sie hatten sich allzu sehr darauf verlassen, dass die Einnahmeströme aus dem privatem Konsum und dem Immobiliensektor wie in den Jahren 2002 bis 2007 weitersprudelten. Das war die Phase des keltischen Tigers, als Irland nicht bloß den geschaffenen Mehrwert verfraß und verbaute, sondern sich auch noch stark bei ausländischen Banken verschuldete – dank der tiefen Euro-Zinssätze. Als die Immobilienblase platzte und den Bankensektor mit sich in die Tiefe riss, brach nicht nur die Beschäftigung massiv ein. Auch die Staatseinnahmen stürzten ab, während die Ausgaben wegen höherer Sozialzuschüsse jäh anstiegen. Im laufenden Jahr soll die Neuverschuldung auf 3,7 Prozent, 2015 sogar unter die für Euro-Länder vorgeschriebenen drei Prozent des BIP sinken.
Dauer und Ausmaß der fiskalischen "Korrektur" waren und sind beispiellos, doch das unmittelbare Ziel wurde erreicht: Ausländische Direktinvestitionen fließen wieder nach Irland, die Kapitalmärkte leihen dem Land inzwischen wieder Geld für zehn Jahre zu einem Zinssatz von weniger als zwei Prozent.
"Mit einer Bevölkerung von 4,5 Millionen ist Irland zu klein für die Abschottung."
Es ist weder populär noch profitabel, wenn Journalisten sich der vorherrschenden Lehrmeinung der politischen Eliten anschließen. Doch in diesem Fall gab es keine erkennbare Alternative. Es trifft zweifellos zu, dass die Interner Link: Europäische Zentralbank mit ihren dogmatischen Vorschriften die irische "Via Dolorosa" verlängerte, vor allem durch die Art und Weise der Bankenrettung. Das Ungleichgewicht im Staatsaushalt aber musste durch schmerzhafte Ausgabenkürzungen und Abgabenerhöhungen korrigiert werden, denn es war fast ausschließlich selbstverschuldet. Irlands Staatsquote bleibt im internationalen Vergleich niedrig – entsprechend fragwürdig ist allerdings auch die Qualität staatlicher Dienstleistungen, namentlich im Gesundheitsbereich.
Irische Anomalien wie der Verzicht auf jegliche Vermögenssteuer sind unter dem Druck der internationalen Troika beseitigt worden. Niedrige Einkommen leisten nun mit einer USC (Universal Social Charge) genannten Sozialabgabe einen Beitrag. Mit anderen Worten: die Steuerbasis wurde verbreitert. Zudem wurde die unsoziale Mehrwertsteuer auf 23 Prozent erhöht, fast ohne politische Diskussion.
Mit einer Bevölkerung von 4,5 Millionen ist Irland zu klein für die Abschottung. Dieser Weg wurde bereits in den 1930er-Jahren mit fatalen Folgen ausprobiert. Auch im Nachhinein erscheint es richtig, dass Irland vorrangig die Wiederherstellung seiner internationalen Reputation verfolgte. Die Wählerinnen und Wähler entschieden sich 2012 dementsprechend mit einer sechzigprozentigen Mehrheit dafür, die strengen Vorschriften des Interner Link: EU-Fiskalpaktes zu billigen. Sie taten dies gewiss unter äußerem Druck, aber vermutlich auch mit einer Portion resignierter Einsicht. Die üblen Erfahrungen der Wirtschaftskrise haben nicht wenige davon überzeugt, dass eine finanzpolitische Oberaufsicht der EU auch Vorteile haben kann.
Martin Alioth, Jahrgang 1954, ist Irland-Korrespondent unter anderem für die Neue Züricher Zeitung. Er lebt seit 1984 dort, gemeinsam mit Neufundländern und Eselinnen.
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