Zu Beginn dieses Jahrtausends war Deutschland noch "der kranke Mann Europas": niedrige Wachstumsraten, hohe Arbeitslosenquote, unkontrollierte Staatsverschuldung, gleichzeitig sanken die privaten Investitionen. Heute wird Deutschland in ganz Europa bewundert und beneidet, möglicherweise auch gefürchtet. Dagegen sind Länder wie Spanien, Griechenland und Italien in einer beispiellosen Krise versunken. Ihre Arbeitslosenquoten sind auf Rekordniveau, der soziale Verfall greifbar. Selbst Frankreich, das wirtschaftlich zweitstärkste Land der Eurozone, bringt nicht die politische Kraft auf, Reformen einzuleiten, die ihm aus einer inzwischen chronischen Stagnation heraushelfen könnten.
Deutschland ist also eine überraschende Wende gelungen. Die Gründe dafür lassen sich gewissermaßen doppelt definieren – historisch und strukturell, was mit den besonderen Eigenschaften und Vorzügen des deutschen Modells zusammenhängt. Der eigentliche Grund für das deutsche Wunder hat einen Namen: Agenda 2010. Der Chef der damaligen rot-grünen Regierung, Gerhard Schröder, kündigte am 14. März 2003 im Bundestag die radikalste Reform des Sozialstaates in der deutschen Nachkriegsgeschichte an: dem großzügigsten Wohlfahrtsstaat Europas (nur die skandinavischen Länder lagen weiter vorn) wurde eine drastische Diät verordnet. Die Kriterien für die Gewährung von Arbeitslosengeld wurden verschärft, weitere Sozialleistungen abgespeckt. Die große Koalition hob zudem das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre an.
"Dem großzügigsten Wohlfahrtsstaat Europas (nur die skandinavischen Länder lagen weiter vorn) wurde eine drastische Diät verordnet."
Hinzu kam eine strukturelle Umstellung des Wirtschafts- und Produktionssystems, um es in die Lage zu versetzen, die Herausforderung der Globalisierung zu meistern. Die Agenda 2010 war eine schwerwiegende Entscheidung für einen sozialdemokratischen Spitzenpolitiker, dessen Partei lange Jahre die Unantastbarkeit der Sozialversicherung "von der Wiege bis zur Bahre" zur eigenen Existenzberechtigung erklärt hatte. Wie sich später herausstellte, hat die Reform Deutschland "gerettet", aber die SPD in die Krise gestürzt. Die Schröder-Regierung brach nicht nur mit einer etablierten Tradition, was das Verhältnis zwischen Unternehmern und Lohnabhängigen betraf, sondern definierte auch den Zusammenhang von bürgerlichen Rechten und staatlichen Aufgaben neu.
Die Reformen Schröders haben Früchte getragen. Deutschland ist heute die führende Exportnation – so wie es die Bonner Republik in den 1980er und 1990er Jahren gewesen war – und zudem das Land mit der geringsten Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Darüber hinaus hat Deutschland viel in Forschung und Kultur investiert, weil es in der Ausbildung der nachwachsenden Generationen die wichtigste strategische Waffe Europas sieht, um auf dem globalen Markt wettbewerbsfähig zu sein. Immerhin haben das inzwischen auch Krisenländer wie Spanien, Italien und Griechenland begriffen.
"Wie sich später herausstellte, hat die Reform Deutschland 'gerettet', aber die SPD in die Krise gestürzt."
Arbeitslosenquoten in der Eurozone (bpb) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de
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"In einer Welt, die beherrscht wird von billigen Arbeitskräften", schreibt der CNN-Anchorman Fareed Zakaria in der Washington Post, "lohnt es sich für die reichen Länder, hochspezialisierte Fachkräfte auszubilden, die in der Lage sind, hochwertige Produkte herzustellen und auf ein langfristiges Wachstum und soziale Stabilität zu setzen."
So gründeten die Reformen in Deutschland nicht auf eine Potenzierung befristeter Arbeitsverhältnisse, sondern auf unternehmensinterne Mobilität. Diese Mobilität setzt nicht allein auf flexible Arbeitszeiten, Teilzeitarbeit und Überstunden, sondern auch auf aktive Mobilität innerhalb eines Unternehmens. Sie sorgt dafür, dass die Beschäftigten in regelmäßigen Abständen, vor allem aber in Zeiten der Krise, ihre Kenntnisse durch Weiterbildung vertiefen, um eines Tages anspruchsvollere Aufgaben übernehmen zu können.
"Die Kraft, die aus Deutschland heute einen Referenzpunkt für die Europapolitik macht, ist ein Modell für einen Kapitalismus, dessen Grundlage ein korporatives System gewerkschaftlicher Beziehungen bildet."
Die Mobilität ist "ein sozialer und beruflicher Fahrstuhl, der vor allem innerhalb des Unternehmens genutzt wird und der [...] zur außerordentlich und überraschend guten Behauptung der deutschen Industrie in der Welt beiträgt." Mit dieser Formulierung bezog sich der einstige EU-Kommissionspräsident und italienische Premier Romano Prodi bereits 2011 direkt auf das eigentliche Herzstück der Sozialpartnerschaft, die einer der Eckpfeiler, wenn nicht gar das Fundament des Modells Deutschland ist.
Diese Sozialpartnerschaft ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Kompromisses, der den Gewerkschaften wichtige Kontrollfunktionen und Mitbestimmungsrechte einräumt, ohne durch den institutionalisierten Dialog aber Entscheidungsprozesse und Neuerungen im Unternehmen zu lähmen. Die Differenz zwischen den einzelnen sozialökonomischen Modellen – dem konsensorientierten Modell Deutschlands und dem konfliktorientierten der Mittelmeerländer (in erster Linie Frankreichs, Italiens, Spaniens) – spiegelt sich auch in den unterschiedlichen Strategien wider, die von Gewerkschaften und Unternehmen in den jeweiligen Ländern verfolgt werden.
Sie verursacht direkt die derzeit noch wachsende Kluft zwischen den Wirtschaftsräumen der Eurozone. Und sie dürfte neben den unterschiedlich hohen Staatsschulden als Hauptgrund für die gegenwärtige Krise der gemeinsamen Währung gelten. Die Kraft, die aus Deutschland heute, in den Wirren einer erschütternden Finanzkrise, einen Referenzpunkt für die Europapolitik macht, ist ein Modell für einen Kapitalismus, dessen Grundlage ein korporatives System gewerkschaftlicher Beziehungen bildet. Dazu kommen konsensorientierte Strukturen im Kontext eines demokratischen Rechtsstaates. Sein Ziel ist es, ein optimales Funktionieren des freien Marktes zu gewährleisten, aber auch – dank eines robusten Systems sozialer Sicherung – einer größtmöglichen Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zum erwirtschafteten Reichtum zu ermöglichen.
Ulrike Guérot (© Privat)
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