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Die Mär vom gesunden Staat | Europäische Wirtschaftspolitik | bpb.de

Europäische Wirtschaftspolitik Globale Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine Die ukrainische Wirtschaft und ihre Zerstörung Debatte: Wie die Ukraine wiederaufbauen? Die Ukraine als neoliberales Musterland? Ein moderner, nachhaltiger und inklusiver Wiederaufbau Angriff auf Europas Werte Ökonomische Perspektiven des EU-Beitritts der Ukraine Europa wird gebraucht Russland: Was können die EU-Sanktionen bewirken? Russland auf dem Weg in die Kriegswirtschaft Reaktion der BRICS auf den Ukraine-Krieg Wie der Krieg den globalen Süden trifft Die Neuvermessung der Weltwirtschaft Herausforderungen der Europäischen Wirtschaft Wie Europa von russischer Energie abhängig wurde Wie sieht die künftige Energieversorgung Europas aus? Was bedeutet der Green Deal für Europa? Macht der Green Deal Europa nachhaltiger und wettbewerbsfähiger? 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Ökonomische Zwänge und politische Illusionen der Währungsunion Auch die D-Mark galt von Bayern bis Mecklenburg-Vorpommern Ist das Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank sinnvoll? Die Konstruktion der Währungsunion fördert Panikattacken Die EZB handelt gegen die Interessen der Bürger Kann eine Vermögensabgabe helfen, die Überschuldung von Staaten zu lindern? Nur eine Staatsinsolvenz ist moralisch vertretbar Die Politik muss es nur wollen Droht der Eurozone die Gefahr einer Deflation? Schon "Lowflation" ist problematisch Eine negative Inflationsrate ist noch lange keine Deflation Ist die Euro-Krise schon vorbei? Noch ist kein Normalzustand erreicht Falsche Medizin, falsche Symptome Corona-Krise in Europas Wirtschaft Haben die Corona-Soforthilfen gewirkt? Die Corona-Hilfen waren situationsgerecht Unterstützung mit geringer Wirkung Europas neue Wege aus der Krise Europäische Solidarität aus der Not heraus Stürzt Corona Europa in eine neue "Große Depression"? Bedeutet Corona das Ende der Globalisierung? Weiterhin kein Exit der EZB Videos: 4x4 Fragen zur Corona-Krise Wie hat sich die EU in der Corona-Krise bis jetzt geschlagen? Wie wird sich die Pandemie auf Europas Wirtschaft auswirken? Sollte man die Krise nutzen, um die EU klimagerechter umzubauen? Gefährden die Rettungsmaßnahmen die Geldwertstabilität? Zur Lage der Krisenländer in der Eurozone (2014-2017) Kann sich Frankreich von der Krise erholen? Yes, he can Frankreichs europäische Aufgabe Vor der Generalüberholung Frankreich als Zivilisationsthermometer Wird Italien wieder auf die Beine kommen? Der Fall Italien(s) Volk der letzten Minute Je südlicher, desto schlimmer Solider als viele denken Gingen die Reformen in Griechenland zu weit? Ohne Strukturreformen ist alles nichts Der Aderlass hat Griechenland geschadet Was hat Portugal der Sparkurs gebracht? Die Leiden des lusitanischen Musterschülers Sparen unvermeidbar Zeigen Spanien, Irland und Portugal, dass die angebotsorientierte Politik sich auszahlt? Es schmerzt, aber die Reformen wirken Crash-Kurs mit jeder Menge Kollateralschäden Ist Spanien über den Berg? Von Gesundung kann keine Rede sein Rückkehr zum Normalzustand Hat die Sparpolitik Irland aus der Krise geholfen? Via Dolorosa ohne Alternative Die Generation der stillen Verzweiflung Hat die Politik der Troika Griechenland genutzt? Die Schrumpfpolitik ist gescheitert Griechenland hat alle Möglichkeiten Zur Rolle Deutschlands in der Schuldenkrise (2014) Ist Deutschland ein Modell für Europa? Die Mär vom gesunden Staat Marktkonform und doch sozial gerecht Hat Deutschlands Bilanzüberschuss die Krise beschleunigt? Die Eurokrise ist eine Zahlungsbilanzkrise Europa braucht Deutschland, Deutschland braucht Europa Bedrohen unterschiedliche Lohnkosten die Stabilität der Eurozone? 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Die Mär vom gesunden Staat

Ulrike Guérot

/ 4 Minuten zu lesen

Ulrike Guérot hält es für verfehlt, Deutschland als Vorbild für Europa anzupreisen. Bei genauerem Hinsehen sei die stärkste Wirtschaftsmacht Europas ein Auslaufmodell, das seine letzten fetten Jahre genieße, so die Politikwissenschaftlerin. Allein beim Export glänze die deutsche Wirtschaft, was das Land aber abhängig von äußeren Entwicklungen mache.

Ulrike Guérot (© Privat)

Auf den ersten Blick klingt es einleuchtend, Deutschland als Vorbild für Europa anzupreisen. Angelo Bolaffi hat mit dieser These im Jahr 2013 für Furore gesorgt. Doch bei genauerem Hinsehen ist die stärkste Wirtschaftsmacht Europas eher ein Auslaufmodell, das seine letzten fetten Jahre genießt. Zunächst stellt sich doch die Frage, von welchem Deutschland Bolaffi eigentlich spricht. Derer gibt es derzeit mindestens drei: einen in der Tat prosperierenden Süden, der sich vor allem durch florierende Automobilfabriken, einen gut aufgestellten Maschinenbau, aber auch durch eine stetig wachsende Rüstungsindustrie gerade in einem Boom befindet. In Süddeutschland herrscht fast Vollbeschäftigung, jeder, der Beschäftigung sucht, findet sie auch. Zudem profitieren Automobilindustrie und Maschinenbau von der Zuwanderung ausgebildeter Fachkräfte, etwa Ingenieuren aus Südeuropa. Benachbarte Volkswirtschaften wie Slowenien sind de facto ein "Zulieferbetrieb" für große deutsche Konzerne. Sie hängen an der deutschen Wertschöpfungskette, ohne sich selber über Innovationen und Produktivitätssteigerungen eine Basis für Wachstum verschaffen zu können, dienen als Reservoir für – im Vergleich zu Deutschland – preiswerte Industriearbeitsplätze. Unvollständige EU-Gesetzgebungen und die Nichtvollendung des Binnenmarktes vor allem im steuerlichen und sozialpolitischen Bereich tragen hierfür eine Mitverantwortung. Aus derlei europäischen Asymetrien eine Modellrolle für Deutschland herzuleiten, erscheint mindestens gewagt. Man könnte auch behaupten, einige Konzerne hätten sich nur geschickt aufgestellt, um aus den Unfertigkeiten einer gesamteuropäischen Wirtschafts- und Sozialordnung einen überdurchschnittlichen Profit zu ziehen.

"Die einstige Hochburg des 'rheinischen Kapitalismus' ist es, an die man sich von Bolaffi am meisten erinnert fühlt"

Neben dem prosperierenden Süden gibt es in Deutschland einen entvölkerten und wirtschaftlich maroden Osten, der trotz Milliarden-Subventionen aus Westdeutschland seit der Wiedervereinigung nicht zur blühenden Landschaft geworden ist. Jenseits einiger Inseln wie zum Beispiel der optischen Industrie in Jena lebt Ostdeutschland höchstens vom Tourismus und von Erträgen aus Projekten der Wind- und Solarenergie. Mag die Arbeitslosenquote in Gesamtdeutschland derzeit relativ niedrig sein – einige Regionen des Ostens sind so strukturschwach wie Süditalien oder Nordfinnland. Hier liegt die Quote derzeit nur deshalb nicht über zehn Prozent, weil viele Ansässige ihre Heimat längst verlassen haben.

Arbeitslosenquoten in der Eurozone (bpb) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de

Schließlich existiert ein einst reiches, inzwischen aber auch mancherorts zum Siechtum neigendes Westdeutschland. Die einstige Hochburg des "rheinischen Kapitalismus" ist es, an die man sich von Bolaffi am meisten erinnert fühlt, die Welt der intakten Deutschland AG vor 1989: heile Industriebranchen, Unternehmerdynastien, Arbeitermilieus und soziale Konvergenz. Indes, auch in Westdeutschland nagt heute der demografische Zahn, zerfallen die einstigen Speckgürtel und Reihenhaussiedlungen der Vorstädte, fräst die dritte Generation der damaligen "Gastarbeiter" angesichts jahrzehntelanger defizitärer Integrationspolitik bis dato ungekannte soziale Demarkationslinien in die einst gepflegten bourgeoisen Städte an Rhein und Ruhr.

"Deutschland erlebt derzeit fette Jahre - wie jemand, der im Garten eine sprudelnde Ölquelle gefunden hat, die indes bald versiegen wird."

Jenseits von Arbeitslosenstatistiken, die einer genaueren regionalen Betrachtung kaum stand halten, lautet also ein anderes Deutungsangebot als das von Bolaffi etwa wie folgt: Deutschland erlebt derzeit fette Jahre - wie jemand, der im Garten eine sprudelnde Ölquelle gefunden hat, die indes bald versiegen wird. Diese Ölquelle ist noch das florierende Exportgeschäft, vor allem mit China. Ob dies geostrategisch nicht in problematische Abhängigkeiten führt, ist nebenbei zumindest fraglich.

Schließlich wird die Demografieklappe bald zuschlagen: Deutschland altert dramatisch und verliert pro Jahr 300.000 Erwerbspersonen, die es nicht durch Zuwanderung ersetzen kann. Allein der Export ist also momentan der Glanz und Glitter der deutschen Wirtschaft. Dahinter aber verbirgt sich, dass die sogenannten Hartz-IV-Reformen und die durch die Sparpolitik entstandenen Investitionsrückstände in Infrastruktur, Bildung und Innovation das, was einmal Erfolgsschlager des deutschen Modells waren, längst schleichend zerstört haben: eine gut ausgebildete Mittelschicht, gute Infrastruktur, starke Gewerkschaften als Tarifpartner, sozialer Friede, geographische Homogenität, eine motivierte Arbeitnehmerklasse.

"Nein, die deutsche Wirtschaft ist kein Vorbild für Europa, sondern lediglich ein Paradies für ältere Leute mit Geld."

Die deutschen Investitionen sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten stetig zurückgegangen: Von 21 Prozent des Interner Link: Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den späten 1990er Jahren sind sie auf heute 17 Prozent gesunken. Dies betrifft zum einen Investitionen in industrielle Ausrüstung, ein Bereich, wo die relevante Peer-Staatengruppe – etwa Schweiz, Österreich oder Japan – bis zu 4 Prozentpunkte ihres BIPs mehr investieren als wir. Aber auch Investitionen in Software, Know-How sowie Forschung und Entwicklung mussten leiden: Hier liegt Deutschland trotz einer deutlichen Steigerung seit 2012 gemessen am BIP noch immer fünf Prozentpunkte hinter den USA. Im Bildungssektor sieht es nicht besser aus. Dieser Trend ist umso besorgniserregender, als nur eine innovative Wirtschaft dafür sorgen kann, dass immer weniger Arbeitende eine immer größere Zahl an Rentnerinnen und Rentnern ernähren. Stattdessen spart Deutschland weit mehr, als es investiert und hat in Konsequenz einen aktuellen Leistungsbilanzüberschuss von sieben Prozent des BIP.

Nein, die deutsche Wirtschaft ist kein Vorbild für Europa, sondern lediglich ein Paradies für ältere Leute mit Geld, das durch die Politik der Bundesregierung noch ein paar Jährchen geschützt werden dürfte. Und für eine im Ausland umtriebige Exportindustrie, die das erwirtschaftete Geld zunehmend außer Landes bringt. Insofern ließe sich argumentieren: Ein eingedeutschtes Europa wird sie nicht beenden, sondern eine Vertiefung der Krise nach sich ziehen.

Angelo Bolaffi (© picture-alliance)

Standpunkt Angelo Bolaffi:

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Dr. Ulrike Guérot, Jahrgang 1964, ist Politikwissenschaftlerin. Seit September 2014 leitet sie das „European Democracy Lab“ an der European School of Governance in Berlin und unterrichtet an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Im April 2013 hat sie mit dem österreichischen Essayisten Robert Menasse ein Manifest zur Externer Link: Gründung einer Europäischen Republik veröffentlicht.