Für Reinhard Blomert geht es in der aktuellen Debatte um die Lage Frankreichs letztlich um die Frage, welches ökonomische Modell die Zukunft Europas bestimmen soll. Der Soziologe warnt davor, die Krise dazu zu nutzen, den Wohlfahrtsstaat ab- und Europa zum globalen Investitionsstandort auszubauen.
Jahrzehntelang war es undenkbar, doch jetzt ist auch Frankreich unter Beschuss der deutschen politischen Eliten geraten. Von den Ministerien, aus den Wirtschaftsteilen bildungsbürgerlicher Blätter und im Fernsehen wird die französische Politik stark kritisiert. Vielen gilt Frankreich als eine Art "kranker Mann" Europas, ja, angeblich gefährdet es sogar das "Modell Europa". Die aggressiven Klagen beziehen sich dabei meist auf die Verletzung des Euro-Stabilitätspaktes. Vertragstreue ist wichtig. Aber gegenüber welchen Verträgen? Gegenüber den Verträgen, die die politische Klasse mit ihren Wählerinnen und Wählern schließt? Oder gegenüber Staatsverträgen, die die politischen Eliten untereinander beschlossen haben? Geht es darum, ein finanzmarkttaugliches Europa zu schaffen? Oder geht es um einen zivilisierten europäischen Wohlfahrtsstaat?
Zunächst: Während die EU-Kommission Frankreich für das kommende Jahr ein Haushaltsdefizit von 3,4 Prozent des BIP voraussagt, rechnet die französische Regierung sogar mit die Maastricht-Kriterien erfüllenden drei Prozent. Die Staatsschulden sollen zudem bis 2017 um satte 50 Milliarden Euro sinken. Geht es letztlich also gar nicht um ein vertragsbrüchiges, unwilliges Frankreich - sondern vielmehr darum, welches Modell die Zukunft Europas bestimmen soll?
"Kern der französischen Politik ist nicht, alle Landsleute auf die Spur zu bringen, damit sie effizient arbeiten und möglichst viel Kapital akkumulieren."
Deutschland, eine unruhige Nation, seit dem 19. Jahrhundert von der fixen Idee geplagt, zu kurz gekommen zu sein, pocht dennoch auf Einhaltung der Verträge. Zugleich fordert Berlin von Paris Arbeitsmarkt- und Rentenreformen – und gibt damit auch gleich vor, wie die vertraglichen Ziele erreicht werden sollen: Nicht durch Erhöhung der Binnennachfrage und höhere Staatseinnahmen, sondern durch Deregulierung und Liberalisierung, mitten in der Flaute. Nur so könnten gute Bedingungen für Investoren geschaffen werden. Hindernisse seien Frankreichs "verkrustete Arbeitsmärkte". Dass ein starker Staat Investoren abschrecken oder privaten Investoren Gewinnspielräume beschneiden könnte, gehört ebenfalls zum Grundtenor der Kritik. Die Krise soll also offenbar dazu genutzt werden, den Wohlfahrtsstaat ab- und Europa zum globalen Investitionsstandort auszubauen – und damit Euro und Finanzindustrie zu festigen.
Staatliche Schuldenstandquote in Frankreich 1999-2015 (Grafik zum Download)
Was aber nützen Verträge, wenn sie unrealistisch oder ökonomisch sinnlos werden? Frankreichs Wirtschaftspolitik erwies sich stets als ausgewogen: Nicht so stark exportorientiert und damit verletzlich wie die deutsche, nicht so stark auf die volatilen Finanzmärkte orientiert wie die der Briten und Amerikaner. Und auch den Fehlern anderer europäischer Staaten ist Frankreich nicht erlegen: Die Immobilienpreise stiegen – Paris ausgenommen – nicht in den Himmel wie in Irland oder Spanien. Die Interner Link: Rezession war nicht so gravierend wie in Deutschland oder in den USA. Es gibt nach wie vor Wachstum, wenn auch nicht mehr als 0,5 Prozent, während Deutschland trotz enormer Exportanstrengungen nur gut ein Prozent aufweisen kann.
Kern der französischen Politik ist nicht, alle Landsleute – koste es, was es wolle – auf die Spur zu bringen, damit sie effizient arbeiten und möglichst viel Kapital akkumulieren. Die Regierung könnte derartige Ziele nie zum Kern nationalen Strebens erheben. Das französische Volk ist anarchisch und lässt sich nicht über Mitgliedschaften in Parteien, Vereinen oder Verbänden dirigieren: Anders als in Deutschland sind die sogenannten "großen Parteien", an der Anzahl der Mitglieder gemessen, ziemlich kleine Vereine. Ihre Stärke stammt ausschließlich aus der Loyalität der Wählerinnen und Wähler, sie muss dementsprechend immer neu errungen werden.
"Die Vollbeschäftigung, einst oberstes Ziel aller europäischen Nachkriegsregierungen, ist heute von der Stabilität des Euro verdrängt worden."
Der Kern der französischen Politik ist auch nicht der Griff nach einem Weltspitzenplatz – seit Napoleon passé. Der Kern der französischen Politik besteht vielmehr aus zwei alten Prinzipien. Einem außenpolitischen: die deutsche Gefahr so gering wie möglich zu halten, bekannt unter dem Namen "Richelieus Testament", welches auf die französische Sicherheit zielte. Und einem innenpolitischen: dafür zu sorgen, dass jede Französin und jeder Franzose sonntags ein Hühnchen im Topf hat. La poule au pot von Henri IV. (1553-1610) ist ein Regierungsprogramm für das Wohlbefinden, das noch kein Regent ungestraft ausgehebelt hat.
Außenpolitisch momentan in der Defensive, sucht Frankreich seine Innenpolitik aufrecht zu erhalten. Bisher lag die Lohnpolitik vorbildlich in der Mitte zwischen Produktivitätszuwachs und Inflationsausgleich. Da die Deutschen sich an diese Maßstäbe nicht hielten, gewannen sie Preisvorteile, die sich im gemeinsamen Markt zu ihrem Vorteil auswirkten. Infolge dessen haben die meisten EU-Länder heute negative Handelsbilanzen gegenüber Deutschland. Das zeigt das Grunddilemma des Euro: Der freie Kapitalverkehr verhindert eine auf Arbeitsplätze ausgerichtete Wirtschaftspolitik, das können auch EU-Förderprogramme nicht kompensieren. Die Vollbeschäftigung, einst oberstes Ziel aller europäischen Nachkriegsregierungen, ist heute von der Stabilität des Euro verdrängt worden. Beide Ziele zugleich aber lassen sich unter Bedingungen freier Wechselkurse nicht erreichen.
Frankreich war stets eine Art Zivilisationsthermometer Europas. Als die EU-Verfassung den Kontinent zum "wettbewerbsfähigsten der Welt" machen sollte, empörten sich die Wählerinnen und Wähler gegen die Einbußen, die dem gewöhnlichen Citoyen dadurch drohten: Liberalisierung und Deregulierung sollten eben nicht Verfassungsrang erhalten. Und als die EU nun den Europäern eine Sparpolitik aufzwingen wollte, die dem Citoyen das "Hühnchen im Topf" nicht mehr gönnt, und den Familien nicht mehr die Zeit, gemeinsam zu feiern, fanden sie einen anderen Weg, ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen: Sie wählten den rechtsextremen Front National. Die Franzosen haben eine hohe Sensibilität für Machtasymmetrien und eine Hochschätzung für Fairness und Gleichheit, und so erweist es sich als problematisch, dass einzig der Front National diesen Protest aufgreift.
Dr. Reinhard Blomert, Jahrgang 1951, ist Soziologe am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. 2012 erschien sein Buch "Adam Smiths Reise nach Frankreich oder die Entstehung der Nationalökonomie".
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