Frankreich leidet an seinem Staatsapparat, an einem veralteten Sozialsystem und an einem ausgeprägten Stadt-Land-Gefälle, so die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Um das zu beheben, reichten Reformen allein nicht aus. Es müsse an die Substanz gehen, an die staatliche Identität Frankreichs.
Frankreich ist nicht das nächste, sondern schon jetzt das größte Krisenland in Europa. Das liegt aber nicht – oder nicht maßgeblich – an seiner vermeintlichen Unfähigkeit, seine Wirtschaft im deutschen Sinn zu reformieren. Frankreich leidet fundamental an einer malaise politique, einer politischen Krankheit, also an seinen staatlichen Prägungen, an antiquierten Verwaltungsstrukturen, einem veralteten Sozialsystem und vor allem an einem ausgeprägten Stadt-Land-Gefälle, das dazu führt, dass ein Großteil des Landes nicht in die globale Wertschöpfungskette integriert ist. Dem ist nicht allein mit wirtschaftlichen Strukturreformen beizukommen. Oder, um Bill Clinton zu widersprechen: It's the state, stupid!
Frankreich funktioniert strukturell anders als Deutschland – und hat in den vergangenen zwanzig Jahren eine unterschiedliche Entwicklung durchgemacht, die das Land heute um so vieles schlechter dastehen lässt als den Nachbarn im Osten. Ob die Defizite "reformiert" werden können – und wie schnell –, ist die entscheidende Frage. Denn: Es muss dabei an die Substanz gehen, an die staatliche Identität Frankreichs.
"Frankreich müsste seine Abhängigkeit vom Staatssektor und seine staatlich finanzierte Binnennachfrage senken."
Beim Start der Europäischen Währungsunion hatten Deutschland und Frankreich fast identische Arbeitslosenquoten, Pro-Kopf-Einkommen und Schuldenstände gemessen am Interner Link: Bruttoinlandsprodukt (BIP). Heute ist die Arbeitslosigkeit in Frankreich doppelt so hoch, sein Pro-Kopf-Einkommen 15 Prozent niedriger, aber sein Schuldenstand je Einwohner 15 Prozent höher als der von Deutschland. Woran liegt das? Die Antwort ist, dass beide Länder – jenseits von den wirtschaftlichen Verwerfungen, die in Deutschland durch die Wiedervereinigung ausgelöst und im Grunde erst durch die Agenda 2010 unter großen sozialen Kosten bereinigt wurden – höchst unterschiedliche wirtschaftspolitische Strategien verfolgt haben.
Staatliche Schuldenstandquote in Frankreich 1999-2015 (Grafik zum Download)
Deutschland ist eine Exportnation, die Ausfuhren machen inzwischen mehr als 50 Prozent des BIP aus. Die Wirtschaft ist geprägt von produzierendem Gewerbe und verarbeitender Industrie. Eine stark in der Gesellschaft verankerte Tarifpartnerschaft sorgte dafür, dass in den letzten 20 Jahren zwar die Löhne stagnierten, die deutschen Exporte dafür aber international wettbewerbsfähig blieben.
Im Gegensatz dazu ist Frankreich eine relativ geschlossene Ökonomie mit einem Exportanteil von nur 27 Prozent des BIP, weniger als Italien. Seine Unternehmen werden von den Interessen staatlich Beschäftigter oder von großen Konzernen dominiert, die häufig eng mit dem Staat und seiner Auftragsvergabe verbandelt sind. Der Anteil der öffentlichen Ausgaben liegt in Frankreich bei 57 Prozent des BIP, die deutsche Staatsquote beträgt nur 47 Prozent. Wo Deutschland seine Binnennachfrage stärken und seine Exportabhängigkeit reduzieren müsste, müsste Frankreich seine Abhängigkeit vom Staatssektor und seine staatlich finanzierte Binnennachfrage senken, zugleich seinen Außenhandelssektor geringer besteuern.
"De facto leidet Frankeich heute unter Strukturen, die jahrzehntelang unter anderem durch die europäische Agrarpolitik zementiert wurden."
Allerdings handelt es sich jeweils um pfadabhängige, genuine Wirtschaftsstrukturen, die nicht so einfach umzusteuern sind, jedenfalls nicht in wenigen Monaten oder auch Jahren. Von Frankreich verlangte dies zum Beispiel eine Reindustrialisierung sowie den Aufbau eines international wettbewerbsfähigen Mittelstandes: Während im Jahr 2000 der deutsche und der französische Anteil exportierter Güter am Welthandel bei respektive 8,7 und 7,5 Prozent lag, ist Frankreichs Anteil heute auf 3,4 Prozent gesunken, während der deutsche unverändert blieb. Ähnlich die Entwicklung beim Anteil des Exports am nationalen BIP: Während auch hier im Jahr 2000 Deutschland mit 29 und Frankreich mit 25 Prozent noch relativ nahe beieinander lagen, trennen beide Staaten heute 9 Prozentpunkte, da Frankreichs Exportanteil auf 22 Prozent gesunken ist. Eine exportgetriebene Wachstumsstrategie wie die Deutschlands in der vergangenen Dekade hat Frankreich nie entwickelt. Die Folge war eine rapide Deindustrialisierung. Sichtbar wird diese heute vor allem in der Automobilindustrie: Durch die Eurokrise ist der Markt für Kraftfahrzeuge in Südeuropa in den Jahren 2012 und 2013 nahezu weggebrochen. Die französischen Autohersteller PSA Peugeot Citroën und Renault haben diesen Einbruch mit ihrem Fokus auf Kleinwagen besonders zu spüren bekommen. Um den angeschlagenen Konzern zu retten, mussten Anfang 2014 schließlich der französische Staat und der zweitgrößte chinesische Autohersteller Dongfeng bei PSA einsteigen.
Que faire, was tun? Festzustehen scheint, dass Frankreich auch mittelfristig kaum eine Handhabe hat, dem Reformdruck mit einer überzeugenden Strategie zu begegnen, zumal sich der politische Spielraum durch das Erstarken des rechtsxtremen Front National weiter eingeschränkt hat.
De facto leidet Frankeich heute unter Strukturen, die jahrzehntelang unter anderem durch die europäische Agrarpolitik zementiert wurden. Dies verhinderte auch - oder hat zumindest nicht gefördert -, dass in Frankreich ein kräftiger regionaler Mittelstand entstehen konnte. Frankreich bedürfte daher gleichsam einer Generalüberholung. Dazu zählt eine Modernisierung seiner immer noch napoleonisch-zentralistischen Verwaltung, die Neugestaltung seines exekutivlastigen politischen Systems und die Stärkung des Parlaments, der Aufbau unabhängiger Regionen, die Träger von Industrieansiedlungen und Innovations-Clustern werden könnten. Dann könnten heute zumindest die Weichen dafür gestellt werden, dass Frankreich – unter Berücksichtigung seiner guten demografischen Zahlen – in einen Aufholprozess kommt, der binnen einer Generation Früchte trägt. Mit ein paar kleinen Arbeitsmarktreformen, Sparmaßnahmen oder Rentenkürzungen ist das nicht getan. Ob Frankreich indes in seiner augenblicklichen politischen Verfasstheit und der Fragilisierung seines Parteiensystems dafür die notwendige Kraft hat und, wer der Gestalter eines solchen Modernisierungskonzeptes werden könnte, ist völlig offen – und hierin liegt das eigentliche Risiko auch für den Rest Europas.
Dr. Ulrike Guérot, Jahrgang 1964, ist Politikwissenschaftlerin. Seit September 2014 leitet sie das „European Democracy Lab“ an der European School of Governance in Berlin und unterrichtet an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Im April 2013 hat sie mit dem österreichischen Essayisten Robert Menasse ein Manifest zur Externer Link: Gründung einer Europäischen Republik veröffentlicht.
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