Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Ungleichheit in Deutschland | Wirtschaft im Wahlkampf | bpb.de

Wirtschaft im Wahlkampf Essay: Deutschlands Wirtschaftsmodell in der Krise Staatshaushalt und Schuldenbremse Steuern und Reformen Das Bürgergeld – eine Bilanz Ungleichheit in Deutschland Redaktion

Ungleichheit in Deutschland

Till van Treeck

/ 8 Minuten zu lesen

Was Ungleichheit ist, wie sie sich entwickelt hat und warum die deutsche Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten ungleicher geworden ist, erklärt der Duisburger Sozioökonom Till van Treeck.

Ökonomische Ungleichheit ist ein vielschichtiges Phänomen, das aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden kann. Je nach Perspektive und ökonomischen wie ethischen Grundhaltungen ergeben sich unterschiedliche Vorschläge, wie mit der Ungleichheit wirtschaftspolitisch umgegangen werden sollte.

Der Ausgangspunkt für eine Analyse der Ungleichheit ist in der Regel das gesamtwirtschaftliche Einkommen. Dabei können verschiedene Arten der Einkommensverteilung unterschieden werden.

Zahlen und Fakten zur Ungleichheit

  • Die Lohnquote in Deutschland ist seit den 1980er Jahren gesunken. In den 2010ern stabilisierte sie sich.

  • Der Anteil der privaten Haushalte am Gesamteinkommen sank von fast 70 Prozent in den 1990er Jahren auf knapp über 60 Prozent. Unternehmen und der Staat steigerten ihre Anteile.

  • Das oberste Zehntel der Bevölkerung erhält 23 Prozent der verfügbaren Einkommen, während die unteren zwei Zehntel zusammen nur 9 Prozent erhalten. Etwa 15 Prozent der Bevölkerung sind armutsgefährdet.

  • Frauen verdienten 2023 etwa 39 Prozent weniger als Männer, bedingt durch niedrigere Stundenlöhne (Gender Pay Gap) und kürzere bezahlte Arbeitszeiten.

  • Die Verteilung der Güter und Dienstleistungen zeigt einen rückläufigen Anteil privater Haushalte am BIP, während staatliche Sachleistungen (wie Kinderbetreuung oder ÖPNV) besonders ärmeren Gruppen zugutekommen.

  • Die Vermögensverteilung ist noch ungleicher als die Einkommensverteilung: Das oberste Zehntel besitzt etwa 68 Prozent der Vermögen, wobei Frauen deutlich geringere Vermögen haben und weniger erben.

Funktionale Einkommensverteilung

Die funktionale Einkommensverteilung beschreibt die Verteilung der gesamtwirtschaftlichen Einkommen zwischen Lohneinkommen und Kapitaleinkommen (das können zum Beispiel einbehaltene und ausgeschüttete Unternehmensgewinne, Zinsen, Miet- oder Pachteinnahmen sein). Die Lohnquote, also der Anteil der Löhne an den gesamtwirtschaftlichen Einkommen, ist in Deutschland bereits seit den 1980er Jahren kontinuierlich gesunken und in der ersten Hälfte der 2000er Jahre noch einmal stark gefallen. In Folge der Finanzkrise ab 2007/08 und im Zuge der Corona-Krise ab 2020 ist die Lohnquote gestiegen (Abbildung 1a). Die im Vergleich zu früheren Jahrzehnten geringe Arbeitslosigkeit und die Einführung und schrittweise Externer Link: Erhöhung des Mindestlohnes in Deutschland in den 2010er Jahren dürften die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer*innen gegenüber den Unternehmen verbessert und zur Stabilisierung der Lohnquote beigetragen haben.

Die Relevanz der funktionalen Einkommensverteilung für die Lebensrealität der Privathaushalte ist aber dadurch begrenzt, dass sie das staatliche Steuer- und Transfersystem nicht berücksichtigt und ausblendet, dass ein großer Teil der Unternehmensgewinne nicht an die Haushalte ausbezahlt wird, sondern in den Unternehmen verbleibt.

Sektorale Einkommensverteilung

Aus sektoraler Perspektive kann die Verteilung der jährlich erwirtschafteten Einkommen auf die privaten Haushalte, die Unternehmen und den Staat betrachtet werden. Die Haupteinkommensquelle für die privaten Haushalte sind Lohneinkommen, vor allem für sehr reiche Haushalte sind aber auch Kapitaleinkommen relevant. Zudem erhalten die privaten Haushalte Transferzahlungen vom Staat (etwa Altersrenten, Kindergeld, Arbeitslosengeld, Bürgergeld). Zugleich müssen sie auf Lohn- und Kapitaleinkommen Steuern und Abgaben an den Staat zahlen. Unter dem Strich ergeben sich die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte. Ihr Anteil an den gesamtwirtschaftlichen Einkommen ist in der jüngeren Vergangenheit stark gesunken: von fast 70 Prozent in den 1990er Jahren auf nur noch knapp über 60 Prozent in den vergangenen Jahren (Abbildung 1b).

Die verfügbaren Einkommen der Unternehmen bestehen aus ihren einbehaltenen Gewinnen. Das ist der Teil der Kapitaleinkommen nach Steuern, der nicht an die Haushalte in Form von Dividenden oder Zinsen ausbezahlt wird. Die Unternehmen konnten ihren Anteil an den gesamtwirtschaftlichen Einkommen in den 2000er Jahren um etwa 4 Prozentpunkte zu Lasten der privaten Haushalte steigern, seit 2010 liegt er annähernd stabil bei circa 15 Prozent.

Die verfügbaren Einkommen des Staates ergeben sich aus den Einnahmen aus Steuern und Abgaben der privaten Haushalte und Unternehmen abzüglich der Transfers und Subventionen, die der Staat an diese Sektoren (und in geringem Umfang an das Ausland zum Beispiel für Entwicklungshilfe) zahlt. Der Staat hat seinen Anteil an den gesamtwirtschaftlichen Einkommen in den 2010er Jahren ebenfalls um etwa vier Prozentpunkte – zu Lasten der privaten Haushalte – von etwa 20 Prozent auf etwa 24 Prozent erhöht.

Personelle Einkommensverteilung

Häufig interessiert man sich dafür, wie die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte zwischen den in Deutschland ansässigen Haushalten (rund 41 Millionen) beziehungsweise den in diesen Haushalten lebenden Individuen (etwa 84 Millionen) verteilt sind. Außerdem kann von Interesse sein, wie einzelne Bestandteile der verfügbaren Einkommen (zum Beispiel Löhne, Kapitaleinkommen, Steuer- und Abgabenlast) zwischen den Individuen verteilt sind. Dabei können die betrachteten Individuen nach verschiedenen Merkmalen (zum Beispiel nach Geschlecht, Familienstand, Bildungsabschluss oder Berufsgruppe) verglichen werden.

So verdienten Frauen 2023 am Arbeitsmarkt etwa 39 Prozent weniger als Männer. Ihr Stundenlohn war um etwa 18 Prozent geringer (Externer Link: Gender Pay Gap: Frauen arbeiten häufig in schlechter bezahlten Berufen und selbst für gleiche Tätigkeiten erhalten sie geringere Stundenlöhne), und ihre bezahlte Arbeitszeit war kürzer (während die Summe aus Externer Link: bezahlten und unbezahlten Arbeitsstunden bei Frauen typischerweise etwas höher ist als bei Männern).

Ein wichtiger Grund für die ungleiche Verteilung der Lohneinkommen besteht darin, dass Beschäftigte mit längeren Arbeitszeiten höhere Stundenlöhne aufweisen als Beschäftigte mit kürzeren Arbeitszeiten. Während in allen Lohngruppen die Beschäftigten im Durchschnitt gerne kürzer als gegenwärtig arbeiten würden, ist die Externer Link: Überbeschäftigung bei Besserverdienenden besonders stark ausgeprägt. Es wird daher kontrovers diskutiert, ob Externer Link: zusätzliche Arbeitsanreize für Personen mit niedrigen bezahlten Arbeitsstunden (Geringverdienende, verheiratete Frauen und Mütter) geschaffen werden sollten oder ob Externer Link: kurze Vollzeitbeschäftigung für möglichst viele Beschäftigte (Stichwort: 4-Tage-Woche) einen Beitrag zu mehr Einkommensgleichheit (und Freizeitgleichheit) leisten könnte. Ein weiterer Reformvorschlag ist die Abschaffung des Ehegattensplittings in der Einkommensteuer, das ungleiche Verdienste und Arbeitszeiten von Männern und Frauen befördert.

Betrachtet man die gesamten verfügbaren Haushaltseinkommen, entfielen 2022 etwa 23 Prozent der Einkommen auf das oberste Zehntel. Die beiden unteren Zehntel hingegen erhielten zusammen nur etwa 9 Prozent (Abbildung 1c). Das mittlere Einkommen (Median) beträgt dabei rund 26.270 Euro. Die personelle Einkommensverteilung ist in den letzten Jahrzehnten nach und nach ungleicher geworden, wobei sowohl die Ungleichheit der Markteinkommen (vor Berücksichtigung des Steuer- und Transfersystems) als auch der verfügbaren Einkommen gestiegen ist (Abbildung 1d). Besonders stark hat die Armutsgefährdung zugenommen, definiert als ein verfügbares Einkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens, was 2019 einem Einkommen von etwa 1180 Euro im Monat für Alleinlebende entsprach. In den vergangenen Jahren waren etwa 15 Prozent aller in Deutschland lebenden Personen armutsgefährdet (Abbildung 1e).

Auch wenn in den Medien und politischen Debatten die personelle Verteilung oft im Zentrum steht, ist diese ohne zusätzliche Informationen über die sektorale Einkommensverteilung nur begrenzt aussagekräftig. Denn selbst bei konstanter personeller Ungleichheit bedeutet ein Rückgang der verfügbaren Haushaltseinkommen im Verhältnis zu den Unternehmenseinkommen (Abbildung 1b) eine Zunahme der ökonomischen Ungleichheit. Denn die einbehaltenen Gewinne gehören letztlich den Eigentümer*innen der Unternehmen, und Unternehmensanteile sind extrem ungleich verteilt.

Verteilung der Güter und Dienstleistungen und der CO2-Emissionen

Die Einkommensverteilung bestimmt nicht alleine das Ausmaß der ökonomischen Ungleichheit. Denn für den tatsächlichen materiellen Lebensstandard der Menschen ist entscheidend, welche und wie viele Güter und Dienstleistungen sie – gegen Bezahlung oder aber unentgeltlich – nutzen können.

Der Anteil an den in Deutschland produzierten Gütern und Dienstleistungen (= Bruttoinlandsprodukt, BIP), den die privaten Haushalte gegen Bezahlung erwarben, ist seit der Jahrtausendwende kontinuierlich zurückgegangen (Abbildung 2a), entsprechend der schwachen Entwicklung ihrer verfügbaren Einkommen (Abbildung 1b). Zugleich ist der Anteil staatlicher Käufe von Gütern und Dienstleistungen am BIP – mit Ausnahme der Corona-Pandemie – in etwa unverändert geblieben. Diese staatlichen Ausgaben sind für die ökonomische Ungleichheit insofern relevant, als einzelne Personengruppen unterschiedlich stark von den Sachleistungen des Staates profitieren. Wenn beispielsweise der Staat eine hochwertige öffentliche Daseinsvorsorge – dazu gehören unter anderem ärztliche Versorgung, Kinderbetreuungsangebote, Bildung, Kulturangebote, öffentlicher Personennahverkehr – bereitstellt, profitieren hiervon in der Regel ärmere Personengruppen im Verhältnis zu ihrem Einkommen stärker als reichere Personengruppen. Ein Beispiel sind die staatlichen Ausgaben für Kinderbetreuung (Gehälter für Erzieher*innen oder Investitionen in Gebäude), die, bezogen auf die Einkommensgruppen, deutlich gleichmäßiger verteilt sind (Abbildung 2b) als die verfügbaren Haushaltseinkommen (Abbildung 1c).

Während der für Investitionen verwendete Anteil des BIP wie die staatlichen Ausgaben stagnierte, stiegen die deutschen Exportüberschüsse an das Ausland (Abbildung 2a). Dies bedeutet aus Sicht der privaten Haushalte einerseits den Verzicht auf im Inland genutzte Güter und Dienstleistungen, andererseits den Aufbau von Geldvermögen gegenüber dem Ausland (Abbildung 3a), das sich jedes Jahr zusätzlich gegenüber Deutschland verschulden muss, weil es mehr aus Deutschland importiert, als es exportiert. Diese Verschiebung weg von der binnenwirtschaftlichen Verwendung von Gütern und Dienstleistungen hin zum Vermögensaufbau im Ausland spiegelt einen Anstieg der ökonomischen Ungleichheit wider, da Vermögen deutlich ungleicher verteilt sind als Einkommen und privater Konsum oder staatliche Sachleistungen.

Aus ökologischer Sicht ergibt sich eine weitere Ungleichheitsdimension dadurch, dass Personen mit hohen Einkommen sehr viel höhere Externer Link: CO2-Emissionen durch ihre Nutzung von Gütern und Dienstleistungen verursachen als Personen mit geringen Einkommen – vor allem wegen ihres Mobilitätsverhaltens (Autofahren, Fliegen usw., Abbildung 2c) und wegen ihres Anteils an den Unternehmensinvestitionen (Abbildung 2d). Gleichzeitig verschärft sich die Ungleichheit noch dadurch, dass ärmere Haushalte stärker von Klima- und Umweltschäden betroffen sind (Externer Link: Umweltgerechtigkeit). Politisch wird kontrovers diskutiert, inwieweit ein ökologisch nachhaltiger und sozial gerechter Lebensstil durch höhere Preise für individuell genutzte CO2-intensive Güter und Dienstleistungen (CO2-Zertfikatehandel) oder aber durch vermehrt staatlich finanzierte und kollektiv genutzte Güter und Dienstleistungen erreicht werden kann.

Entwicklung und Verteilung der Vermögen

Individuelle Vermögen wachsen, wenn eine Person spart oder erbt, oder wenn bestehende Vermögenswerte durch Preisanstiege aufgewertet werden. Gesamtwirtschaftlich sind die Nettovermögen in Deutschland vor allem in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten deutlich stärker gestiegen als die Einkommen und liegen mittlerweile deutlich über 600 Prozent des BIP (Abbildung 3a).

Da Vermögen viel ungleicher verteilt sind als Einkommen (vgl. Abbildungen 1c und 3b), impliziert der Anstieg des Vermögen-Einkommen-Verhältnisses einen Anstieg der ökonomischen Ungleichheit. Er bedeutet auch, dass Erbschaften im Vergleich zu den eigenen Einkommen immer wichtiger werden für den Zugang zu Gütern und Dienstleistungen. Interner Link: Es wird geschätzt, dass das obere Zehntel der Vermögensverteilung alleine etwa 68 Prozent der Vermögen (ohne Berücksichtigung von Ansprüchen an die Gesetzliche Rentenversicherung) besitzt (Abbildung 3b), wobei Frauen deutlich Externer Link: geringere Vermögen haben und Externer Link: weniger erben. Zum oberen Zehntel gehört, wer über ein Nettovermögen von rund 288.000 Euro verfügt. Zum Top-1-Prozent gehört man ab einem Nettovermögen von 1.432.000 Euro. Die unteren 50 Prozent der Bevölkerung verfügen insgesamt über 1,3 Prozent des Vermögens, was einem individuellen Vermögen von bis zu 25.000 Euro entspricht.

Kontrovers wird darüber diskutiert, inwiefern höhere Erbschaftsteuern oder die Wiedereinführung einer Vermögensteuer angezeigt sind, um die Vermögensungleichheit zu reduzieren und Ausgaben etwa zur Bekämpfung des Klimawandels und in die öffentliche Daseinsvorsorge zu finanzieren. Ein Diskussionspunkt ist dabei, wie verhindert werden kann, dass Familienunternehmen durch höhere Erbschaften in ihrer betriebswirtschaftlichen Substanz geschädigt werden, etwa indem Erbschaftsteuerzahlungen über längere Zeiträume gestreckt werden. Ähnlich kontrovers ist die Debatte um die Schuldenbremse, welche die staatliche Verschuldung, die aktuell bei knapp über 60 Prozent des BIP liegt, begrenzen soll. Aus Perspektive der ökonomischen Ungleichheit ist hierbei insbesondere relevant, welcher staatliche Vermögensaufbau und welche Güter und Dienstleistungen mit höherer Staatsverschuldung finanziert würden.

Fazit

Ökonomische Ungleichheit ist komplex, und ein umfassendes Bild ergibt sich erst, wenn eine gesamtwirtschaftliche Perspektive eingenommen wird und die Entwicklung der funktionalen, sektoralen und personellen Einkommensverteilung, der Vermögensentwicklung und der Verwendung von Gütern und Dienstleistungen betrachtet wird. Alles in allem ist in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten ein deutlicher Anstieg der ökonomischen Ungleichheit erkennbar. Letztlich hängt es stark von Wertvorstellungen sowie gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Leitbildern ab, inwieweit aus den zu beobachtenden Trends Handlungsbedarf etwa bei Erbschafts- und Vermögensteuer oder der öffentlichen Daseinsvorsorge abgeleitet wird.

Weitere Inhalte

Till van Treeck ist Professor für Sozialökonomie an der Universität Duisburg-Essen. Er studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften in Lille, Münster und Leeds. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Einkommensverteilung aus gesamtwirtschaftlicher Sicht, Wirtschaftspolitik und (sozio-)ökonomische Bildung.