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Wirtschaft im Wahlkampf Essay: Deutschlands Wirtschaftsmodell in der Krise Staatshaushalt und Schuldenbremse Steuern und Reformen Das Bürgergeld – eine Bilanz Ungleichheit in Deutschland Redaktion

Das Bürgergeld – eine Bilanz

André Kühnlenz

/ 8 Minuten zu lesen

Hartz IV heißt seit 2023 Bürgergeld. Was sich durch die Reform verändert, wie viele Menschen Bürgergeld bekommen und wie sich das über die Jahre gewandelt hat, analysiert der Ökonom André Kühnlenz.

Das Bürgergeld ist in aller Munde. Keine Partei, die nicht ihre Vorstellungen darüber hat, ob und wie sie die Finanzhilfen für Arbeitssuchende und andere Bedürftige umgestalten will. Die jüngste Reform der Grundsicherung hat vor zwei Jahren das Arbeitslosengeld II abgelöst, das besser als Hartz IV bekannt war. Die Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP sowie die Oppositionsparteien CDU/CSU hatten die Reform 2022 beschlossen, die Anfang 2023 in Kraft trat. Kritiker, insbesondere in den Unionsparteien sowie der FDP und AfD, bemängeln heute jedoch die Kostensteigerungen.

Das Bürgergeld ist eine staatliche Finanzhilfe für alle, die nicht (mehr) von der Interner Link: Arbeitslosenversicherung aufgefangen werden. Dies schließt auch die Kosten für Unterkunft und Heizung ein. Vor der Einführung des Bürgergelds waren die bundesweit mehr als 400 Jobcenter verpflichtet, den Arbeitssuchenden jede zumutbare Beschäftigung – auch Aushilfsjobs – anzubieten, um sie schnellstmöglich zu vermitteln. Ausbildung und zuletzt ausgeübter Beruf waren dabei zweitrangig. Dieser Vermittlungsvorrang wurde mit der Reform beendet.

Stattdessen sollen Arbeitssuchende möglichst eine langfristige Beschäftigung finden. Die Mitarbeiter der Jobcenter sollen sich vorrangig um ihre Qualifizierung und Weiterbildung kümmern. Der Vermittlungsvorrang hatte vor allem mit den Arbeitsmarktreformen, die als Hartz I bis IV bekannt sind, an Bedeutung gewonnen. Sie waren Teil der Interner Link: Agenda 2010, der Reformpolitik der rot-grünen Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) von 2003 bis 2005. Ihr Ziel war eine „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“, die sich dem Prinzip Fördern und Fordern verschreibt.

Während Bedürftige gefordert waren, sich so schnell wie möglich Arbeit zu suchen, sollten die Jobcenter sie dabei unterstützen. Der bis heute umstrittene Grundgedanke war, dass ein Teil der Massenarbeitslosigkeit seit den 1980er Jahren auf fehlende Motivation oder Anreize zum Arbeiten zurückzuführen sei. Für linke Politiker war die Reform jedoch ein Problem, da sie den Druck auf alle Arbeitssuchenden erhöhte. Mit Hartz IV wurde 2005 die vorherige Sozial- und Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II zusammengeführt. In der Arbeitslosenhilfehatte es zuvor zeitlich begrenzt gut 50 Prozent des letzten Nettolohns gegeben, die konnte aber bei Bedarf immer wieder verlängert werden.

Was das Bürgergeld geändert hat – und was nicht

Leistungsberechtigte haben seit der Hartz-Reform – wie andere Bedürftige – bloß Anspruch auf eine Pauschale, die nicht mehr vom letzten Einkommen abhängt. Zudem müssen Leistungsbezieher bis heute Sanktionen fürchten: eine Kürzung der Hilfen, wenn sie sich Vermittlungsgesprächen verweigern oder sich nicht in der Lage sehen, eine Stelle anzutreten, die das Jobcenter für „zumutbar“ hält. Hinzu kam, dass das Vermögen auf das Arbeitslosengeld II angerechnet wurde. Anfangs blieben einem Fünfzigjährigen nur 10.000 Euro an Ersparnissen unangetastet, das sogenannte Schonvermögen.

Die alte Grundsicherung war bereits vor der Pandemie in eine Sackgasse geraten. In den Jahren des Jobbooms waren die Medien voll von Berichten über das „Bürokratiemonster“, zu dem sich das Hartz-IV-System entwickelt hatte. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ Ende 2017 schrieb, waren rund die Hälfte der Mitarbeiter in den Jobcentern damit beschäftigt, die Leistungsansprüche der Hartz-IV-Empfänger auszurechnen. Das Prinzip des Förderns und Forderns war also bereits erheblich ausgehöhlt. Sozialverbände kritisierten zudem die Praxis der Sanktionen. Sie würde die Lage von besonders prekären Menschen nur noch verschlimmern und sei wenig hilfreich, Langzeitarbeitslose im Arbeitsmarkt zu integrieren, klagten sie.

Als die Pandemie 2020 ausbrach, hatte die SPD die Reform von Hartz IV und die Einführung des Bürgergelds bereits ersonnen. Doch schon vor dessen Einführung wurden in den Corona-Jahren viele Sanktionen ausgesetzt. Bereits im November 2019 hatte das Bundesverfassungsgericht die Sanktionspraxis eingeschränkt. Seitdem dürfen die Jobcenter die monatlichen Leistungen nur noch um bis zu 30 Prozent kürzen. Zuvor war auch eine Kürzung um 60 Prozent und mehr üblich. Zudem wurde in der Pandemie die Vermögensprüfung ausgesetzt und die Kosten der Unterkunft wurden in voller Höhe übernommen, selbst wenn sie über dem anerkannten Bedarf lagen.

Einige dieser Erleichterungen wurden mit der Bürgergeldreform übernommen. Da CDU/CSU und die FDP fürchteten, dass das Bürgergeld zu einem „bedingungslosen Grundeinkommen“ werden könnte, konnte sich die SPD nicht damit durchsetzen, komplett auf die Sanktionen zu verzichten. Zum gefundenen Kompromiss gehört auch die sogenannte Karenzzeit von einem Jahr.

In dieser Zeit werden die Kosten für die Unterkunft in tatsächlicher Höhe und die Heizkosten in angemessener Höhe übernommen. Zudem gilt ein höheres Schonvermögen: 40.000 Euro und 15.000 Euro für jede weitere Person in der Bedarfsgemeinschaft. Nach den ersten zwölf Monaten sinkt das Schonvermögen pro Person auf maximal 15.000 Euro. Wer eine Weiterbildung macht, bekommt seit Juli 2023 eine Unterstützung von 150 Euro im Monat. Auch wurden die Freibeträge für den Hinzuverdienst etwa in Minijobs erhöht.

Für die umstrittenen Sanktionen gilt ein dreistufiges System: Bei der ersten Pflichtverletzung mindert sich das Bürgergeld für einen Monat um 10 Prozent, bei der zweiten Pflichtverletzung für zwei Monate um 20 Prozent und bei der dritten für drei Monate um 30 Prozent. Seit März 2024 können Jobcenter das Bürgergeld für maximal zwei Monate sogar komplett streichen, wenn Betroffene eine zumutbare Arbeit beharrlich ablehnen.

Wie das Bürgergeld berechnet wird und was es kostet

Wenn Politiker die hohen Kosten für das Bürgergeld beklagen, hängt dies oft damit zusammen, dass sie nur auf die nominalen Beträge in Euro schauen. Dabei berücksichtigen sie jedoch nicht, dass die Wirtschaftsleistung und damit alle Einkommen und Preise der Volkswirtschaft ebenfalls gewachsen sind.

Dies zeigt sich in den Zahlungsansprüchen – also den pauschalen Regelsätzen zuzüglich der Kosten für Unterkunft, Heizung und andere Mehrbedarfe, also zum Beispiel Extraleistungen für Schwangere oder Alleinerziehende. Diese Ansprüche lagen 2023 bei 42,6 Milliarden Euro, was tatsächlich ein Anstieg von 16 Prozent gegenüber den 36,6 Milliarden im Jahr zuvor war. Dies geht vor allem auf den Anstieg der Regelsätze um 12 Prozent zum Ausgleich der Inflation und den Zustrom der ukrainischen Flüchtlinge zurück.

Ein Vergleich mit dem Einkommen der gesamten Volkswirtschaft relativiert: 2010, kurz nach der Finanzkrise, machten die Zahlungsansprüche noch 1,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Die Summe sank bis 2022 auf 0,9 Prozent, und im folgenden Jahr 2023 stieg sie moderat wieder auf 1 Prozent des BIP. Kamen 2010 noch 19 Prozent der Zahlungsansprüche von Ausländern, waren es nach dem Flüchtlingsstrom aus Syrien und der Ukraine zuletzt 47 Prozent.

Tatsache ist, dass mit der neuen Berechnungsweise der Grundsicherung die Regelsätze seit 2024 stärker als die Preise gestiegen sind. Seit 2020 stieg der Regelbedarf um 30 Prozent für einen Alleinstehenden auf 563 Euro pro Monat. Der sogenannte regelbedarfsrelevante Preisindex des Statistischen Bundesamtes misst die durchschnittlichen Preissteigerungen für den typischen Konsum eines Haushalts in der Grundsicherung. Er stieg seit 2020 nur um 20 Prozent.

Deswegen greift nun der Ausgleichsmechanismus, der für 2025 eine Nullrunde vorsieht, die es auch 2026 geben könnte. Dennoch fordern die CDU/CSU in ihrem Wahlprogramm, dass die Berechnungsweise geändert werden soll. Die Unionsparteien können darauf verweisen, dass das durchschnittliche Lohnniveau nach Abzug von Steuern und Inflation zuletzt langsamer gestiegen ist als der Regelbedarf. Allerdings sind dadurch keinesfalls die Anreize gewachsen, Bürgergeld zu beantragen. In den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit lassen sich keine Hinweise finden, dass erwerbsfähige Menschen verstärkt in den Regelbezug des Bürgergeldes gewechselt seien.

Relevanter ist der Vergleich mit dem Mindestlohn: Der Lohnabstand zum Bürgergeld ist in den vergangenen Jahren größer geworden, wenn dabei die Inflation berücksichtigt wird. So rechnet auch der Deutsche Gewerkschaftsbund vor, dass sich Arbeit auch 2025 immer mehr lohnt als jede Variante der Bürgergeldauszahlung. Externer Link: Zu diesem Ergebnis waren bereits die Ökonomen des eher konservativen Münchner Ifo-Instituts im Frühjahr 2024 gekommen.

Gleichwohl könnte eine Reform den Unmut bei Arbeitnehmern in regulären Jobs zerstreuen: Ökonomen des wirtschaftsnahen Instituts der Deutschen Wirtschaft haben den Anpassungsmechanismus des Bürgergeldes analysiert. Sie kommen zu dem Schluss, dass in Zeiten steigender Inflation der Regelbedarf des Bürgergeldes systematisch zu langsam an die Inflation angeglichen wird. Bei sinkender Inflation, wie 2023 und 2024, steigt er dagegen zu stark.

Wie die Parteien das Bürgergeld reformieren wollen

Im Kern wollen CDU/CSU den Vermittlungsvorrang wieder einführen, also die schnellstmögliche Vermittlung in eine Arbeitsstelle. Auch soll die Bezeichnung „Bürgergeld“ wieder verschwinden. Wenn jemand grundsätzlich nicht bereit ist, Arbeit anzunehmen, soll die Grundsicherung komplett gestrichen werden. Dies ist auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 zur Sanktionspraxis möglich. Das Bürgergeld kann aber nur gestrichen werden, wenn dies verhältnismäßig und die betroffene Person in der Lage ist, ihre Mitwirkungspflichten nachträglich so zu erfüllen, damit sie die Hilfen zügig wieder bekommen kann.

Zugleich wollen die Unionsparteien, ebenso wie FDP und Grüne, weniger Hilfsleistungen streichen, wenn Leistungsberechtigte neben dem Bürgergeld noch Einkommen aus Arbeit erzielen. Bei der Reform dieser Transferentzugsraten muss jedoch beachtet werden, dass sie zur Ausweitung des Niedriglohnsektors führen kann. So geht die Bundesregierung auf Basis von Studien davon aus, dass bei solch einer Reform die Zahl der Leistungsbezieher deutlich steigt, ohne dass die Menschen tatsächlich mehr arbeiten würden.

Die CDU will auch die Karenzzeit für die Vermögensprüfung abschaffen und das Schonvermögen von der Zahl der Arbeitsjahre abhängig machen. Außerdem soll der Spracherwerb berufsbegleitend möglich und somit kein Hinderungsgrund mehr sein, eine Arbeit zu verweigern. Dies war oft bei der Integration ukrainischer Flüchtlinge in den deutschen Arbeitsmarkt ein Hindernis.

Ob die Streichung der Gelder bei Arbeitsverweigerung und härtere Sanktionen tatsächlich große finanzielle Entlastung bringen, ist jedoch umstritten. Die Bundesagentur hegt überhaupt nur bei einem Bruchteil von 200.000 Leistungsbeziehern den Verdacht, dass sie eine Arbeit nicht annehmen, obwohl sie könnten.

Die anderen Reformvorschläge reichen europäischen Mindeststandards in den nationalen Grundsicherungssystemen, die die SPD anstrebt, bis hin zu Steuergutschriften für niedrige Einkommen, um Arbeitsanreize im Bürgergeldsystem zu erhöhen, wie es die Grünen vorschlagen. Die FDP will die Grundsicherung und das Wohngeld zusammenlegen, wobei für die Kosten der Unterkunft eine Pauschale vorgesehen ist. Die AfD möchte die Grundsicherung auf Staatsbürger und EU-Bürger beschränken. Die Linke will den Regelsatz im Bürgergeld auf 813 Euro erhöhen, es soll zu einer sanktionsfreien Mindestsicherung umgebaut werden. Im Gegensatz dazu spricht sich das BSW weiterhin für Sanktionen aus und fordert, dass der Zoll verstärkt den Missbrauch von Bürgergeldbezug in Verbindung mit Schwarzarbeit unterbinden soll.

Die SPD setzt in ihrem Wahlprogramm wie die Grünen auf eine Ausweitung der Weiterbildung. Eine wissenschaftliche Analyse der Bürgergeld-Reform durch die Bundesagentur ist erst für Ende 2026 geplant. Doch kann die Regierung über eine stärkere Integration der Leistungsberechtigten am Arbeitsmarkt berichten. So fanden vor der Pandemie in Zeiten des Jobbooms von 2013 bis 2018 rund 1,1 Millionen Leistungsbezieher pro Jahr eine reguläre sozialversicherungspflichtige Stelle, eine Berufsausbildung oder wurden selbstständig.

Bis 2023 fiel die Zahl auf 776.611. Zuletzt lag die Zahl der integrierten ehemaligen Leistungsbezieher von Januar bis August 2024 bereits 8 Prozent über dem Stand des gleichen Zeitraums im Vorjahr. Dies ist beachtlich angesichts der anhaltenden Stagnation und des erlahmenden Arbeitsmarkts.

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André Kühnlenz ist Redakteur bei der schweizer Wirtschaftszeitung "Finanz und Wirtschaft". Zuvor Stationen bei "Financial Times Deutschland" und dem "Wirtschaftsblatt". 2015 wurde er mit dem Georg von Holtzbrinck-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet.